Max Webers belehrende und gelehrte Briefe
Eine weitere Auswahl seiner Briefe ist erschienen
Von Dirk Kaesler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Lektüre des ersten Satzes war für mich ein Schock. Er lautet: „Im Frühjahr 1920 hatte Max Weber genug von der Politik und dem alltäglichen Bohren dicker Bretter.“
Dieser Satz aus der Feder des Mitherausgebers der Max Weber-Gesamtausgabe (MWG) Gangolf Hübinger ist doppelter Unsinn: Zum einen bezieht sich diese Formulierung von den „dicken Brettern“ ganz offensichtlich auf jene zu Tode gerittene Formulierung, die man als Weber-Forscher schon seit Jahrzehnten nicht mehr hören kann, weil sie ständig falsch zitiert wird.
In seinem Münchner Vortrag über „Politik als Beruf“ vom 28. Januar 1919 sprach Max Weber davon, was Politik bedeutet: „Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“ (MWG I/17, S. 251/252). Jahrelang habe ich, auch mit diversen Leserbriefen, versucht, das Falschzitat von den DICKEN Brettern vor allem im Geschwätz von Politikern und in zahllosem journalistischen Abgeschreibe zu korrigieren. Es ist, so wiederholte ich mal für mal, ein großer Unterschied, ob ich ein Brett aus Balsaholz (Dichte 0,1 bis 0,2 g/cm3) oder ein Brett aus Bongossi (Dichte 1,10 bis 1,20 g/cm3) bohren möchte: Es kommt nicht auf die Dicke des Bretts an, sondern auf dessen Härte. Max Weber wusste um diesen Unterschied, darum sprach er von harten Brettern. Wenn nun selbst ein Weber-Forscher anstatt von harten von dicken Brettern schreibt, dann möchte man doch ein wenig verzweifeln.
Der andere Unsinn dieses ersten Satzes beruht darin, dass er suggeriert, als habe Max Weber je etwas mit „der Politik“, der wirklichen Politik, zu tun gehabt. Im Gegensatz zu seiner Frau Marianne Weber, die sich als Mitbegründerin der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) im Jahr 1918 sehr aktiv am Wahlkampf beteiligt, 1919 ein Mandat im Landtag der Republik Baden errungen und als erste Frau bei dessen erster Sitzung das Wort ergriffen hatte, übernahm Weber sein ganzes Leben kein einziges echtes politisches Mandat oder eine offizielle politische Aufgabe. Zu schreiben, dass er mit seinem Austrittsbrief vom 14. April 1920 an den Vorsitzenden der DDP Carl Petersen „Abschied von der aktiven Politik“ genommen habe, verkennt vollkommen diese Tatsachen. In seinem realitätsfernen Größenwahn ignorierte der politisch hoch ambitionierte Gelehrte die einfachen Spielregeln des politischen Geschäfts: Wer politische Macht erlangen will, muss sich auf das Ringen um Mandate einlassen. Der Herr Privatgelehrte schrieb zwar klug und leidenschaftlich über Politik vom Schreibtisch aus, hielt auch flammende Reden über Politik, aber sich in die (vermeintlichen) Niederungen der Parteipolitik einzulassen, war ganz offensichtlich unter seiner (vermeintlichen) Würde. Trotz enormer Ambitionen errang Max Weber, dieser Sohn eines erfolgreichen Berufspolitikers, kein einziges Mandat, auf keiner Ebene des politischen Geschäfts. Wahrscheinlich erwartete er eine schriftliche Anfrage auf Büttenpapier, ob er geneigt sei, einen für ihn im Reichstag reservierten Sessel anzunehmen!
Man muss den von Selbstüberhebung und Selbstmitleid geprägten Brief an Petersen richtig zu interpretieren wissen: Hier verabschiedet sich keiner von „aktiver“ Politik, hier erhebt sich ein entpflichteter Professor der Nationalökonomie über alle jene Menschen, die praktische Politik ausüben. Und so schreibt er an das Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft Petersen: „Der Politiker soll und muß Kompromisse schließen. Aber ich bin von Beruf: Gelehrter. Daß ich es geblieben bin, hat – dankenswerter Weise – die Partei mit veranlaßt, indem sie seinerzeit mich dem Parlament fern hielt, – zu dem ich mich nicht drängte, in dem zu sitzen heute weder eine Ehre noch eine Freude ist, in das ich aber, so lange die Verfassung beraten wurde, vielleicht gehört hätte. Der Gelehrte darf keine Kompromisse schließen und ‚Unsinn‘ nicht ‚decken‘.“
Dieser Brief findet sich erneut abgedruckt in einer Sammlung, die es an dieser Stelle anzuzeigen gilt. Nach dem ersten Band aus der Serie „Ausgewählte Briefe“, der unter dem Titel Reisebriefe erst kürzlich erschienen ist, legen die beiden Herausgeberinnen Rita Aldenhoff-Hübinger und Edith Hanke erneut eine Sammlung vor, diesmal mit dem Titel Gelehrtenbriefe 1878-1920.
