Der Suchende

In den Aufzeichnungen, die Georges Perros unter dem Titel „Klebebilder“ gesammelt hat, reflektiert er sein Leben im Schreiben

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Georges Perros (1923–1978) war ein Autor, der ein Leben lang intensiv über das Schreiben nachdachte und vor lauter Grübeln nicht zu einem eigenen Werk fand. Nebst einigen Gedichten und einem Gedichtroman hinterließ er vor allem eine Sammlung von Aufzeichnungen und Reflexionen, die in ihrer Überschrift Klebebilder (im Original: Papiers collées) das Beiläufige schon im Titel tragen. In drei Bänden sind sie 1960, 1973 und posthum 1978 erschienen. Die Autorin und Übersetzerin Anne Weber hat sie nun in einem bewundernswerten Kraftakt ins Deutsche übersetzt.

Mag Georges Perros selbst weitgehend unbekannt geblieben sein, die Namen einiger seiner Freunde und Geistesverwandten sind es nicht. In den Klebebildern erweist er Jean-Paul Sartre, Roland Barthes, Michel Butor, Francis Ponge, Jean Paulhan, Gérard Philippe, um nur einige zu nennen, mit subtilen Porträts seine Reverenz. Mit einigen von ihnen stand er in intensivem Briefwechsel. In ihrem Schatten ist Perros selbst ein Außenseiter sowohl in der Literatur wie im Theater geblieben. Letzteres gab er, der 1945 als Schauspieler an die Comédie française berufen wurde, nach drei Jahren wieder auf, um sich der Schriftstellerei hinzugeben. 1959 vollzog er den zweiten Schritt und verließ Paris und dessen eitles Treiben. Perros, der eigentlich Georges Poulot hieß, legte sich ein Pseudonym zu, um nicht mit dem berühmteren Georges Poulet verwechselt zu werden. In der Bretagne ließ er sich zuäußerst im Finistère, in der Kleinstadt Douarnenez, nieder, zuerst allein, später folgte ihm seine Frau Tania Moravsky, mit der er fünf Kinder großzog. Seinen bescheidenen Lebensunterhalt bestritt er als Lektor für das Théâtre national de Chaillot. „Seit nunmehr zwanzig Jahren übe ich den seltsamen Beruf des Lesers aus. Ich habe ihm Sitzen, im Liegen, im Stehen Tausende Manuskripte durchgesehen, Tonnen sechsaktiger Dramen“ und so weiter, notiert er einmal, um resigniert zu schließen: „Ich habe nichts gefunden. Nichts entdeckt. Verfluchter Leser, was?“

Diese Notiz wirft ein Licht auf seinen Charakter als Leser wie als Schriftsteller. Er dachte so tiefgründig und differenziert über Talent und Genie nach, dass er dem eigenen Talent selbst im Wege zu stehen schien. Seine literarische Produktivität und Kreativität blieb zu großen Teilen in dem voluminösen Konvolut der Klebebilder gefangen, das zwar peu à peu in Buchform erscheinen, doch kaum auf ein breiteres Publikum hoffen konnte, ja gar nicht hoffen wollte.

Die Klebebilder sind ein erratisches Werk, das dem Leser und erst recht dem Kritiker einiges abfordert. Es präsentiert sich als formal vielgestaltiges Buch ohne klare Gliederung, selbst Datumsangaben sind eher die Ausnahme. Es entzieht sich der Kritik dadurch, dass die Aufzeichnungen eine sehr persönliche Sicht einfangen. Vor allem aber verbietet sich im Grunde genommen eine Lektüre, die aufs Ganze zielt, der 900-seitige Band bietet sich vielmehr als ein tägliches Exerzitium an, das den Leser wach hält für die feinen Verästelungen und Zwischentöne.

Der Band vereinigt Aphorismen, Anekdoten, Beobachtungen und Begegnungen, dazu nächtliche Notate und ein paar dichterische Texte. Alltägliche Betrachtungen und brillante Reflexionen wechseln ab mit zuweilen weitschweifigen Erörterungen auf der Suche nach dem griffigen Erkenntnispunkt. Perros präsentiert sich als ein Suchender in allen Facetten: im Leben, im Schreiben, in seinen Freundschaften, ja selbst im familiären Alltag, wie seltene Notizen dazu vermuten lassen. In einer Eintragung notiert er: „Im Übrigen sagt man mir, wenn man nett sein will, was ich schreibe habe keine Ähnlichkeit mit irgendetwas.“ Perros selbst erwähnt den Moralisten und Aphoristiker Joseph Joubert, eine geistesverwandte solitäre Gestalt aus der französischen Literatur um 1800.

Trotz der vielen schneidend kurzen Eintragungen verbietet sich Perros, selbst zum Aphoristiker zu werden. „Der Aphorismus schließt“, heißt es in den Notizen für ein Vorwort. Er mag die schnelle Pointe nicht, was ihn aber keineswegs am Festhalten von wunderbar doppelbödigen Maximen hindert. „Was für ein einfacher Mensch er geblieben ist, sagen die Dummköpfe von einem berühmten Mann. Aber nein, er ist es geworden“, lautet eine Eintragung. Auch Lichtenberg schätzt er sehr. Eine spätere Notiz doppelt nach: „Bescheiden sein ist sehr schwierig.“ Vielleicht meint er genau das, wenn er notiert: „Ich habe mich zur Unvernunft gebracht.“ Perros bleibt ein Leben lang ein Schriftsteller, der die Hybris des in die Sprache Vernarrten mit einer sehr bescheidenen, äußerlich ambitionslosen Existenz verbindet. „Leben setzt zu“, notiert er kurz und knapp und gibt zwischendurch Einblick in sein zurückgezogenes Leben im provinziellen Exil. „Keinen Erfolg haben zu wollen, dieses Spiel ist gar nicht so einfach“, lässt er auch durchblicken. Einfachheit und Einsamkeit sind Leitmotive in den Klebebildern. Perros leidet nicht daran, beide sind selbstgewählt. Paris vermisst er kaum.

