Spätdadaistisches Gesamtgeballer

Maren Kames jongliert in „Luna Luna” mit der sprachlichen Aura des Mondes

Von Sabine HauptRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Haupt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was wäre die Dichtung ohne den Mond? Alle haben über ihn geschrieben, kindlich-fromm wie Matthias Claudius und Friedrich Rückert, schwärmerisch-romantisch wie Goethe und Heine, melancholisch wie Eichendorff und Leopardi, kitschig wie Geibel und Gleim, rebellisch wie Marinetti („Tod dem Mondschein!“) und Morgenstern („der Trabant / ein völlig deutscher Gegenstand“), ironisch wie Busch („Er war so blaß, er war so falb, / Er war nicht ganz, er war nicht halb“) oder Brecht (Regieanweisung: „Ein oder zwei Monde genügen“), astronomisch gebildet wie Celan und Grünbein. Denn als „letzter Platzhalter der Anthropozentrik“ (Hans Blumenberg) steht seine Ästhetisierung für die Einzigartigkeit einer kollektiven, menschlichen Grenzerfahrung: Der Mondrausch ist universell und doch für jedes Einzelwesen eine unermessliche, individuelle Erfahrung. Wer die Magie des Mondes evoziert, kann sich auf solche kulturellen Triggerwirkungen verlassen.

Doch nicht nur Lyriker kochen ihr poetisches Süppchen auf dem Rücken des Mondes. Auch die Popwelt ist voller Lyrics, in denen Monde auf- und untergehen, ihre unheilvolle, psychodelische Farbenpracht entfalten wie in Nick Drakes schwermütiger Popballade „Pink Moon“ (1972), oder Synthesizer sich nach der „Dark side oft the moon“ sehnen wie auf der legendären Pink Floyd-LP von 1973. Maren Kames zitiert sie beide: den pinkfarbenen Mond der Popkultur wie auch den schwarzen Mond der Romantik. Pink und schwarz sind dann folgerichtig auch die leitmotivischen Farben ihrer eigenen literarischen Variante über das Mondgefühl. Schon der ungewöhnliche Einband – schwarz und pink mit silbrig glitzernden, im Innern des Buches weißen Buchstaben – signalisiert: Hier kann und will sich jemand Pathos leisten. Ein Buch mit Glitzereffekt und Fetischpotenzial, und man begreift: schwarzer Einband, schwarzes Papier, schwarzer Seele dunkler Sinn – das Ganze bestrahlt vom magischen Glanz einer wild rotierenden Disco-Kugel.

Doch der primäre Kitschverdacht ist schnell ausgeräumt. Denn hinter einer dicken Schutzschicht aus unmissverständlicher Hyper-Ironie, Girlie-Charme und umfangreichen Popzitaten ist so ein Auftreten wohl erlaubt. Im Spiegelsaal von Pop und Poesie dürfen lunare Launen ihre Strahlkraft ungehemmt entfalten, auch wenn sie noch so verdächtig glitzern. Literarische oder mediale Berührungsängste gibt es dabei nicht, Poplegenden wie Annie Lennox, Portishead, Tom Waits und David Bowie werden ausführlich im englischen Original zitiert, genauso wie der aktuelle Funk-Hit „Pynk“ der amerikanischen Hip-Hopperin Janelle Monáe. Hinzu kommen mit Fußnoten verankerte Zitate von Werner Herzog, Susan Sontag, Christoph Marthaler und Kurt Vonnegut. Auch Friedrich Schiller kommt vor: Kosmos und Innenwelten als unendlicher Text, als grenzen- und schrankenloses, intertextuelles Universum, dessen kulturelle Entropie so weit fortgeschritten ist, dass die zitierten Verse aus Schillers Ode An die Freude geradezu zwangsläufig und ohne kanonische Reibung neben Comic-Sprechblasen aus dem Repertoire von Erika Fuchs, der deutschen Walt-Disney-Übersetzerin und Erfinderin des Sounds von Entenhausen („kicher-kicher“), treten. Das ist ­ – zwischen pink, pynk und punk – ebenso einleuchtend wie trivial.

In ihrem – ja was eigentlich? – Langgedicht? epischen Poem? ihren lyrischen Miniaturen? experimentellen Fragmenten? entfaltet Maren Kames eine spätdadaistische Sprachkraft, bei der man nie so genau weiß, ob die einzelnen Formulierungen nun genial schräg, hip und chic oder einfach nur saublöd sind. Da wird geloopt, gerappt, gerockt und gepunkt, gewortspielt und gewitzelt, es sampelt und rempelt, rumpelt und pumpelt, rüttelt und schüttelt, dass es (meistens) eine Freude ist:

die vollends überschätzte präsenz meines silbern / schimmernden raumanzugs schlagartig begreifend, / stehe ich, somehow verloren, an der monstergoßen / fensterfront vor dem rollfeld in london, die vereinzelt / blinkenden lichter bestätigen das, im dunkel hinter mir / schnarcht ein scheich.

oder:

weil irgendwann bald gehen die türen zu, werden die wände / schwarz und dann labbrig und verschwinden, und du gehst / aus, und die katze hat die tasche jetzt verlassen, und die / ist nicht mehr da, und du gehst aus, aber irgendwann / findest du nicht mehr raus aus dem tank, / denn die türen sind zu und die wände sind zu, und die türen sind weg, / und dann stehst du da, und greifst in deine Taschen, / aber die katze ist weg. (du geiferst.)

