Alltagsgeschichte(n) aus dem postnationalsozialistischen Ausnahmezustand

Harald Jähner erzählt von den Umbruch-Jahren nach 1945

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Mangel besteht an Büchern, Filmen und Bildern, an Geschichten und Analysen über das Leben unter dem Nationalsozialismus. Täglich rückt diese Zeit des Schreckens ferner, doch begegnet man Dokumenten und Fiktionen über die schwärzesten Jahre der deutschen Geschichte auf Schritt und Tritt: in Bildungsanstalten, Medien und Museen. Weniger präsent und stärker bedroht durch Verblassen der Geschichtsbilder und Verstummen der Erzählungen sind jene Jahre, die auf das Kriegsende in Deutschland folgten. Was passierte nach der Niederlage der Wehrmacht und der alliierten Besetzung des von Zerstörungen zerfurchten Landes? Wie ging das Leben nach dem Zivilisationsbruch, den der Faschismus zweifellos darstellte, weiter? Welche Personengruppen waren überhaupt im geschrumpften Deutschland unterwegs? Wo gab es Neuanfänge und welche Kontinuitäten prägten den Alltag der zu großen Teilen delokalisierten Bevölkerung in kaputten Städten und Betrieben?

Die Übergangszeit zwischen 1945 und 1949, dem Jahr der west- wie ostdeutschen Staatsgründungen, liegt eher im Schatten der (öffentlichen) Geschichte und ihrer Gedenkriten. Zu den 1950er Jahren, etwa zum Wirtschaftswunder nach der Währungsreform zirkulieren hingegen wie zu den folgenden Jahrzehnten prägnantere Bilder und Mythen. So ist nur zu begrüßen und mit Erkenntnisgewinn zu lesen, was Harald Jähner, der erfahrene Journalist und ehemalige Leiter des Feuilletons der ‚Berliner Zeitung‘, nun über jene so dunklen wie abenteuerlichen Jahre des Umbruchs nach 1945 zusammengetragen hat. Keine Politikgeschichte der Daten und Entscheidungen begegnet einem hier, vielmehr – gewiss zur Freude eines breiten Lesepublikums – eine Kultur- und Alltagsgeschichte, die den sich wandelnden Mentalitäten und psychischen Herausforderungen jener Jahre nachspürt. In zehn thematischen Kapiteln werden Überlebensweisen zwischen Trümmern, Hunger und Schwarzmarkt ebenso nachgezeichnet wie die Liebesverhältnisse im Zeichen hoher Frauenüberzahl, gefallener, traumatisierter und verkrüppelter Männer.

Die ‚großen Männer‘, welche die Verwaltungen unter alliierter Leitung, die Städte und Hochschulen, die Theater und Orchester umstrukturierten und wieder zum Funktionieren brachten, werden hier eher selten erwähnt, sieht man einmal ab von Wirtschafts- und Kulturgrößen wie dem VW-Generaldirektor Nordhoff, der Sexualaufklärungspionierin Beate Uhse oder den Kulturoffizieren Hans Habe und Alfred Döblin. Stattdessen haben bei Jähner die kleinen Leute ihre Auftritte in anschaulich geschilderten Szenen, insbesondere die Frauen, nicht selten auch Kinder und Jugendliche, die beim ‚Organisieren‘ von Heiz- und Lebensmitteln handfest mit anpacken mussten. Und denen durch die Coolness amerikanischer Besatzungssoldaten ganz neue, entspannte Körperhaltungen und Musikstile nahegebracht wurden. Zur einprägsamen Veranschaulichung jener ferngerückten Epoche tragen die zahlreichen Fotografien bei. Sie legen Zeugnis ab von den Ruinen- und Barackenstädten, von Kleidungstrends aber auch von der ausgelassenen Stimmung bei Tanzveranstaltungen der Davongekommenen.

