Alter Wein in neuen Schläuchen?

Thomas Bein stellt eine vollständig neue ‚Einführung in die Germanistische Mediävistik‘ vor

Von Robin KuhnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Robin Kuhn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer sich heute als Studierender unterschiedlichster Fächer der Germanistischen Mediävistik annähern will, dem eröffnet sich eine reichhaltige Auswahl an Einführungen, darunter die großen ‚Klassiker‘ – etwa von Hilkert Weddige (Einführung in die germanistische Mediävistik), Dorothea Klein (Mittelalter. Lehrbuch Germanistik) und Gert Hübner (Ältere deutsche Literatur. Eine Einführung), um nur Einige zu nennen. Erweitert man diesen Komplex dann linguistisch um das Gebiet der mittelhochdeutschen Sprache, steigt die Anzahl noch einmal deutlich an. Man merkt: An Ein- und Hinführungen mangelt es dem verhältnismäßig kleinen Fach, das sich neben seiner omnipräsenten ‚großen Schwester‘, der Neueren Deutschen Literaturwissenschaft, immer wieder standhaft behaupten muss, offenbar nicht. In regelmäßigen Abständen erscheinen so zumeist Neuauflagen der bereits bekannten Werke, die bisweilen geringfügig verbessert und ergänzt werden. Fast könnte man daher meinen, es habe sich hier ein geregelter, repetitiver Betrieb ohne große Innovationen eingestellt. Gleichzeitig muss jedoch immer gefragt werden, wie aktuell die x-te Neuauflage tatsächlich ist und ob in dieser Stasis teilweise nicht sogar wichtige neue Forschungsdiskussionen und -ergebnisse ausgeblendet werden.

Thomas Bein gehört gewissermaßen selbst zu den ‚Klassikern‘; sein Lehrbuch Germanistische Mediävistik – eine Einführung erschien erstmals 1998 und erfuhr 2005 eine überarbeitete und erweiterte Auflage. Seitdem ruhte das Werk, um nun von der Neuerscheinung Deutsche Literatur des Mittelalters. Eine Einführung in die Germanistische Mediävistik quasi beerbt zu werden. In seinem Vorwort vermerkt Bein, dass sich Hochschulbetrieb und Studium mittlerweile grundlegend verändert haben, worauf „ein Lehrbuch reagieren und didaktische Konzepte behutsam verändern“ solle. Und so ist es dem Autor wichtig, dass seine Einführung eben keine überarbeitete Fassung des Alten darstellt, sondern als komplett neuer Band in der ESV-Reihe Grundlagen der Germanistik erscheint.

Seine Ausführungen unterteilt Bein in zwei Oberbereiche: einen „Systematische[n] Teil“ und einen „Historisch-gattungstypologische[n] Teil“. Dabei deckt er einzelnen Kapiteln die essenziellen Sektoren der Germanistischen Mediävistik ab, die seine Fachkolleginnen und -kollegen in ihren Werken ebenfalls ausführlich behandeln: Quellen, Überlieferung, Autor, Publikum, Literaturgeschichte, Gattungen und so weiter. Gleichzeitig berührt er auch wichtige ‚Randbereiche‘ wie die Antikeepik, die Leichdichtung oder die Geschichte der (Alt-)Germanistik – bis hin zu Verweisen auf hochaktuelle Online-Editionen, sei es das Parzival-Projekt von Michael Stolz oder das Thomasin-Projekt von Jakub Šimek. Diese Gebiete können gerade bei seminaristischen Einführungen oft nur am Rande oder gar nicht zur Sprache kommen, was ihre Aufnahme umso begrüßenswerter macht.

Handelt es sich hier nun um den berühmten „alten Wein in neuen Schläuchen“? Nur bedingt, und dies wird sich auch nicht gänzlich vermeiden lassen; denn natürlich existieren auch in der Germanistischen Mediävistik viele Axiome und Grundlagen, die feststehen und bei denen höchstens an der Art der Präsentation gearbeitet werden kann. Dies erfüllt Bein wiederum hervorragend. Er scheut sich nicht, ‚von ganz unten‘ anzufangen und auch die einfachsten Fachbegriffe ausführlich zu erklären, was für Anfänger enorm wichtig ist und bei Fortgeschrittenen für den ein oder anderen Aha-Moment sorgen dürfte, wenn längst vergessene Eindrücke der ersten Proseminare wieder aufgerufen werden.

Besonders erfrischend ist Beins Ansatz, die Kapitel stets mit einer „Annäherung“ zu beginnen, die auf lockere und gelegentlich humorvolle Weise an das jeweilige Themengebiet heranführt. Seine Ausführungen zur althochdeutschen Literatur leitet er so unter anderem durch einen überlieferten Vers ein, der die logischen Sentenzen einer lateinischsprachigen Handschrift parodiert: so diz rehpochchili fliet, so pleccet imo ter ars. („Wenn das Rehböcklein flieht, dann zeigt es den Arsch.“) Der Autor belässt es dann auch nicht bei einer einfachen Darstellung, sondern er zeigt schlüssig auf, warum gerade diese Beispiele einen wichtigen Kontext für die nachfolgenden Erläuterungen bilden.