Solche surrealistischen Kleinodien stehen neben rotzigen Sprüchen wie „lasst uns jung sterben oder schickt uns nach haus, / wir haben null power, aber keiner steigt aus, / sitz hier im schlick, mist, leben ist wie kurztrip, / sing pophits wie ein sad man.“, paradoxen Metaphern („ich hab mich davongewundert, / jetzt weiß keine mehr, wo ich bin“), seitenlangem Gequassel über die eigene Befindlichkeit und coolen Sprüchen aus Entenhausen wie „klopf klopf“, „klaff klaff“, „pief pief“ oder eben „luna luna“. Manches liest sich auch wie die Regieanweisung eines bekifften Peter Handke oder ausgenüchterten Christoph Schlingensief:

DER SOLDAT ZIEHT EINEN KLEINEN SYNTHESIZER AUS / SEINER TASCHE UND SPIELT EIN HERZZEREISSENDES / TROMPETENSOLO, GANZ LAUT, GANZ LANG (KL. ROAAR, / WARRIOR, KL. RACKER), DIE SYNTHETISCHEN / TROMPETENTÖNE FLIEGEN WIE DIAMANTEN AUS DEM / INSTRUMENT UND ÜBER DEN GRABEN UND ÜBER DAS FELD,

manches wie eine Kontaktanzeige aus einem Borderline-Forum: „hallo, stehe auf spielchen / kann meine trauer nicht regulieren, / suche ein zuhause, / 0176 32507934“, anderes scheint aus japanischen Mangas abgeschrieben zu sein oder aus dem Tagebuch einer Pubertierenden: „puh. ich tobe so.“ oder: „ich bin circa in der mitte entzweigebrochen / und nicht wieder heil geworden.“ In einem Interview hat die Autorin diese wilde Mischung aus unterschiedlichsten Stil- und Gemütslagen treffend als „intensives Gesamtgeballer“ bezeichnet. Dass Intensität oder das, was man dafür halten kann, im Zentrum ihrer Poetik steht, ist offensichtlich. Rastlose Sehnsucht, irgendwie nach irgendwas weit oben, „oho, oho!“, „Puh!“ und „schnief!“.

Charakteristisch sind auch die mutwilligen Verleser beziehungsweise bewusst falschen oder holprigen Übersetzungen englischer Popsongs. Da wird etwa aus „’cause i don’t wanna get over you“  statt sinngemäß: „weil ich nicht über dich hinwegkommen will“ die lyrische Permutationsschlaufe „ich will nicht über dich gehen“, „dich nicht übergehen“ usw. Bisweilen allerdings fühlt sich die (durchaus gutwillige) Rezensentin ein wenig auf den Arm genommen, reibt sich bei der Suche nach semantischen Rückständen immer wieder die Augen, bevor sie dann doch zu dem Schluss kommt, dass in diesem Buch stellenweise eine logorrhöische Assoziationsmanie Regie führt: „du uh! perpetuum / mo ho bile, getuntes, thunfisch- / haftes bah! boshafte superprojektion du! / kaffkläffer! klaffmann! bluffkäfer, aff du.“  Tja, Hugo Ball und Kurt Schwitters konnten das besser… Es gibt allerdings auch Stellen, wo das Surfen auf dem Gleichklang zumindest Kalauer-Qualität erreicht, bisweilen sogar überraschende Erkenntnisse zutage fördert: „jetzt stehe ich schafttief im saft meiner parolen“.

Das spukhafte Personal der lunaren Komödie ist ebenfalls ziemlich lustig: Da gibt es zunächst mal die immer wieder angerufene, angeflehte und angepöbelte „Mama“, mit der sich die Sprecherin „lange zeit einen bauch geteilt“  hat, bis dieser, weil „nicht genug platzz z, ist“, nun ja: platzt, sodann allerlei mehr oder weniger surreale Gestalten wie Gänse aus Pappmaché, winzige blaue Elefanten, Lämmer am Spieß, ein Mädchen im Tüllkleid, Soldaten, bellende Hunde, eine geheimnisvolle Geisha und last but not least – gewissermaßen als textmagisches schwarzes Loch der Gesamtkomposition – der böse „Sheitan“ aus dem „Fakeland“ (Fakeland ist wohl eher nicht die fragwürdige Übersetzung von „Wunderland“, sondern, so meine Vermutung, eine private joke-Anspielung auf ein Berliner Techno-Label). Sie alle kommen und gehen, turnen munter im Kopf des fiktionalen Ichs herum, tummeln sich ungeniert und ungezwungen auf den 110 Seiten des Buches, ohne sich in irgendeiner Weise semantisch in die Mangel nehmen zu lassen.