Wer rechnen kann und weiß, dass Max Weber 1864 geboren wurde, wird sich zu Recht wundern, wie ein 14jähriger bereits „Gelehrtenbriefe“ zu schreiben wusste. Tatsächlich eröffnet der Sammelband mit einem Brief des Gymnasiasten Max Weber an seine Großmutter Emilie Fallenstein vom 29./30. Dezember 1878, in dem er der Heidelberger Mutter seiner Mutter über die zurückliegenden Weihnachtstage berichtet, über seine Geschenke (Shakespeare, Curtius über die Geschichte der Griechen, Boissier über Cicero, eine Petroleumlampe, ein Tischtuch aus Cautschouk, ein Feuerzeug, zwei Romane von Walter Scott, ein Buch von Victor Hehn über Kulturpflanzen und Haustiere) und über das Wetter in Charlottenburg (der Schnee taut weg).
In den bisher erschienenen elf Bänden der Abteilung II (Briefe) der MWG sind über 3.500 Briefe abgedruckt. Daraus eine sinnvolle Auswahl zu treffen für ein Bändchen von insgesamt 267 Seiten ist unbestritten ein mutiges und herausforderndes Unterfangen. Die beiden Herausgeberinnen schreiben, dass sie mit ihrer Auswahl „wiederum das Weber-Typische in den Blick nehmen“, „seinen ‚besonderten‘ Zugang zu den Dingen“ illustrieren wollten. Der anschließende Satz, „Wir verstehen sie als eine Einladung zum Weiterlesen der Briefe in der Max Weber-Gesamtausgabe“, erhält seine volle Berechtigung, wenn selbst der Weber-geübte Leser an solche Stellen gelangt: „Am letzten Dienstag machte ich mit Webers einen längeren Spaziergang nach der Neuenheimer Kirche und bewunderte die alte Tante, welche hin und zurück sehr munter voranging. Der Petersburger Weber war grade von Bonn aus einen Tag herüber gekommen.“ Da musste selbst ich nachsehen, wovon Max Weber seiner Mutter mit diesem Brief vom 4. November 1882 berichtet. Es handelt sich um einen Besuch bei der Familie Weber in Neuenheim bei Heidelberg, dem Historiker und Schulleiter Georg Weber, dessen Frau Ida Weber, geborene Becher und deren Sohn Carl Emil Weber. Was macht ein Leser dieses handlichen Readers Digest von Weber-Briefen, der nicht zum Regal gehen und den Band II/1 herausholen kann? Die Neuenheimer Weber-Familie einfach überlesen? Oder sich nur über die Rüstigkeit der „alten Tante“ freuen?
Wahrscheinlich ist es wohlfeil, sich über die Auswahl dieser Briefe zu wundern. Die beiden Herausgeberinnen werden sich viel Mühe gegeben haben, vor allem bei einem Briefbestand wie dem von Weber. Schon die Überschriften der drei Kapitel, die sie sich ausgedacht haben, sind verwunderlich: Lebensführung 1878-1920, Politik 1878-1920, Wissenschaft 1891-1920. Sehr viel weniger irreführend wäre es gewesen, wenn die Organisation der Briefauswahl sich allein an der Chronologie orientiert hätte: Briefe an Kollegen im Zeitraum 1878 bis 1920 behandelten nicht nur „Lebensführung“, Briefe über „Politik“ behandelten auch sehr Persönliches und Briefe über „Wissenschaft“ sowohl Persönliches als auch Politisches. Was hätte denn gegen die gleiche Auswahl gesprochen, wenn man die Briefe schlichtweg nach der zeitlichen Abfolge ihres Datums geordnet hätte?
