Wegschmeißen kann man noch immer

Plädoyer gegen die „blinde Entsorgung“, aber auch Reise in historische und familiäre Abgründe: Susanne Mayer hat ein eindrucksvolles Buch über „Die Dinge unseres Lebens“ geschrieben

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dinge sind Gedächtnis und Gefühl in komprimierter Form. Zum Beispiel der mütterliche Stopfkorb. Susanne Mayer entdeckt ihn wieder, als sie sich um die Hinterlassenschaften ihrer Eltern kümmern muss. In ihrer Kindheit und Jugend war der Korb mit seiner imposanten Sammlung an Knöpfen und Flicken das „Zentrum der Familienabende“: Abende in den Fünfzigern und Sechzigern, an denen Mutter und Töchter einträchtig nebeneinandersaßen und sich um Laufmaschen oder löchrige Socken kümmerten, während der Vater, ein Bonner Beamter, seine Fachzeitschriften las.

Einmal, schreibt Susanne Mayer in Die Dinge unseres Lebens, sei ihr in ihrer Teenie-Zeit kurz vor einer Party ein Knopf abhandengekommen. Es habe nur wenige Minuten gedauert, bis ihre Mutter mit ihrem Zauberkorb diese Katastrophe aus der Welt schaffen konnte. Die Folge sei „das sich unerwartet einstellende Gefühl absoluter Geborgenheit“ gewesen, erinnert sich die heute 67-jährige ZEIT-Redakteurin. „Ich dachte, was kann einem schon passieren, wenn man jemanden hat, der einem auf Zuruf sofort einen Knopf annäht?!“

Susanne Mayers Buch ist der ebenso eindrucksvolle wie berührende Bericht über den „Sommer ihres Lebens“, als sie auf einer Klappliege im Wohnzimmer schläft, weil das in Nordrhein-Westfalen befindliche, verlassene Elternhaus bis zum Jahresende geleert sein muss. Die Aufgabe ist alles andere als leicht. Denn die Autorin ist sympathischerweise „keine Freundin des schnellen Wegwerfens, der blinden Entsorgung“, weshalb sie für die derzeit medial allgegenwärtige „Queen der Entmüllung“, die Japanerin Marie Kondo, nur Spott übrighat.

Und fast schon Verachtung für die grassierende „Tinderisierung des Generationenverhältnisses“ einer sich von allem seelischen und materiellen Ballast befreien wollenden jungen Generation. Allzu viele Dinge in diesem Haus lösen, wie sich zeigt, erheblich komplexere Gefühle aus als simple „sparks of joy“, Glücksfunken, sondern sind Speicher von Erinnerungen, Emotionen, also letztlich von Identität. Weshalb vieles davon schließlich seinen Platz im Hausstand der Tochter findet, gerade auch Problematisches, wie der mütterliche Pelzmantel oder illegale Reisemitbringsel aus Afrika.

Tendenziell unlösbar ist die Aufgabe für Susanne Mayer aber vor allem deshalb, weil dieses Haus vom Keller bis zum Dachboden randvoll ist. Es ist ein „absolutes Zuviel“, eine regelrechte „Ding-Hölle“, die bei Susanne Mayer zwischendurch Wut- und Panikgefühle auslöst, wie die Autorin bekennt. Der elterliche „Exzess an Dingen“ war, wie die Tochter weiß, die Folge der Mangelerfahrungen der Weltkriegsjahre. Bis zuletzt lautete daher die Devise „Wegschmeißen kann man noch immer!“

Und so reihen sich im Keller Regalmeter an verstaubten Weckgläsern und finden sich Berge an Stoffen, Wäsche oder Pappschachteln. In der Küche stapeln sich säuberlich gespülte Schlemmerfiletwannen und in den Schränken die gesammelte Kleidung der Ahnen bis hin zu den Gehröcken des Urgroßvaters. Keine Schublade, aus der nicht eine Armee an Küchenschürzen oder Servietten mit den Monogrammen längst verstorbener Onkel und Tanten quillt, „die einfach nie auf die Bühne durften“.

Dem Stopfkorb ihrer Mutter, die zu Beginn des familienarchäologischen Unternehmens noch dement in einem Seniorenheim lebt, während der Vater bereits vor Jahren verstorben ist, ist in Mayers Buch ein ganzes Kapitel gewidmet. Die mitunter schon proustianisch anmutenden, kühnen Satzlabyrinthe der Autorin werden dabei zum Spiegelbild des Irrgartens Erinnerung. Andere Kapitel handeln vom Goldrandgeschirr, dem Wohlstandssymbol der Adenauer-Ära, von den Abendkleidern der Mutter (die „Sehnsuchtsobjekte“ ihrer Kindheit, wie die Autorin erinnert) oder dem Inhalt des Putzschranks.

