Schwertkämpferin = Starke Frau

Wo Bettine Vriesekoop heute „Mulans Töchter“ findet

Von Astrid LipinskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Astrid Lipinsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

China hat sich in den knapp 50 Jahren seit der Öffnung gegenüber dem Ausland 1978 sehr verändert. Vor allem sind die einförmig grün uniformierten Menschenmassen verschwunden zugunsten von hochmodisch und individuell gekleideten Karrierefrauen und Schülerinnen, die sich von den Eltern die ersten Schönheitsoperationen schenken lassen und am liebsten aussehen wollen wie die aktuellen südkoreanischen Serienstars. Aber vor allem sind die geschätzt 600 Millionen chinesischen Frauen so verschieden, dass sie sich erst recht nicht mehr zwischen zwei Buchdeckel pressen lassen.

Dass Bettine Vriesekoop es auf 236 Seiten dennoch versucht, hat vielleicht damit zu tun, dass sie als nicht-hauptamtliche Sinologin besser mit der Diversität ihres Objekts zurechtkommt und es ihr als Journalistin gelingt, sich auf ausgewählte bemerkenswerte Frauen zu beschränken. In diesem Jahr, in dem für Juli (verschoben wegen Covid-19) der neueste Mulan-Film von Disney angekündigt ist, konzentriert sie sich in 16 Kapiteln plus Einleitung und Epilog auf Mulans Töchter. Der Buchtitel passt deshalb genau zum aktuellen China-Kultur-Mainstream.

Die Autorin hat jedoch eigene Gründe jenseits von Disney für die Titelwahl, ein wesentlicher ist möglicherweise ihre persönliche Annäherung an China als international erfolgreiche Profisportlerin. Die Nähe zu dem Land ergibt sich aus ihrem Sport, dem Tischtennis, in dem Chinesinnen weltweit ihre hauptsächliche Konkurrenz sind. Für die persönlich im Sport erlebte weibliche Stärke braucht sie kein Buch. Aber vielleicht erklärt das ihre Wahl von Mulan. Sie sucht und findet für die starken weiblichen Heldinnen in bekannten chinesischen Schwertkampf-Filmen, die sie von House of the Flying Daggers bis zu Hero und Grandmaster im Einzelnen aufzählt, historische, aber legendäre Vorbilder wie Hua Mulan (ca 5. Jahrhundert). Die erste „echte“ Schwertkämpferin, die Vriesekoop aufspürt, ist Qiu Jin (1875–1907), wobei sie bei beiden ihre den Männern vergleichbare oder sogar überlegene Waffenkunst hervorhebt. Entsprechend dem Beginn endet das Buch mit der Vorstellung der zeitgenössischen Schwertfrau Gao Yu. Der Leserin bleibt es überlassen, die Emanzipation der Chinesin an ihrer Bewaffnung zu messen. Oder? Das Buch stellt sich die Frage, ob Chinesinnen von heute tatsächlich den Ehrentitel der Töchter von Mulan verdienen und wenn ja, in welcher Form sich ihr Feminismus von Mulan unterscheidet, die sich für Familie und Vaterland opferte, als sie anstelle ihres kranken Vaters in den vom Staat verlangten Kriegsdienst zog.

Das Buch beginnt mit drei Kapiteln, die sich mit klassisch-religiösen (taoistisch, konfuzianisch) Frauenbildern beschäftigen, aber ausgehend von den bewaffneten Frauen Qiu Jin und Mulan. Wenn Frauen kämpfen, bekommen sie eine Statue (wie Qiu Jin). Ansonsten sind Frauen in der absoluten Minderheit und treten nicht als religiöse Führerinnen hervor. Mit der derzeitigen Bedeutung der Göttin Mazu oder der Gründerin der buddhistischen Tzu-chi-Stiftung, der Nonne Cheng Yen, beschäftigt sich Vriesekoop nicht.

Dafür liefert das Buch nebenbei eine Fülle von Detailinformationen, zum Beispiel über die chinesische Legende der „Vier (weiblichen) Schönheiten“ zwischen dem 6. Jahrhundert vor und dem 6. Jahrhundert n. Chr., deren Attraktivität noch ohne gebundene Füße auskam, die erst später Mode und zur Voraussetzung für weibliche Schönheit wurden (zweiter Nebenschauplatz: das Füßebinden). Allgemein anerkannte Schönheit benötigt frau für eine mit sozialem Aufstieg verbundene Heirat – die auf dem Land, wie die Autorin feststellt, auch heute noch von den Eltern vermittelt wird (dritte Information).

Nebenbei widmet sich die Autorin Themen wie Abtreibung (Politik und Zahlen), der chinesischen Unternehmerin (elf der nach Forbes zwanzig reichsten Selfmade-Frauen der Welt), vorehelicher Sexualität und Verhütungsformen (nur 1,2% der chinesischen Frauen nehmen die Pille), staatlichen Sexualpolitiken (keine Förderung von Kondom oder Pille und (nicht vorhandenem) schulischem Aufklärungsunterricht). Zwischen zig Informationen fallen einzelne Fehlerchen kaum ins Auge: Der Rezensentin ist die „wörtliche Übersetzung von ernai als zweite Brust“aufgestoßen, bezogen auf das falsche (wenn auch gleichlautende) Zeichen „nai“ , hier = Ehefrau: „danai“, die „große Ehefrau“  war die Hauptfrau, ernai ist die gesetzlich nicht erlaubte aber häufige Zweitfrau.

