Zurück zu den Wurzeln!

Der von Benedikt Wolf herausgegebenen Band „SexLit“ zeigt, wie die Queer Studies auf dem Feld der Literaturanalyse noch heute erkenntnisstiftend wirken können

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Zeiten, in denen große Teile der Queer Studies sich zu quasi-scholastischen Tänzen auf identitätspolitischen Nadelspitzen zusammenfinden und sich dabei immer schwindelerregender um sich selbst drehen, ist es kaum mehr vorstellbar, dass sie vor drei, vier Jahrzehnten noch zu den virulentesten Forschungsansätzen in der Literaturwissenschaft zählten. In dem von ihm herausgegebenen Sammelband SexLit ruft Benedikt Wolf die Anfänge des einstmals so erkenntnisstiftenden Forschungsansatzes in Erinnerung und beklagt, dass er heute zu einem „undurchdringlichen Herrschaftszusammenhang[…] gender- und queertheoretisch orientierter Ideologieproduktion an einigen deutschsprachigen Universitäten“ herabgesunken ist, „der eine kritische linke Geschlechter- und Sexualitätsforschung nicht ermöglicht, sondern behindert“. Mit dem vorliegenden Band soll, anhand „kritischer Lektüren zu Sexualität und Literatur“, aufgezeigt werden, „dass die theoretischen Perspektiven, die sich aus einer Kritik an der Queer Theory ergeben, […] brauchbarer sind als die ins Unerträgliche verlängerten queertheoretischen Erkenntnisse, die vor der Jahrtausendwende zum Teil Neuigkeitswert hatten“, inzwischen „aber längst zu schalen Glaubenssätzen verkommen sind“.

Wolf selbst hat mit einem kurzen Vorwort, einer ausführlichen Einleitung und einer Analyse der „Poetik der sinnlichen Zeichen“ der Kleine[n] Gedichte des griechischen Lyrikers Dino Christianopoulos drei meinungsstarke bis polemische, aber durchaus überzeugende Beiträge beigesteuert. In den ersten beiden setzt er sich nicht zuletzt kritisch mit der gegenwärtigen Verfasstheit der Queer Studies auseinander. Das „Problem“ der „queeren Politisierung der Sexualität“ liegt ihm zufolge in der inhaltlichen und strukturellen „Verkürzung im politischen Denken derer, die an ihr arbeiten“. Diese Verkürzung sei der „queere[n] Rezeption des Poststrukturalismus“ anzulasten, die hierzulande das „ideologische Denken der US-amerikanischen Linken“ übernommen habe. Als Folge sei die „Kritik an Patriarchat, Zweigeschlechtlichkeit und Zwangsheterosexualität“ zunehmend zurückgedrängt worden und an die Stelle der „ursprünglich als emanzipativ entworfene[n] Theorie“ die „Suche nach neuen ‚Normativitäten‘“ getreten.

Die rund ein Dutzend Beiträge des Bandes befassen sich mit literarischen Werken, überwiegend des deutschen, aber auch des französischen und griechischen Sprachraums, die zwischen 1950 und 2000 verfasst und veröffentlicht wurden. Neun Literunteranalysen sind in die drei Rubriken „Den Umständen entsprechend: Sexualität und Herrschaft“, „Verlust und Vorschein: Sexualität und Utopie“ sowie „Der Text der Lust“ gegliedert.  Darunter Patsy l’Amour laLoves Interpretation des Songs Bück Dich der deutschen Band Rammstein. Beschlossen wird der Band von zwei weiteren Texten, die selbst literarisch sind.

Wenig überraschend findet sich Veronika Krachers Untersuchung von Gisela Elsners Roman Das Berührungsverbot in der ersten der drei genannten Rubriken. Kracher befasst sich nicht nur mit dem Text selbst, sondern geht auch der Frage nach, warum Buch und Autorin nicht nur von der damaligen Malestream-Kritik, sondern „auch von der feministischen Literaturwissenschaft lange Zeit verschmäht“ wurden, obwohl darin mit der „bürgerlichen Kleinfamilie“ eines der „Kernfelder patriarchaler Unterdrückung thematisiert“ wurde. Die Autorin vermutet, der Grund für die zeitgenössische feministische Ablehnung des Buches könne darin gelegen haben, dass es „keinerlei Auswegmöglichkeiten offeriert“ und „kein ‚Empowerment‘ enthält“. Das ist durchaus plausibel. „Dass man bei dem Begriff der ‚Frauenliteratur‘ eher an Romane mit muskulösen Highlandern auf dem Cover als an Jane Austen denkt“, ist „den patriarchalischen Verhältnissen“ allerdings nicht, wie sie zu Beginn ihres Beitrags formuliert, „geschuldet“, sondern vielmehr anzulasten.

Ebenso wie Elsners Berührungsverbot werden auch Verena Stefans Häutungen und Ingeborg Bachmanns Ein Schritt nach Gomorrha unter dem Rubrum „Sexualität und Herrschaft“ behandelt, was nicht ganz so selbstverständlich ist wie im Falle von Elsners Werk, hätte man sie doch auch unter der Überschrift „Sexualität und Utopie“ erwarten können. Warum sie der ersten Rubrik zugeordnet wurden, machen die Beiträge von Svenja Behrens und Kathrin Witter deutlich.