Bereits die den beiden großen Oberbereichen vorgeschaltete Einleitung startet mit einem ähnlichen Teil, der die Autorseite Klingsors von Ungarland aus dem Codex Manesse bis ins kleinste Detail untersucht und für einen Rundumblick auf das ganze Fach fruchtbar macht. Schreibstoff, Schrift, Sprache und Bildmaterial werden mit einer lebendigen Genauigkeit analysiert, die selbst dem Kenner Freude bereitet und neugierig macht auf die weiteren Aufbereitungen. Diese Neugier kann Bein halten: Der Text ist konstant gut verständlich, reich bebildert (leider nur schwarz-weiß, was die unglaubliche Farbenpracht vieler Codices unterschlägt) und berücksichtigt in besonderem Maße den Wissensstand fachlicher Neulinge. Kurze Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels stellen noch einmal pointiert dar, was genau nun eigentlich vermittelt wurde. Zudem wird dort stets auf weiterführende Literatur hingewiesen, was die wissenschaftliche Qualität nochmals erhöht und sich positiv von anderen Beispielen abhebt, die ihren Rezipienten zwar eine umfangreiche Bibliografie anbieten, aber die notwendige Gliederung dabei gerne nachlässig behandeln oder gleich mit Missachtung strafen.

Dem stellt sich Bein entgegen. Das Literaturverzeichnis enthält sinnvollerweise nicht bloß die vollständigen Quellen und Forschungsliteratur, sondern gibt einem zusätzlich die wichtigsten philologischen Hilfsmittel an die Hand. Das Verfasserlexikon, das Lexikon des Mittelalters und viele weitere Nachschlagewerke erhalten so das ihnen zustehende und nötige Rampenlicht. Vorbildlich führt Bein hier – im Sinne des modernen Charakters seiner Einführung – auch die großen digitalen Angebote der Germanistischen Mediävistik auf: Mediaevum, der Handschriftencensus, das Wörterbuchnetz und die Verfasser-Datenbank werden angegeben, erklärt und kommentiert. Obwohl man hier sicherlich noch einige weitere Anlaufstellen wie die Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank oder Manuscripta Mediaevalia hätte aufnehmen können, bietet der Autor einen sehr guten Fundus an elektronischen Nachschlagemöglichkeiten, der Studierenden wie Interessierten eine erste Übersicht verschafft. Dies sollte in der heutigen Zeit ohnehin eine Selbstverständlichkeit sein, da digitale Medienkompetenz in der Forschung wie in der Lehre unbestreitbar immer wichtiger wird und schlicht nicht ignoriert werden darf.

Geradezu wegweisend wirkt in diesem Zusammenhang der angebrachte Kommentar zur immer noch reichlich umstrittenen Online-Enzyklopädie Wikipedia, die „von Schüler/innen wie Studierenden selbstverständlich intensiv genutzt [wird], wenn man auch nicht gerne darüber spricht“. Die kluge Darstellung des Ist-Zustands, die sachliche Abwägung von Vor- und Nachteilen und der Hinweis auf weiterführende Studien hierzu sind von hohem Wert und können den korrekten Umgang mit dem Medium für Studierende wie Lehrende deutlich erleichtern.

Mit einem systematischen Literaturverzeichnis führt der Autor schließlich sein in den Kapitelenden begonnenes Konzept fort und stellt zu allen behandelten Themenkomplexen noch einmal sämtliche Literatur zusammen. Denkt man an den praktischen Gebrauch im Studium, bietet diese Sammlung eine hilfreiche Grundlage für Hausaufgaben, Essays und Hausarbeiten verschiedenster Art.

Möchte man Kritik anbringen, so wäre dies möglich bei der ‚einfachen‘ Sprache sowie dem ‚knappen‘ Umfang des Buchs, die der Darstellung einer ganzen, hochkomplexen Fachdisziplin nicht gerecht werden können. Das verbietet sich aber durch die angesprochene Zielgruppe, die froh darüber sein wird, ein Werk vorzufinden, das sie, frei von übertriebenem akademischem Habitus, an die Hand nimmt und unbekannte, gelegentlich auch schwierige Inhalte transparent und auf Augenhöhe vermittelt. Eine Reduktion auf das Wesentliche bedeutet schließlich nicht, dass man einen Text nicht mit Gewinn und Genuss lesen kann, so wie es auch der Rezensent getan hat.

Bein gelingt in beeindruckender Weise der nicht zu unterschätzende Spagat zwischen ‚trockenem‘ Fachwissen und adäquater Vermittlung, zugleich setzt er innovative Akzente und präsentiert ein Gesamtkonzept, das sich der besonderen Umstände des Fachs und seiner Rezipienten annimmt. Als Vor- oder Begleitlektüre zu (Einführungs-)Seminaren vermag der Text den Studierenden viele Unsicherheiten und Vorurteile zu nehmen. In diesem Sinne wird es interessant sein zu sehen, ob nun auch weitere Autorinnen und Autoren diesem positiven Beispiel folgen werden – oder ob es am Ende doch wieder bei Neuauflagen bleibt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Thomas Bein: Deutsche Literatur des Mittelalters. Eine Einführung in die Germanistische Mediävistik.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2019.
272 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783503188543

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