Die unzählbare Vielfalt von Einzelinformationen ist eingebettet in einen sehr lesbaren (Vriesekopp ist schließlich Journalistin), ja spannenden Text, der zum Weiterdenken anregt und mit einem Glossar (20 Einträge) und einer Bibliografie (40 Quellen) dabei unterstützt. Die Bibliografie ist für die deutsche Leserin zusätzlich deshalb von Interesse, weil sie einen Einblick in die sonst in Deutschland kaum wahrgenommene niederländische (Herkunft von Vriesekoop und Originalsprache des Buches) Sinologie gibt ohne – das gilt auch für den Text – wissenschaftlich-akademische Überhöhung. Stattdessen mischt die Verfasserin ihre Zugänge zu China literarisch mit Autoren wie Pearl S. Buck, Maxine Hong Kingston oder Robert van Gulik.

Von den 16 Kapiteln tragen fünf, also ein Drittel, die Namen der Frauen, mit denen das Gespräch eine bestimmte Gruppe repräsentiert im Titel. Die Kapitel befassen sich mit verschiedenen Aspekten von Ehe und sexueller Emanzipation als Marksteinen (von der Bewaffnung abgesehen) für den aktuellen Status der Chinesin. Es gibt ein Kapitel zu Lesben (in China: Lala) und mit einer Prostituierten, andere tragen nicht den Namen der stellvertretenden Expertin im Titel, sondern das Thema: Schönheits-OP (Danielle Liu), Single-Sein (Jiujiu) oder Verhütungsmittel-Handel (Zheng Yue; Hong Li). Letzteres Gespräch wird für einen Kurzüberblick zu HIV/ Aids (Politiken, Zahlen und NGO) in China genutzt. Sowohl mit dem Thema als auch mit den NGOs tut sich der chinesische Staat schwer bis hin zu Tabu und Verbot, aber das wischt die Autorin als belanglos beiseite: „Der Staat kehrt HIV […] aus Scham noch immer unter den Teppich“, Staatseingriffe werden als „Erschweren“ oder sogar „Dulden“ verharmlost. Obwohl die Autorin die chinesische Rundfunkjournalistin Xinran kennt, die seit 1997 in England lebt und publiziert, zitiert sie ihre Schriften in der Bibliografie nicht und nimmt auch keinen Bezug auf die viel schmerzhaftere Darstellung der medizinischen Zwangs-Umerziehung von Homosexuellen in China bei Xinran (Verborgene Stimmen. Chinesische Frauen erzählen ihr Leben, Droemer 2003).

Zwar spricht Vriesekoop alle denkbaren Themen an; andererseits erscheint die Übernahme von chinesischer Regierungspropaganda stellenweise allzu unkritisch. Ein Beispiel ist die Behauptung „doch im Kampf gegen die Armut ist Geburtenbegrenzung unverzichtbar“, was wie die Beispiele Taiwan oder Hongkong zeigen, so nicht stimmt. Statt zu behaupten (wie Chinas Regierung), dass weniger Geburten automatisch Wohlstand generieren, hätte besagte Politik der tatsächlichen Entwicklung gegenübergestellt werden müssen. Im Folgenden listet Vriesekoop staatliche bevölkerungspolitische Maßnahmen. Die notwendige Kritik beschränkt sich auf die lakonische abschließende Bemerkung, dass „das alles nicht viel gebracht hat“. Von den Auswirkungen auf den Status der jungen Chinesinnen heute erfahren wir nichts. 

Wie moderne Frauen das Gesicht Chinas verändern lautet der Untertitel des Buches. Insgesamt stellt Vriesekoop ein Dutzend Frauen vor, an denen sie den Grad ihrer (sexuellen) Emanzipation misst. Die Porträtierten vertreten unterschiedliche Altersgruppen, aber keine alten (verrenteten) Frauen oder auf die Heirat ihrer Kinder fokussierte Mütter. „Mittelalt“ und auf dem Höhepunkt der beruflichen Entwicklung sind die Sexualwissenschaftlerin und Soziologin Li Yinhe, die Schönheitsärztin Danielle Liu und die ehemalige Prostituierte und Aktivistin Lanlan. Neben der Mehrzahl der Frauen in den 30ern, deren Hauptfokus die von ihnen dringendst erwartete aber ökonomisch nicht mehr nötige Heirat ist, findet sich eine Studentin in den 20ern, die für ihre Zukunft das Ausland im Blick hat. Vriesekoop überlässt der Leserin die Entscheidung, ob die Frauen „modern“ sind und wieso. Jede Einzelne ist eine Facette von „China“, aber das Buch ist keine abschließende Antwort auf die Suche nach „dem Gesicht Chinas“, sondern offeriert einen Blick auf die Großstadt.

Titelbild

Bettine Vriesekoop: Mulans Töchter. Wie moderne Frauen das Gesicht Chinas verändern.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Bärbel Jänicke.
Pirmoni Verlag, Krefeld 2018.
242 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783981746051

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