Denn worum es in den vier mit fetzigen Überschriften wie „1 scheiße und eiskaltz“, „2 krieg (wieso)“, „3 liebe (wohin)“ und „aber! / ­– hokus pokus“  versehenen Kapiteln des Bandes ,eigentlich‘ geht, ist natürlich eine Fangfrage, in der sich nur diejenigen hermeneutisch verheddern, die so dumm sind, noch immer wenigstens hypothetisch sinnvolle Zusammenhänge (re-)konstruieren zu wollen, wie zum Beispiel: ,vorgeburtlich Höllenmetaphysik und luziferischer Sturz aus dem Kosmos‘ (Kapitel 1), ,satirische Dekonstruktion sprachlicher Gewalt und demagogischer Kriegsmythen‘ (Kapitel 2),  ,neurotische Hassliebe bzw. amouröse Besessenheit‘ (Kapitel 3) oder ,romantischer Monduntergang am Horizont der Utopie (Kapitel 4).

Natürlich bekommt man immer mal wieder einen Zipfel der ,Geschichte‘ oder vorsichtiger formuliert: des zugleich verleugneten und beschworenen „horizonts“ zu fassen, dann blitzen Trauer und Wut ganz unverstellt auf. Trauer und Wut auf Sheitan, den satanisch-dämonischen Geliebten („so jedenfalls, auf diese weise, werde ich mich nie wieder / von jemandem öffnen lassen, / und ausweiden“), die nörgelnde Mama („du bist nicht das mädchen, das ich mal kannte / auch nicht das, was ich mir mal ausgemalt habe.“), den Einsatz von Napalm und das Elend des Krieges:

im vorbeifliegen unserer restposten durch die hintersten / winkel übrig gebliebener siedlungen stapeln sich tausend / finale szenarien, wie hologramme im augenwinkel, / im hufschlag getaktete ansammlungen von lauter / maßgeschneiderten desastern, hochgespannten / drahtseilen, eingestürzten dachstühlen, die wie abgefahrne / takelagen, tentakel und furunkel nach oben und nach unten / ragen, und zwischendrin haufen strauchelnder männer, die / kurz vor ihrem absturz winken, mit allen ihren flaggen und / konsorten, und dann hinfallen, mit karacho in den kompost / rein. oder in den treibsand. je nachdem.

Eine ebenso halluzinatorische wie schnodderige Kriegsvision, die eine(n) dann doch mit vielem wieder versöhnt.

Beim Thema Mond darf zuletzt eine Dimension nicht fehlen: die astronomische. Und so bestückt Maren Kames ihr Buch auch mit realen Zitaten eines realen Astronomen der ESA (European Space Agency), der sich in prosaischem O-Ton zu astronomischen Phänomenen wie Asteroiden und schwarzen Löchern äußert. Doch helfen auch diese Erklärungen wenig. Denn am Ende lässt Kames den Mond – wie zuvor schon ihre Gans aus Pappmaché – in altbewährter apokalyptischer Manier vom Himmel stürzen. Das ist schön traumatisch, melancholisch-intensiv und – aus rein poetischem Blickwinkel – sattsam konsequent.

Das archaische Weltende aber ist noch nicht das Finale, dort nämlich rudern Annie Lennox und die Geisha lachend dem „alphawald“ entgegen, beleuchtet vom glitzernden „nachglühen des runtergefallenenen Mondes“. Und genau dieser mehrfach erwähnte, obskure „alphawald“ verweist nun auf ein ganz besonderes lyrisches Potenzial des Projekts. Als Lyman-Alpha-Wald bezeichnet die Astronomie nämlich Ansammlungen scharfer Absorptionslinien im Spektrum von Quasaren, die von der Verteilung der dunklen Materie beeinflusst werden. Seine Vermessung dient – soweit ich das bei meinen Recherchen verstanden habe – der Analyse von Entwicklung und Struktur des Universums. Maren Kames Luna Luna gehört also, zumindest was diese Passagen betrifft, in die lange – von Novalis über Gottfried Benn bis Raoul Schrott reichende – Tradition von Versuchen, die wundersame Sprache aus Alchemie und Naturwissenschaften lyrisch fruchtbar zu machen.

Eine vertieftere Auseinandersetzung mit astronomischen Phänomenen und Begriffen ist bei Maren Kames freilich nicht zu erwarten. Wozu auch? Mysteriöse Vokabeln wie „alphawald“, „exzentrische umlaufbahn“, „Mondofen“ oder „kl. koronapompom“ (als kreative Anverwandlung des Restleuchtens bei Sonnen- und Mondfinsternis) dienen hier allein als metaphorische Geschmacksverstärker, oder, um im Bild zu bleiben, als assoziative Flucht- und Fixpunkte in der Haltlosigkeit unendlicher Resonanzräume.

Titelbild

Maren Kames: Luna Luna.
Secession Verlag für Literatur, Zürich 2019.
109 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783906910673

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