Die hier ausgewählten Briefe unter der Überschrift „Gelehrtenbriefe“ zu versammeln, ist einfach irreführend. Natürlich schreibt ein 14jähriger keine Gelehrtenbriefe, aber er schreibt im „belehrenden Gestus“ (Hübinger). Eines der erschreckendsten Dokumente für diese Art des ständigen Belehrens Anderer ist unzweifelhaft der Brief des 20jährigen Max Weber an seinen Bruder Alfred zu dessen Konfirmation: „Als christliches Gemeindemitglied nimmst Du das Recht und die Pflicht auf Dich, an Deinem Teile an der Fortentwicklung der großen christlichen Culturentwicklung und damit der ganzen Menschheit zu arbeiten; – und früher oder später sieht Jeder von uns ein, daß es für sein eignes Glück eine notwendige Bedingung ist, daß er sich diese Pflicht und Aufgabe stellt und, so gut er kann, erfüllt.“ So klingen Glückwünsche an einen 16jährigen in diesen Kreisen zu jener Zeit! Doch jenseits aller Zeit- und Milieu-Bedingtheit herrschte im Hause Weber schon ein ganz besonderer Ton; man lese nur die schulmeisterlichen Briefe des Vaters oder die besorgt-bevormundenden Briefe der Mutter.
Jeder belehrte jeden, denn Max Weber belehrt nicht nur seinen Bruder, auch seinen Vater und seine Mutter belehrt und informiert dieser Frühreife permanent. Während seiner Militärzeit macht er der Mutter sehr klar, dass sie keine Ahnung hat von dieser Männerwelt. Zugleich verharrt der Herr Student immer noch wie ein Schüler in der „Berichterstattungsverpflichtung“, wenn er Rapport von seinen Göttinger Erlebnissen erstattet: „Frensdorffs lassen bestens grüßen, Schellhaß ebenfalls durch meine Vermittlung; ich denke, er wird wohl bald an Dich schreiben, seine Adresse übrigens ist Sternstraße 18. Der Locke, übrigens, gehört mir nicht. Alfreds Manschetten schicke ich nächstens zurück. Dönitz hat diesmal Wort gehalten.“ Wer diesen innerfamilialen Code entschlüsseln möchte, findet auf Seite 583 von MWG II/1 die nötigen Information, so etwa, dass es sich bei „Dönitz“ nicht um den späteren Großadmiral handelt – der wurde erst fünf Jahre nach diesem Brief vom 25. Januar 1886 geboren –, sondern um einen Schneider in Berlin.
Wer diese Briefe schon kennt, wird vermutlich über ihren belehrenden und bevormundenden Ton schmunzeln, wer sie erstmals in diesem Sammelbändchen zu lesen bekommt, wahrscheinlich eher erschrecken. Die Briefe an seine Mutter, an seine Schwester Lili Schäfer und vor allem an seine Cousine Emmy Baumgarten liefern Paradebeispiele für ein Verhältnis zwischen den Geschlechtern im Deutschen Kaiserreich, das heutige Vorstellungen vermutlich/hoffentlich sprengt: „Ich sehe dabei wieder recht, wie unendlich viel leichter die Natur uns Männern das Leben gestaltet hat. Selbst in dem unbefriedigendsten Beruf sehen wir doch den äußeren Erfolg unseres Thuns und Lebens. Eine Frau aber, sei es als Mutter, Tochter oder Schwester, sieht nichts von Dem, was ihr Dasein thatsächlich für andre bedeutet, ja, es muß ihr oft erscheinen, als bedeute sie andren nichts als eine Last und Sorge mehr, denn es läßt sich eben nicht äußerlich zur Darstellung bringen, welch gewaltige innere Bereicherung es allein schon gewährt.“ (an Emmy Baumgarten am 18. Februar 1892)
Einen gewissen Höhepunkt dieser Tonlage erreicht immer noch der sogenannte „Verlobungsbrief“, mit dem der 29jährige Max Weber seinen Willen zur Eheschließung mit der Enkelin seines Onkels Karl David Weber bekundet. Die zu diesem Zeitpunkt 23jährige Marianne Schnitger wird mit diesem Brief vom 16. Januar 1893 nicht um ihre Hand gebeten, von Liebe ist sowieso keine Rede, ihr onkelhafter Verwandter teilt ihr eher mit, dass sie beide heiraten werden: „Lies diesen Brief, Marianne, wenn Du fest und ruhig bist, denn ich habe Dir Dinge zu sagen, welche zu hören Du vielleicht nicht vorbereitet bist. (…) Hoch geht die Sturmfluth der Leidenschaften und es ist dunkel um uns, – komm mit mir, mein hochherziger Kamerad, aus dem stillen Hafen der Resignation, hinaus auf die hohe See, wo im Ringen der Seelen die Menschen wachsen und das Vergängliche von ihnen fällt.“
Allein die Versammlung jener Briefe, die unter der Rubrik „Lebensführung“ für die Jahre 1878 bis 1920 hier abgedruckt wurden – streckenweise erheblich gekürzt –, ermöglicht ein gutes Psychogramm dieses Menschen Max Weber. Mit „Gelehrtenbriefe“ im eigentlichen Sinn kann man allenfalls die Korrespondenz mit Robert Michels, Georg Jellinek, Ferdinand Tönnies, Friedrich Gundolf und Emil Lask überschreiben, auch wenn sich auch darin viel sehr Persönliches findet. Was die „Lebensführung“ im engeren Sinne angeht, so geben die abgedruckten Briefe an die Mutter („Liebe Mutter“), an Marianne Weber („Lieber Schnauzel“, „Liebes Mädele“), an Mina Tobler („Liebes Tobelkind“) und an Else Jaffé („Liebe Frau Doktor!“ 1907, „Liebling“ 1919) einen sehr kleinen Einblick in die komplizierten Verwicklungen dieses Briefeschreibers.
