Zur Relevanz des Mittelalters und seiner Erforschung
Ein neuer Tagungsband erprobt interdisziplinäre Zugänge in der Mediävistik
Von Jan Alexander van Nahl
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Mittelalter hört nicht auf, wie Valentin Groebner vor über einem Jahrzehnt plakativ-wirkungsvoll formulierte. Und ebenso wenig, so darf man wohl sagen, hören Mittelalterspezialisten auf, sich über die Geringschätzung, gar den Niedergang ihres Faches zu beklagen. Abgesehen vom finanziellen Aspekt – auch diese Spezialisten wollen mit ihrer Profession Geld verdienen – lassen sich die (Hinter-)Gründe solcher Krisenstimmung kaum auf wenige Nenner reduzieren. Das gilt freilich nicht allein für Mittelalterstudien: Zur so genannten Verbesserung der Geistes- und Kulturwissenschaften überhaupt wurde vor einigen Jahren von deren Vertretern ein rigoroses Ende der Bescheidenheit gefordert. Damit ist Öffentlichkeitsarbeit im Sinne einer Bewusstwerdung historisch gewachsener Kompetenzen und Verpflichtungen in der Gesellschaft gemeint. In der Mediävistik wurde dieser Forderung in den letzten Jahren, soweit ich sehe, wesentlich mit einer Hinwendung zu populären Werken der Unterhaltungsbranche nachgekommen; erst in jüngster Zeit hat es gewichtige Stimmen (beispielsweise von Richard Utz) gegen das Aufspringen bemerkenswert vieler Mediävisten etwa auf den Game-of-Thrones-Zug gegeben, das abgesehen von möglicherweise kurzfristig gestiegenen Studierendenzahlen meist zu wenig mehr als oberflächlicher Motivanalyse geführt hat.
Gleichwohl ist bei einer breiten Öffentlichkeit eben ersichtlich weiterhin ein Interesse an diesem Mittelalter, wie es nun auch medial aufbereitet sein mag, vorhanden, daran gibt es nichts zu rütteln. Wie diesem Bedürfnis nachzukommen, wo anzusetzen ist, darüber herrscht unter Mediävisten allerdings wenig Einigkeit. Der vorliegende Sammelband, der zu größeren Teilen auf zwei internationale Tagungen zurückgeht, nähert sich einer Antwort von Seiten der traditionellen Mittelalterstudien, womit gemeint ist, dass die Herausgeber sich explizit von der Erforschung eines (zugegeben schwer begrenzbaren) Mediävalismus fernhalten wollen.
Dreizehn englischsprachige Aufsätze sind neben der Einleitung versammelt und streben an, die Relevanz des Mittelalterlichen („the medieval“) für das Hier und Jetzt neu zu befördern. Das Schlüsselwort ist die altbekannte Interdisziplinarität, die im vorliegenden Band aber doch erfreulich weit über Lippenbekenntnisse hinausgeht, zumindest was die Verbindung von mittelalterlicher Geschichte mit einer Auswahl an naturwissenschaftlichen Zugängen betrifft. Es finden sich unter anderem Beiträge zu Wetter und Naturkatastrophen, Genforschung, Pandemien, Minderheitentoleranz, Tourismus und Traumabewältigung. Keines dieser Themen ist per se neu, auch nicht im Bereich der Mittelalterstudien, und so ließe sich an diversen Stellen einhaken, ergänzen, widersprechen. Verstärkt wird in einigen dieser Aufsätze nun aber die konkrete Zusammenarbeit von Spezialisten aus verschiedenen Disziplinen erprobt, ohne dass Mediävisten zum bloßen Lieferanten historischer Daten für den Naturwissenschaftler würden. Unabhängig von individuellen Ergebnissen scheint diese Kooperation zu vertieftem Verständnis der jeweiligen Methoden und schließlich zu gegenseitigem Respekt geführt zu haben, dies vor allem unter der Einsicht, dass Naturwissenschaftler und Mittelalterhistoriker Interpreten sind und bleiben.
Diese Einsicht herauszustellen, scheint mir der größte Verdienst des Buches zu sein, das die Herausgeber einleitend als regelrechtes Manifest bezeichnen. Wie neu solche Zusammenarbeit trotz jahrzehntelanger Rede von Interdisziplinarität bisher ist, zeigt sich in manch kritischer Randbemerkung, etwa mit Blick auf die Deutsche Forschungsgemeinschaft, deren derzeitige Fördermöglichkeiten solche Grenzüberschreitungen offensichtlich gar nicht erfassen, womit erneut der finanzielle Aspekt an Bedeutung gewinnt. Überhaupt liegt, unabhängig von den konkret behandelten Themen, in solchen weiterführenden Bemerkungen, Fragen und Kritikpunkten ein wesentlicher Reiz des Bandes – auch der Reiz, als Leser nicht einfach nur aufzunehmen, sondern selbst kritisch teilzuhaben.
Kritisch anmerken ließe sich zum Beispiel, dass der Bezug zum Mittelalter bisweilen etwas gesucht wirkt, das Mittelalter manches Mal nur in Klammern behandelt wird, es dann also eher um Geschichte generell geht. Und warum nicht? Schließlich, und auch so lese ich dieses Buch, haben Mittelalterstudien ja nicht aus sich selbst heraus eine Daseinsberechtigung, sondern erst in der fruchtbaren Umsetzung ihrer besonderen Kompetenzen in heutiger Zeit. Schwerer wiegt der Einwand, dass es trotz angestrebter Breite leider kein einziger Beitrag aus der literaturwissenschaftlichen Mediävistik (Anglistik, Germanistik, Romanistik, Skandinavistik) in den Band geschafft hat, obwohl die Herausgeber einleitend wie selbstverständlich unter anderem auf John R. R. Tolkiens Herr der Ringe, George R. R. Martins erwähntes Game of Thrones oder Marvels Thor-Filme verweisen – prominente Beispiele für die international einflussreiche Adaption mittelalterlicher Erzählungen aus verschiedenen Sprach- und Kulturräumen. Aber auch bei anderen Themen, etwa zum Trauma, hätte sich mühelos an ein Spektrum mittelalterlicher Literatur und deren aktuelle Erforschung anknüpfen lassen. Gleiches gilt schließlich für das eingangs genannte Phänomen Mediävalismus: Die gesuchte Auseinandersetzung mit jüngsten politischen Ereignissen und der ideologischen Rolle, die ein (verzerrtes) Mittelalterbild darin spielt, betritt ja gerade dieses Forschungsfeld und hätte allerlei Anknüpfungsmöglichkeiten an aktuelle Diskussionen geboten. Faktisch liegt der Schwerpunkt des Bandes aber allein auf dem engeren Fachbereich der mittelalterlichen Geschichte.
Als Randbemerkung sei schließlich, auch mit Blick auf die genannte Bescheidenheit, der offensichtlich ursprünglich geplante Untertitel des Buches erwähnt: Im Internet findet sich in Ankündigungen noch die Formulierung How Medievalists Are Revolutionising the Present. Das scheint irgendjemandem dann letztlich doch zu mutig gewesen zu sein, anders kann ich mir den schließlich gewählten unbeholfenen Untertitel How Medieval Studies Contribute to Improving our Understanding of the Present nicht erklären.
Es bleibt dem Band, der übrigens als open access zugänglich ist, in jedem Fall zu wünschen, dass er kritische Aufnahme finden wird – und ein (dann gerne umfangreicherer) Folgeband nicht nur die Mediävistik in ihrer ganzen Breite erfassen, sondern auch den Mut haben wird, das Hier und Jetzt neuerlich revolutionieren zu wollen.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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