Behrens beobachtet in ihrer Analyse der Häutungen fein, dass die „Parole der Frauenbewegung ‚Das Private ist politisch‘“ in Stefans Büchlein eine „merkwürdige Wendung“ nimmt, „in der weniger das Private zum Gegenstand politischer Debatten wird, sondern nahegelegt wird, es gebe eine private Lösung für gesellschaftliche Probleme“. Die Autorin macht nicht nur verständlich, warum es innerhalb der Frauenbewegung heftige und zum Teil durchaus unsolidarische Kritik auf sich zog, sondern plausibilisiert auch ihre These, dass der Emanzipationsversuch der Protagonistin gescheitert ist.

Dass Häutungen „als paradigmatisch für die Literatur der westdeutschen Frauenbewegung gelten“ könne, ist allerding nicht wirklich zutreffend. Schließlich war diese in den 1970er und 80er Jahren weitaus vielfältiger und reichte von Karin Stucks proletarisch-feministischem Proto-Roman der Neuen Subjektivität Klassenliebe (1973) über Margot Schroeders Entwicklungsroman einer Aktivistin der Neuen Frauenbewegung Der Schlachter empfiehlt immer noch Herz (1977) und Jutta Heinrichs Das Geschlecht der Gedanken (1977) mit seiner ebenso analytisch klugen wie kämpferischen Protagonistin bis hin zu Svende Merians linksalternativ-feministischem Beziehungsroman Der Tod des Märchenprinzen (1980). Wie Behrens zu Recht betont, „ergaben sich in den 1970er Jahren zahlreiche Konfliktlinien zwischen verschiedenen Standpunkten innerhalb der Frauenbewegung“. Und diese schlugen sich auch in den literarischen Werken ihrer Aktivistinnen nieder. So war Häutungen zwar nicht paradigmatisch für die Neue Frauenbewegung. Eines ihrer wichtigsten Bücher war es allerdings zweifellos.

Bachmanns Ein Schritt nach Gomorrha wiederum wird von Kathrin Witter einer ebenso genauen wie instruktiven Lektüre unterzogen. Als „zentrale Kategorie zur Deutung der Erzählung“ macht sie den „dialektische[n] Begriff von Subjektivität“ aus, wie er von Max Horkheimer und insbesondere Theodor W. Adorno in seinem Buch Negative Dialektik entfaltetet wurde. Subjektivität beinhalte dieser dialektischen Begriffsbestimmung gemäß „sowohl das Versprechen von Universalität […] als auch die Notwendigkeit eines Anderen, auf dessen Negation die Konstitution als Subjekt beruht“. Ein Schritt nach Gomorrha „verhilft“ Witter zufolge „dieser Dialektik zum Ausdruck und löst so die klassische geschlechtliche Rollenzuschreibung auf“, indem es „von einem Versuch der Emanzipation aus der Enge der Ehe und den Unwegsamkeiten der Subjektivierung sowie von der Unmöglichkeit partikularer Befreiung“ erzählt.

Eben darum wurde die Analyse der Erzählung unter die Rubrik „Sexualität und Herrschaft“ und nicht unter „Sexualität und Utopie“ subsumiert, in der sich Julia Meta Müller der „utopischen Freisetzung der Produktivkraft Sexualität“ in Irmtraud Morgners nachgelassenem Romanfragment Der Schöne und das Tier zuwendet, um „anhand dieses einzelnen Werkes die universelle Forderung Morgners nach einem vollständig transformierten Menschengeschlecht nachzuzeichnen“. Diese bestehe im „Einzug der Freiheit in ein erstarrtes System von biologischen Geschlechtszuweisungen und den daraus hervorgehenden gesellschaftlichen Rollenbildern“.

Positiv hervorzuheben ist auch Vojin Saša Vukadinovićs kluge und genaue Analyse von Monique Wittigs leicht hermetischem Werk Les Guérillères. Der eigentlichen Untersuchung des Textes hat er einen informativen biographischen Abriss der französischen Feministin vorangestellt und eine ebenso vehemente wie berechtigte Kritik an der deutschen Übersetzung angefügt, in der er der Übersetzerin „begriffliche Sabotage“ vorwirft, sodass „Wittigs wichtigste literarische Arbeit in einen differenzfeministischen Gebrauchsartikel umfunktioniert[…]“ wurde. Vor allem aber verteidigt Vukadinović Wittig gegen die feindliche Übernahme, zunächst durch den Differenzfeminismus und später durch die (Butlersche) Queer Theory, um schließlich selbst  „konzise Einsprüche“ gegen ihr Buch zu erheben. Nebenbei macht er auf eine „Spur“ aufmerksam, die „von Marcuse zu Wittig reicht“. Sie nahm ihren Anfang mit Wittigs französischer Übersetzung von Marcuses Der eindimensionale Mensch.

Etliche der Beiträge des vorliegenden Bandes kritisieren nicht nur implizit oder explizit die vorherrschende Entwicklung der Queer Studies, sondern zeigen, dass sie auf dem Feld der Literaturanalyse auch heute noch erkenntnisstiftend wirken können, so sie sich denn auf ihre emanzipatorischen Anfänge zurückbesinnen.

Titelbild

Benedikt Wolf: SexLit. Neue kritische Lektüren zu Sexualität und Literatur.
Querverlag, Berlin 2019.
367 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783896562821

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch