Die Tücke des Objekts

Hartmut Langes neue Novellen erforschen das Transzendenzbegehren des Menschen in einer transzendental für obdachlos erklärten Welt

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hartmut Langes Novellen sind Prototypen ohne Nachfolger. Seit Anfang der 1980er Jahre schreibt der 1937 in Berlin-Spandau geborene Autor Novellen. Sie haben die Kritik von Anfang an durch einen Stil überzeugt, der an Kleist und Thomas Mann geschult ist. Doch Lange will uns überhaupt nicht durch Neoklassizität einschüchtern. Seine Novellen schöpfen durch eine sehr nachhaltige Poetik der Irritation die Möglichkeiten der Gattung aus, die Storm einmal die „Schwester des Dramas“ genannt hat. Mit Recht gilt Lange deshalb als Gründervater einer nachmodernen Novellistik. Nachgefolgt ist ihm so systematisch und so konsequent keiner unter den zeitgenössischen Autoren.

Langes Thema ist das Transzendenzbegehren des Menschen in einer transzendental für obdachlos erklärten Welt, die Berührung durch das Religiöse ohne religiöse Erfahrung. Seine Figuren navigieren an der Schattengrenze zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt und geraten durch eher unscheinbare als unerhörte Begebenheiten, die man auch Zufall nennen könnte, aus dem Tritt. Sie wissen aber nicht, was mit ihnen passiert. Und auch der Erzähler hält sich wohlweislich zurück. Das einzige, was er macht, ist, den Vorhang vor der unsichtbaren Welt ein wenig zu lüften, so dass wir merken, wie Licht oder ein Luftzug ins Diesseits dringt.

Von diesen kleinen Irritationen im “Universum der Banalitäten“ erzählen auch Hartmut Langes neue Novellen. Ihr leitendes Thema ist das zunehmende, ja das hohe Lebensalter, verbunden mit dem Nachlassen der Geistesgegenwart des alternden Schauspielers in Der Weg zum Meer oder der Orientierungslosigkeit des emeritierten Politikwissenschaftlers Ronnefelder in der gleichnamigen Novelle.

Eine Novelle ragt aus dem Quartett heraus: Der Navigator. Es ist die Geschichte eines Paars, das sich auf der Autofahrt nach Italien von einem Navigator auf einen Weg führen lässt, der nicht weitergeht. Und auch die Beziehung steckt in einer Sackgasse. Das aber wird weder psychologisch noch metaphorisch ausgeschlachtet. Die Tücke des Objekts ist ohne Heimtücke; vielmehr ist der elektronische Cicerone so etwas wie ein Schicksalsfahrplan, den man nicht erklären, sondern nur erzählen kann, und das mit durchgehender Sachlichkeit. Immer wieder, fast zwangsläufig, kommen die beiden, Wolfgang und Susanne, auf das Gerät zurück, sie demontieren und remontieren es, sie entsorgen es und finden es wieder. Am Ende ist das Paar auseinander und das Gerät wieder angeschlossen. Der Erzähler sieht Wolfgang davonfahren, ins Ungewisse, doch diesmal mit der Option, dass er „Susanne, egal, wo sie sich augenblicklich befand, wieder in seine Arme schloss.“ Wenn das kein tröstlicher Schluss ist.

Am Ende des Bandes steht eine autobiographische Erzählung Hartmut Langes. Es geht um die tragischen Familienereignisse am Kriegsende, von denen der Autor schon in einem Gespräch mit der Zeitschrift Sinn und Form (2008) berichtet hatte. Der Vater wurde auf der Flucht vor der Roten Armee erschossen, der Bruder wurde kurz nach dem Krieg in Berlin auf dem Rückweg von einem Tanzabend ermordet, die Mutter war unberechenbar und unglücklich verliebt. Vielleicht liegt hier der Keim der transzendentalen Obdachlosigkeit von Langes Novellen. Er bekam nach eigenen Worten eine „Ahnung davon, wie voraussetzungslos unser Leben wird, wenn wir keine schützende Hand über uns geltend machen können.“

Titelbild

Hartmut Lange: Der Lichthof.
Diogenes Verlag, Zürich 2020.
96 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070958

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