Und so sei auch dieser zweite Band allen jenen empfohlen, die sich ein erstes Bild vom leidenschaftlichen Korrespondenten Max Weber machen wollen. Vieles ist für den Weber-Novizen fast unverständlich, wie jede Briefkultur, die ja immer in höchstem Maß kontextabhängig ist. Man muss schon mehr über die jeweiligen Zusammenhänge der persönlichen Beziehungen dieses Mannes wissen, man muss die politischen Bezugsrahmen kennen, man muss über die innerwissenschaftlichen Dispute und Konstellationen Bescheid wissen, um diese Briefe wirklich zu „verstehen“. Doch könnte – und sollte – diese kleine Auswahl neugierig machen auf die einschlägigen Brief-Bände der MWG, um dort mit Hilfe der fast vier Tausend Briefe den persönlichen, politischen und wissenschaftlichen Weg nachzuvollziehen, den dieser Mann, politische Beobachter und Wissenschaftler zwischen dem ersten Brief des 14jährigen Schülers an seine „Großmama“ bis zum letzten hier aufgenommenen Brief des 56jährigen Verfassers der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie an seinen Tübinger Verleger Paul Siebeck gegangen ist. Der letzte Brief in Sachen Korrekturfahnen stammt vom 30. Mai 1920; zwei Wochen später, am 14. Juni 1920, starb Max Weber in München.
Sollten der Verlag und die beiden Herausgeberinnen noch weitere Briefbände planen, so könnte ja vielleicht daran gedacht werden, die Briefe von Marianne Weber an ihre Schwiegermutter Helene Weber partienweise allgemein zugänglich zu machen. Nachdem der Historiker Joachim Radkau für seine Weber-Biographie so ausgiebig von diesem Bestand Gebrauch gemacht und selbst die allerpersönlichsten Details für seine eigenen Spekulationen genutzt hat – man denke nur an seinen „Verdacht“, dass es nicht ein Dienstmädchen im Charlottenburger Familienhaus gewesen war, das durch das Verprügeln des Knaben dessen (angebliche) masochistische Veranlagung geweckt hat, sondern dessen Mutter –, könnten ja nun auch noch weitere Briefe hundert Jahre nach dem Tod Max Webers dem allgemeinen voyeuristischen Interesse ausgeliefert werden.
Die Würde von Toten scheint ohnehin kein schützenswertes Gut mehr zu sein. Also könnte man, wenn nun schon eine – sehr kleine – Auswahl der Liebesbriefe Max Webers an Mina Tobler und Else Jaffé in dem Sammelband publiziert wird, eine dritte Sammlung „Intime Briefe“ zusammenstellen. Dann hätte diese Sammlung der „Gelehrtenbriefe“ im Abschnitt „Lebensführung“ auch nicht mit dem Brief vom 15. April 1920 an das liebe „Schnauzele“ Marianne Weber enden müssen, sondern eher mit dem Brief an Else Jaffé neun Tage später. In diesem fantasiert Max Weber davon, mit seiner über alles geliebten „goldenen Else“ gemeinsam das „Tristan-Reich“ aufzusuchen, das „Wunderreich der Nacht“ (Richard Wagner), um mit ihr im Tod endlich für immer vereint zu sein. Denn Else Jaffé war es gewesen, die diesen allenfalls „cerebral Liebenden“ aus dem „Eisschrank“ seines Gehirns befreit hatte. Wenn auch nur für die wenigen Jahre, die ihm und ihr noch geblieben waren.
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