In dem Hausfrauentabernakel finden sich nicht nur gleich vier Flaschen Möbelpolitur, sondern auch eine Teppichfransenharke. Eine Gerätschaft, die augenblicklich das Bild der allmorgendlich emsig durch die Zimmer gleitenden, für Sauberkeit und Ordnung sorgenden Mutter wachruft – aber auch Reflexionen über die Geschlechterverhältnisse jener Zeit auslöst. Schließlich konnte diese Harke am besten von Kindern benutzt werden und diente offenbar auch dazu, schon kleine Mädchen in die Hausfrauenrolle einzuüben.

So stehen neben Glücksfunden wie der wiedergefundenen Lieblingspuppe ihrer Kindheit erstaunlich viele Dinge, die sich bei näherer Betrachtung als doppelbödig erweisen. Sie lassen Susanne Mayers Elternhaus mit all seinen vertrauten Anblicken und Gerüchen mehr und mehr zu einem unheimlichen Ort werden. Und die Eltern zu Menschen, die der Tochter mit einem Mal immer fremder erscheinen. Susanne Mayer entdeckt zum Beispiel ein ihr unbekanntes, sorgfältig gehütetes Poesiealbum, in dem ihre Mutter für sich Gedichte von Weltliteraten wie T.S. Eliot sammelte. Aber „nie, nicht einmal haben wir über Literatur geredet, über das, was sie ihr bedeutete“, bemerkt die fassungslose Autorin.

Gesprochen wurde freilich auch nicht über all die Rudis, Martins oder, nach 1945, Jerrys und Grahams, die seit den dreißiger Jahren auf den letzten Seiten des Poesiealbums bis zur Hochzeit penibel mit Jahresangaben vermerkt wurden. Nicht über die Fotos ihrer Mutter als glückstrahlende junge Frau neben feschen Nazi-Uniformträgern. Und schon gar nicht über die sorgfältig ausgeschnittenen Zeitungsporträts irgendwelcher Wehrmachts-Helden.

Und der Vater? In dessen hinterlassener „Papa-Box“ im Keller finden sich Arbeitszeugnisse für die Mitarbeit an Hitlers „Wunderwaffe“ V2 und Fotoberge aus den Kriegsjahren: von erschossenen Partisanen in Osteuropa oder einem wie beseelten jungen NS-Soldaten beim Skifahren in Polen oder Segeln im Oslofjord. Ein Foto aus dem besetzten Paris zeigt einen Tisch, der, wie die Autorin jäh entdeckt, „auf schwindelerregender Weise“ just dem Couchtisch ähnelt, „an dem ich nun sitze“.

Offenkundig eine „Kriegstrophäe“ also. Aber auch ein Flugblatt findet sich, aus Widerstandskreisen, über das nahende „Ende von Hitler-Deutschland“: „Wurde aufgehoben“, konstatiert die Autorin grimmig. „Immerhin. Hätte man gerne vorher gesehen und darüber diskutiert. Verpasste Gelegenheit.“ Doch statt Diskussionen erinnert sich Susanne Mayer nur an rätselhafte Wutausbrüche des Vaters über die allgegenwärtige „Bestie“ im Menschen oder daran, dass seine Kinder niemals einen „kranken“ oder gar „debilen“ Eindruck machen durften.

Und an ein paar ständig wiederholte Anekdoten und Abenteuergeschichten, wie sie in so vielen deutschen Familien nach 1945 zirkulierten. Folgerichtig sieht die Nachkommin heute darin wenig mehr als den elterlichen Versuch, so das bleierne Schweigen dieser Generation nach 1945 zu verdecken, das Harald Jähner jüngst in seiner Studie über die Mentalität der Nachkriegsdeutschen Wolfszeit untersucht hat.

Daher ist Susanne Mayers Buch weit mehr als nur eine private Familiengeschichte. Vielmehr wird die Ausräumung ihres Elternhauses zur atemberaubenden Erkundung deutscher, allzu deutscher Mentalitäten des 20. Jahrhunderts, wie sie sich eben just in den vermeintlich unscheinbaren Dingen manifestierten. Sogar im Wunder wirkenden Stopfkorb. Denn was findet sich darin in einer Pappschachtel, vollgestopft mit Leinenlitzen oder Bändern mit dem Monogramm der Großeltern? „Eine Rombe mit Hakenkreuz, dem Emblem der Hitlerjugend, säuberlich abgetrennt, vermutlich besinnungslos, blind dem alten Motto gehorchend: ‚Wer weiß, ob man es noch mal brauchen kann!‘“

Titelbild

Susanne Mayer: Die Dinge unseres Lebens. Und was sie über uns erzählen.
Berlin Verlag, Berlin 2019.
304 Seiten , 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783827013972

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