Eine Geschichte Deutschlands und der Deutschen von 1945–1955 verspricht der Untertitel. Tatsächlich stehen im Zentrum der Erzählungen freilich die in vielem chaotischen doch mehr noch dynamischen ersten Jahre nach Kriegsende. Der Fokus liegt dabei auf Westdeutschland. Die Sowjetische Besatzungszone und die frühe DDR kommen nur gelegentlich vor; so etwa im Hinblick auf die sowjetische Faschismustheorie, deren Einschätzung des einfachen Volkes die Deutschen tendenziell als Opfer Hitlers sahen, während die amerikanischen Vorschriften (weniger hingegen deren lockere Umsetzung durch viele GIs) die deutschen Volksgenossen als weitgehend hitlertreue, fanatisierte Nationalisten einschätzten. Wobei die allermeisten Deutschen sich bald nach der Kapitulation als überraschend zahm, nämlich unterwürfig und gefügig erwiesen. Notiert wird auch die unterschiedliche Häufigkeit von Rache- und Vergewaltigungsereignissen durch west- respektive ost-alliierte Truppen. Womöglich prägen diese weit zurückliegenden Erfahrungen noch heute – transgenerationell – Ängste oder Offenheit gegenüber Fremden in Ost und West. Der Aufbau eines sozialistischen Staates im Osten mitsamt seinen zahllosen Problemen wird im Gegensatz zum westlichen Wirtschaftswunder von Jähner kaum analysiert.

Das Buch versteht es, seine Leser immer wieder in Staunen über die damaligen Verhältnisse zu versetzen – und ins Grübeln über Parallelen zu heutigen Entwicklungen, etwa im Blick auf Situationen des interkulturellen Kontakts und der Migration. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung befand sich damals, aus den verschiedensten Gründen, nicht mehr am angestammten Wohnort: Displaced Persons aus den befreiten Konzentrationslagern, deutsche Kriegsgefangene (in den USA oder Russland oder auch auf deutschen Rheinwiesen in riesigen Lagern unter freiem Himmel campierend), aus den zerbombten Städten aufs Land Evakuierte, zudem als größte Gruppe die Millionen von Vertriebenen oder vor der vorrückenden roten Armee Geflohenen aus den Ostprovinzen. ‚Das große Wandern‘ ist Jähners mit 60 Seiten umfangreichstes Kapitel überschrieben. Es lässt die heutigen in Deutschland eintreffenden Migrationsströme als vergleichsweise schmale Rinnsale in ein reiches, nicht zerstörtes Land erscheinen. Jähner berichtet von den alles andere als harmonischen Begegnungen zwischen alteingesessenen Bewohnern gerade der ländlichen Regionen und ihren als ‚Polacken‘ beschimpften Volksgenossen, die aus den Ostgebieten notgedrungen zugezogen waren und oft nur durch staatliche Zwangsmaßnahmen Wohnraum zugeteilt bekamen. Eine bedenkenswerte Pointe dieser keineswegs reibungslos verlaufenden innerdeutschen Kulturkontakte, also der Fremdheits- und Pluralitätserfahrungen von Deutschen mit Deutschen, etwa zwischen schlesischen Katholiken und schwäbischen Pietisten, liegt in Jähners Hinweis, dass gerade diese Disruption traditioneller westdeutscher Milieus, ihr Clash mit den oft gut ausgebildeten Ostvertriebenen eine kaum zu überschätzende Wirkursache war für das Wirtschaftswunder wie für die sich anbahnenden kulturellen und sozialen Modernisierungsprozesse der folgenden Jahre und Jahrzehnte. Die als Kriegsfolge aus Not und Zwang geborene Neuaufstellung und Durchmischung von Dörfern, Städten und Betrieben erwies sich langfristig als eine ökonomisch wie kulturell fruchtbare Rekombination Deutschlands und der Deutschen.

Jähner schildert fesselnd, gleichsam mit Anekdoten zum Mitgruseln, damalige Wirtschaftsweisen, die nach Kriegszerstörungen und Heimatverlusten den Mangel doppelt verwalteten: neben der Rationierungswirtschaft (Lebensmittelmarken) boomten Schwarzmarkt-Geschäfte, welche wohl annähernd die Hälfte des Wirtschaftsgeschehens der Nachkriegsjahre ausmachten. Die anschaulichen ökonomischen Vignetten gipfeln in einem Lob der Lastenausgleichsgesetze. Diese ermöglichten unter schwierigsten Umständen jene damals umstrittene, im Rückblick aber doch bewundernswürdige staatlich organisierte Balance zwischen denen, die alles Verloren hatten und jenen, denen noch etwas zu teilen verblieben war. Bis in die 1970er Jahre wickelten bis zu 25000 Beamte der Lastenausgleichsämter dieserart buchhalterisch Ein- und Auszahlungen ab, die ein Musterbeispiel für eine moderierend umverteilende Sozialpolitik darstellen. Auch das gibt einem heute zu denken in Zeiten hitziger Debatten über die sozialen Folgen zunehmender Vermögensungleichheiten.