„Angebotene Freiheit: Bieten Sie einer Makrele an, sich in einem berühmten Aquarium einzurichten, alle Unkosten werden übernommen, das Meerwasser wird stündlich erneuert – sie wird ablehnen. (Hoffe ich.)“ Diese Freiheit gelingt ihm in seinen Lektüren und beim Schreiben, weil er über ein feines sprachliches Sensorium verfügt. Zwar beklagt er sich wiederholt, dass alle schrieben, aber niemand lese oder überhaupt zu lesen verstünde. Ihn selbst betrifft es aber nur am Rand – da, wo er „zwanghaft, wie instinktiv“ seine eigenen Notizen hinsetzt. „Unverbesserlicher Randnotizenschreiber“, nennt er sich, dem als Unterlage alles recht ist: „Papierfetzen, oft Toilettenpapier, Metrotickets, Streichholzschachteln, Buchseiten“, bloß damit nichts verloren und vergessen geht. „Man schreibt nicht, weil man verrückt ist. Sondern um nicht verrückt zu werden. “ Und an anderer Stelle: „Die Feder ist das Spitzeste, was ich gefunden habe, um die Mauer der Minute zu durchstoßen, die vergiftete Verkettung der Zeit zu durchbrechen.“

Lesen und Schreiben heißt Leben. Wenn er über das Schreiben nachdenkt, geht es immer ums Ganze, um seine Existenz. Die literarische Bedachtsamkeit ist sein modus vivendi. „Die Poesie schenkt uns das Vergnügen, nicht verstehen zu müssen. Das Verstehen selbst ist verzaubert, verschiebt sich auf später.“ Genau hierin gründet auch seine Bewunderung für Mallarmé. Seine Betrachtungen zu dessen Werk sind stupend und augenöffnend. Mallarmé „kann uns wieder Gefallen am richtigen Lesen geben“, notiert er. „Seine scheinbare Undurchdringlichkeit ist nur eine sensiblere – brutal sensible – Annäherungs- oder Auffassungsweise der Wahrheit.“ Nebst Mallarmé widmet er auch Ponge, Barthes, Butor und anderen ebenso kluge wie enthusiastische Betrachtungen. Oder Paul Valéry, dessen Monsieur Teste er schätzt, dessen Poesie er aber für „eine mehr oder weniger privilegierte Kopfgeburt“ hält und für einen Kontrapunkt zu Mallarmé.

Perros‘ Klebebilder sind ein Buch voller gedanklicher Trouvaillen und brillanter Beobachtungen. Sie sind auch eine intellektuelle Zeitreise in die 1950er bis 1970er Jahre, als Jean-Paul Sartre und Albert Camus gemeinsam durch Saint-Germain-des-Prés schlenderten und Studenten im heißen Mai das Straßenpflaster aufrissen. Von Politik ist bei Perros allerdings wenig die Rede. Er fühlt sich vom Typus des Politikers ebenso abgestoßen wie von Bewegungen, deren aktivistische Manifeste ihn nach der Lektüre in einer „Urscheiße“ zurücklassen, wie er schreibt. Vor den tagesaktuellen Ereignissen schreckt er zurück, zumindest in seinen Aufzeichnungen. Ebenfalls manifest wird darin ein Frauenbild, das aus heutiger Sicht befremden mag, für die damalige Epoche indes nicht untypisch war. Die Faszination ist förmlich zu spüren, wenn Perros, gedanklich eine hübsche Frau vor Augen, eine Passage wie diese formuliert: „Was den wesentlichen Reiz der Frau ausmacht, ist, dass wir ihren Worten das, was von ihr ausgeht, voranstellen.“

Anne Weber hat sich davon nicht irritieren lassen und diesen reichen Schatz an Reflexionen, Betrachtungen und Lektüren mit Geduld präzise ins Deutsche übertragen. Kurze Anmerkungen im Anhang geben Hinweis auf Quellen und Zitate und erlauben so hin und wieder auch die zeitliche Situierung eines Gedankens in diesem unaufhaltsamen Strom von Aufzeichnungen.

Den Abschluss macht ein berührendes Kapitel unter der Überschrift Zaubertafel. Es sind die Notizen des „Laryngektomierten“, an Kehlkropfkrebs erkrankten Perros‘, der infolge einer Operation die Stimme verlor und im Alter von nur 55 Jahren verstarb. „Leben, dünnes Häutchen“ findet sich hier notiert, und: Wie schwierig ist es, „sich an die einzige Energie zu halten, auf der die senkrechte Haltung beruht. Sich aufzugeben.“

Dergestalt sind die Klebebilder am besten in einer Lektüre aufgehoben, die nicht alles auf einmal verschlingen und durchdringen will, sondern sich der opulenten Sammlung peu à peu annähert, hier etwas rauszieht, da ein paar Seiten liest und so neben dem existentialistischen Drama immer auch Raum für die Lust und Leichtigkeit des Denkens lässt. Denn nur Krampf sind Perros‘ Aufzeichnungen nicht, sie verraten Witz und einen unbändigen Enthusiasmus am gedanklichen Durchdringen, der sich an die Leserinnen und Leser richtet, sie herausfordert und sie bereichert.

Titelbild

Georges Perros: Klebebilder.
Aus dem Französischen von Anne Weber.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020.
900 Seiten , 58,00 EUR.
ISBN-13: 9783957576910

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