Mach Dich zum perfekten Menschen

Artur Dziuks Debütroman „Das Ting“ über un-heimliche Technologie

Von Vera KostialRSS-Newsfeed neuer Artikel von Vera Kostial

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Start-up wird gegründet, um ein technologisches Produkt zu entwickeln. Der Schauplatz: Berlin, natürlich. Die Figuren: Linus, nett, schüchtern und beruflich erfolglos, hochbegabt in Biotechnologie, im Coden allerdings nicht so brillant wie die einzige Frau des Gründer:innen-Quartetts, Niu, Sozialphobikerin und unübertroffen im Programmieren. Kasper, Geldgeber des Projekts, muss sich von seinem Vater und dessen Unternehmen emanzipieren, und Adam, gutaussehend, charismatisch, marketingorientiert, ist Spiritus Rector des Start-ups. Etwas reißbrettartig konzipiert wirken Handlung und Personal in Artur Dziuks Das Ting – und dennoch ist das Romandebüt gelungen.

Der Titel des Romans bezeichnet gleichzeitig das im Start-up entwickelte Produkt. ‚Ting‘, das klingt wie ‚Ding‘, eine nicht näher bestimmte Sache, wobei durch die kleine lautliche Änderung – aus dem weichen ‚D‘ wird ein hartes ‚T‘ – ein bestimmterer Klang erzeugt wird. Das Wort ‚Ding‘ wird verfremdet, bleibt aber erkennbar, ganz so, wie das Produkt ‚Ting‘ zwar im Zentrum der Romanhandlung steht, aber nicht endgültig zu verstehen ist. Was wir wissen: Das Ting ist ein Tool, das der Selbstoptimierung seiner User:innen dient. Soweit, so bekannt. Seit Jahren sind unzählige Fitnesstracker, Smartwatches und Apps erhältlich, die mit genau dieser Zielvorstellung vermarktet werden: Mach Dich zu einer besseren Version von Dir selbst. Erfülle täglich die Dir gestellten Aufgaben, sagen wir, mindestens 10.000 Schritte zu laufen und zwei Liter Wasser zu trinken. Wenn Du dann noch den Workload des Tages mittels einer Organisations-App strukturiert abarbeitest, bist Du ein effizienterer, gesünderer, besserer Mensch. Das Ting, beworben als „Navigationssystem fürs Leben“, ist einfach noch ein kleines bisschen mehr:

Die Situation der Userin oder des Users wird analysiert und anschließend mit einem großen Korpus bestehend aus Romanen, Filmen, Biografien und anderem abgeglichen. Auf Basis unserer festgelegten Ziele – beruflicher Erfolg, körperliche Fitness, intaktes Sozialleben – wird mithilfe des Korpus‘ nach Optimierungsmöglichkeiten gesucht. Diese werden in Form von Empfehlungen an die Nutzerinnen und Nutzer weitergegeben.

Nicht nur ist das Ting in der Lage, seine:n jeweilige:n Benutzer:in immer besser ‚kennenzulernen‘, sondern es unterscheidet sich durch seine Beschaffenheit von allen bekannten Fitness- und Optimierungstools, wie Linus bei Lieferung des neuen Prototyps seinen Mitgründer:innen erklärt:

Wir benutzen das Ting nicht. Es ist anwesend. Seit Niu die Verpackung geöffnet hat. Wie ein … wie eine Umweltbedingung. Ich werde es gleich nach der Zusammenkunft an meinen [sic] Rechner für uns vier freischalten. Schwer zu sagen, wie lange es braucht, um sich zu kalibrieren. Sobald es sich auf dich einstellt, wirst du spüren, dass es wirkt. 

Tatsächlich ist es zunächst ein körperliches Gefühl in Form eines Geschmacksempfindens, das die Aktivität des Ting ankündigt; es folgt der Eindruck, es „würde etwas oder jemand aus dem Dunkeln ins Scheinwerferlicht treten“ – und dann spricht das Ting nach Art einer inneren Stimme seine Empfehlungen aus. Die vier Gründer:innen gehen einen faustischen Pakt ein: Die Anweisungen des Ting werden befolgt, komme, was wolle. Werden sie missachtet, steht zwar nicht die Seele auf dem Spiel, aber der eigene Anteil am Start-up, dessen „Mission Statement“ nichts weniger als die Perfektionierung der Spezies Mensch verspricht: „Mensch sein heißt Entscheidungen treffen. Perfekte Entscheidungen treffen heißt, ein perfekter Mensch zu sein. Das Ting macht dich zum perfekten Menschen.“ Das Streben nach Perfektion und die Schicksalsergebenheit in die Hände einer Künstlichen Intelligenz sind natürlich keine neuen Motive – aber sie sind noch immer solide Grundlagen für spannende Geschichten. In der Tat ist der Roman sehr plot driven, was die wechselnden Erzählperspektiven unterstützen, die mehr als einmal für einen Informationsvorsprung der Leser:innen vor der jeweils im Fokus stehenden Figur sorgen und deren Wechsel durchaus als Cliffhanger fungieren. 

Was wir nicht wissen, ist, wie genau die Technologie des Ting funktioniert. Niemand bekommt einen Mikrochip implantiert oder muss Kapseln schlucken, der Roman bedient keine Motive einer klassischen Dystopie, in der eine Künstliche Intelligenz Macht über die Menschen gewinnt. Das Ting ist einfach „anwesend“ und gerade wegen der Kombination aus seiner undurchschaubaren Präsenz und seiner Nähe zu alltäglich genutzten Technologien im schönsten Freud’schen Sinne un-heimlich. Deswegen ist Dziuks Debütroman auch trotz etwas schematischer Konstruktion von Storyline und Figuren, denen man je eine deutlichere eigene Stimme wünscht, überzeugend: Weil er weder in Technikeuphorie verfällt noch den mahnenden Zeigefinger erhebt vor technologischem Fortschritt. Er birgt als Leseeffekt das Potential, die eigene Abhängigkeit von Technik nicht zwangsläufig anzuzweifeln, aber zu reflektieren: Wer fällt die Entscheidung, der Mensch oder ein technologisches Tool? Und ist vielleicht nichts davon per se gut oder schlecht?

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Artur Dziuk: Das Ting. Roman.
dtv Verlag, München 2019.
464 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783423230063

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