Diesen prosaischen Maßnahmen der Sozial- und Wirtschaftspolitik (gerade auch jenseits der oft erzählten Heldenstücke von Währungsreform und Wirtschaftswunder) stehen die Kapitel über ‚Tanzwut‘ und über ‚Liebe 47‘ gegenüber, die verdeutlichen, wie Vergnügungsbedürfnisse aber auch schwierig gewordene Paarbildungen in der tief zerfurchten Bevölkerung neue, mal ekstatische mal eher pragmatische Formen des Sozialverhaltens hervorriefen. Den Schluss des Buches bilden zwei kürzere Kapitel zu Aspekten des Verdrängens der nationalsozialistischen Verstrickungen und Schuldverhältnisse durch Verschweigen, Abblocken, lustloses Darum-herum-Reden. Die Aufarbeitung und Gedenkpolitik, die manche internationale Beobachter heute für einen deutschen Exportschlager oder zumindest für ein weltweites benchmark der Vergangenheitsbewältigung halten, begann erst langsam in den 1960er Jahren und nahm, nochmals eine Generation später, erst um die Jahrtausendwende markant an Schub und Umfang zu.

Harald Jähners erzählerisches und historiographisches Talent ist zu rühmen; auch wenn es sich hier im Hinblick auf sein Material kaum um neue Geschichtsfunde handelt, sondern eher um deren raffiniert ordnende, umsichtige Darbietung. Sein Werk lebt nicht zuletzt von den geschickt ausgewählten, souverän arrangierten Zitaten sowie eigenen kraftvollen Begriffssetzungen. Zu denen der etwas reißerische und irreführende Titel Wolfszeit eher nicht gezählt werden sollte – denn die Zeit des Nachkriegs war doch eher unblutig, auch wenn sich ‚Familienrudel‘ vielfach räuberisch improvisierend jenseits verbriefter Eigentumsverhältnisse zu behelfen wussten. Das berühmte ‚Fringsen‘, also der Kohlen- oder Lebensmittelklau, der vom Kölner Erzbischof Frings tatsächlich abgesegnet wurde, belegt Sozialcodes, die zwar auf einen Ausnahmezustand aber auf keine wölfische (bürgerkriegsartige) Epoche hindeuten.

Doch bleibt beeindruckend, wie Jähners in gelassen plauderndem Erzählmodus vorträgt, was er treffsicher aus der Überfülle von Fakten und Ereignissen von etwa zehn Nachkriegsjahren auswählte und durch Setzung von zehn Stichworten clever strukturierte. Der Leipziger Buchpreis für Wolfszeit traf mithin keineswegs den Falschen. Dem Leser bietet dieses Buch ein perspektivenreiches Panorama zu Alltagswirklichkeiten jener Jahre. Wobei Jähner die in vielem anders gelagerte Situation in der SBZ und der DDR insgesamt weniger ausführlich profiliert.

Seine stets nachvollziehbaren Bewertungen und Querverweise von Schuld und Leid durch den Faschismus und seine Folgen zeugen von einer keineswegs selbstverständlichen Empathie für die damals Handelnden. Im Gegensatz zu vielen älteren wie neueren Mediendebatten über Krieg und Nachkrieg verfügt Jähners Darstellung über intakte historische wie moralische Kategorien, zudem über den nötigen Abstand zum Überblick und über Sinn für Relationen. Als taktvolle Geschichtschreibung könnte man dieses eher seltene Vermögen bezeichnen. Durch den stetigen, dezenten, nicht-penetranten Rückblick auf die Jahre unter dem Hakenkreuz entgeht er den naheliegenden Fallstricken allzu rührseliger Opfer- oder Heldennarrative der Trümmerjahre.

Trotz seines etwas reißerischen Titels bietet Jähners Wolfszeit eine bereichernde Lektüre für Leser mit Interesse an der deutschen Geschichte. Das Buch erhellt eine – zumindest für das jüngere Lesepublikum – derzeit eher weniger besprochene Übergangszeit. Es verdeutlicht noch und gerade am Nachkriegspanorama, welche Abgründe Krieg und Faschismus in Deutschland aufrissen. So gelingt ihm erzählend, ohne fuchtelnden Zeigefinger eine Mahnung im Hinblick auch auf heutige kriegerische oder nationalistische Versuchungen.

Titelbild

Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019.
478 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100137

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch