Lesen in der Corona-Krise – Teil 9

Entscheidung mit Risiko: Mukerji und Mannino zur Logik politischer Überzeugungsbildung in der Coronakrise

Von Juliane Prade-WeissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juliane Prade-Weiss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Reclam-Band Covid-19: Was in der Krise zählt von Nikil Mukerji und Adriano Mannino betreibt Philosophie in Echtzeit, so der Untertitel. Er diskutiert also ein Phänomen, das sich gerade erst entfaltet und dabei vor allem Unberechenbarkeit bereithält. Dankenswerterweise speisen Mukerji und Mannino das SARS-CoV-2-Virus und die Lockdown-Maßnahmen nicht in ein bestehendes Theoriesystem ein wie andere philosophische Autoren, prominent Giorgio Agamben und Slavoj Žižek. Mukerji und Mannino fragen auch nicht in erster Linie danach, welche neuen Weichenstellungen für die Sinnfindung die Coronakrise vom Denken fordert. Sie bleiben stattdessen nahe am tagespolitischen Diskurs und fragen nach den Bedingungen rationaler Entscheidungsfindung unter Zeitdruck und auf Grundlage wissenschaftlich eigentlich unzureichender Informationen.

Eine „kohärente Risikopraxis“ bedarf, weil ihr kaum Zeit zur Debatte bleibt und sie sich kaum auf Sachinformationen stützen kann, einer umso entschiedeneren Verständigung über die Ethik der politischen und gesellschaftlichen Überzeugungsbildung, über zugrunde liegende Prinzipien und die Inkaufnahme von Schäden. Diese Abwägung wird häufig als Kosten-Nutzen-Rechnung verhandelt, so als verstünde die dabei angewandte Ökonomie sich von selbst. Dabei changiert die Debatte zwischen wirtschaftlichen, rechtlichen und ethischen Fragen. Mukerjis und Manninos Band weist richtigerweise darauf hin, dass Krisen der Vergegenwärtigung von Entscheidungsmaximen bedürfen und dass politische Klugheit dies idealiter tut, bevor Krisen eintreten. Die Konzentration des Bandes auf Risikoepistemologie zeugt keineswegs von einer Beschränkung, sondern vom Selbstbewusstsein der Philosophie als Fundamentalwissenschaft, deren Kompetenz darin besteht, „gleichsam als Filter für die Relevanz aller anderen Erwägungen“ zu dienen.

Das ist eine steile Vorlage, der die Überlegungen recht gut gerecht werden durch eine stringent chronologische Organisation der Fragen: Erstens, war die Pandemie vorhersehbar gewesen? Das war sie, wie der Band umfangreich zeigt, und erfreulich deutlich auf die ökologische Krise infolge von Urbanisierung, Entwaldung, Massentierhaltung und Klimawandel als Hintergrund des SARS-CoV-2-Virus verweist. In der epidemiologischen Debatte über emerging infectious diseases wie Ebola oder BSE sind die Zerstörung von Ökosystemen und industrielle Tierhaltung als entscheidende Faktoren anerkannt, in der öffentlichen Debatte erscheint SARS-CoV-2 dagegen meist als Naturkatastrophe im Sinn eines kontingenten, schicksalhaften Ereignisses, das ohne Zutun des Menschen hereinbrach. Solch isolierte Betrachtung der Pandemie droht zu verhindern, dass Lehren aus ihr gezogen werden können, unter denen Mukerji und Mannino zu Recht zuallererst eine ökologische Wende sehen, vor allem in der Produktion und Konsumption von Fleisch.

Zweitens diskutiert der Band, wie in der eingetretenen Krise rational und ethisch vertretbar entschieden werden kann; wie vor allem Expertenwissen, politisches Entscheiden und gesellschaftlicher Diskurs zu koordinieren sind. Eine grundsätzliche Erörterung des Experten-Status ist unbedingt notwendig, wie nicht zuletzt populistische Medienangriffe der BILD-Zeitung auf die Praxis virologischer Forschung und Publikation gezeigt haben. Solche Abwertung ist die Kehrseite der unkritischen Annahme, Virologen könnten auch gesellschaftspolitische Fragen wie Schulschließungen fehlerfrei entscheiden ‒ eine Annahme, die aufgrund der Vermischung von Erkenntnisgewinn und Entscheidungsfindung nur zur Enttäuschung führen kann. Mukerji und Mannino balancieren die wissenschaftliche Expertise darum mit dem jedem zugänglichen Moment des Zweifels aus: Was, wenn ich falsch liege? Dieses Kalkül kann gegen eine reine Zahlenlogik auch dazu Anlass geben, einer wissenschaftlichen Minderheitenmeinung zu folgen. Zu Recht verweisen Mukerji und Mannino darauf, dass eine verlässliche und gesellschaftlich relevante Wissenschaft der Ausschaltung von Sekundärinteressen bedarf, wie sie etwa die Forschungsfinanzierung darstellt.

In dem Wunsch, WissenschaftlerInnen mögen sich „rationale Standpunkte aneignen und diese unverzerrt nach außen kommunizieren“, zeigt sich aber auch eine Grenze des rein epistemologischen Zugangs: „Außen“ ist kein Adressat. Verständlichkeit in der Kommunikation entsteht durch Adressierung des jeweiligen Gegenübers (wie der Medienöffentlichkeit, der Politik, der Industrie) mit Rücksicht auf dessen Interessen und vermutliche Vorkenntnisse; diese Adressierung ist keine Verzerrung, sondern wirkt der Entstellung durch Unverständnis gerade entgegen. Von dieser Logik wird auch die Wissenschaftskommunikation selbst bestimmt. Prozesse der Entscheidungsfindung sind auf Kommunikationsstrukturen angewiesen, deren Eigengesetzlichkeit jenseits der Kompetenz der Risikoepistemologie liegt.

Drittens steht im Band die Frage nach den Lehren, welche gezogen werden sollten, sobald die Krise einmal überstanden sein wird. Neben der Ökologie ist dies Mukerji und Mannino zufolge eine Skepsis gegenüber der Künstlichen Intelligenz als oft propagiertem Mittel zur Lösung aller Probleme der gegenwärtigen Zivilisation; dieser Vorbehalt kontrastiert wohltuend mit der von der Pandemie ausgelösten Digitalisierungseuphorie.

Die Stringenz im Aufbau des Bandes erfordert Abstriche, so erörtern Mukerji und Mannino etwa nicht, wie die SARS-CoV-2 Pandemie sich zur Erzähllogik der Tragödienbegriffe Krise und Katastrophe verhält. Und sie verweisen eher selten auf die lange Kulturgeschichte von Epi- und Pandemien, die es fraglich erscheinen lässt, ob es triftig ist, auf eine „weitgehende Rückkehr zur Normalität“ zu hoffen, oder nicht vielmehr mit einer dauerhaften, weltweiten Transformation von Lebensweisen zu rechnen ist. Beide Diskussionen erscheinen für diesen Band verzichtbar, sofern sie anderswo umfangreich geführt werden.

Wichtiger ist die Kritik am Nationalismus, der die politische Entscheidungsfindung sowie die öffentlichen Debatten während der Pandemie bestimmt hat und bestimmt, zu Verzögerungen der politischen Antwort führte und mithin die weltweite Ausbreitung des Virus allererst ermöglich hat. Maßgeblich ist dabei der westliche Vorbehalt dagegen, Forschungsmeinungen und Praktiken aus Korea oder Taiwan zu folgen, obgleich dort während der SARS-Pandemie 2002/2003 umfangreiche Erfahrung im Umgang mit einem ähnlichen Virus gesammelt worden sind. Sicherlich mag Vorsicht angebracht sein angesichts offizieller Verlautbarungen aus China, doch zum einen verweisen Mukerji und Mannino darauf, dass man statt den Worten Glauben zu schenken die Maßnahmen der chinesischen Pandemiebekämpfung als Indikatoren des Bedrohungsausmaßes hätte ernst nehmen können. Zum anderen reproduziert die Lokalisation von Krankheitserregern in der vermeintlich exotischen Ferne koloniale Muster der Pandemiepolitik des 19. Jahrhunderts. In einer Geographie der Schuldzuweisung lokalisiert Exotismus Krankheitserreger am Rand der Zivilisation, ebenso werden gegenwärtig harte Lockdown-Maßnahmen oft in scharfen Kontrast zur westlichen Zivilisation gestellt.

Ein wichtiges Thema sind dabei so genannte wet markets, also Lebendwildtiermärkte, die große Teile Asiens und auch Afrikas mit Proteinen versorgen. Diese Märkte begünstigen den Virentransfer von Tieren auf Menschen vor allem dann, wenn die angebotenen Tiere durch den Kollaps ihrer Herkunfts-Ökosysteme zu Wirten anderer und veränderter Viren werden. Mukerji und Mannino plädieren für die Einstellung des Verzehrs von Wildtieren, da so das Pandemierisiko deutlich verringert werden könne, „ohne dass dabei gesundheitliche Nachteile entstünden“, da die Gründe, dies nicht zu tun, „vorrangig mit Genuss, Gewöhnung oder mit Lobby-Interessen zu tun“ hätten. Anthropologen warnen indes davor, das bloße Verbot von wet markets beraube große Teile der Weltbevölkerung einer wichtigen Nahrungsquelle, könne also leicht Hunger nach sich ziehen. Zudem verdeckt die Lokalisation des Pandemieursprungs in einer vermeintlich exotischen kulinarischen Praxis deren Kontext: Das Aufkommen des Ebola-Virus bei Menschen wird in der Forschung mit Rodungen für die Palmölproduktion in Verbindung gebracht sowie mit dem Fischfang von EU-Booten in der Afrikanischen Hochsee, der das Ausweichen auf Wildtiere als Nahrungsquelle nach sich zog. Zum einen bestätigt das Fehlurteil in dieser Einzelfrage jedoch gerade Mukerji und Manninos Appell für einen globalen Blick in der Pandemiebekämpfung. Zum anderen weist es auf die Psychologie insbesondere der Verdrängung als eine weitere Grenze der Risikoepistemologie, an der andere Wissensfelder einhaken müssen.

Ebenso, wie es einfacher ist, Pandemien als bloß schicksalhafte Ereignisse zu sehen denn als zum Teil menschengemachte, so ist es leichter, die menschliche Verantwortung für die Virusentstehung in der Ferne zu verorten als (auch) in der Nähe. Mukerji und Mannino sehen die psychologischen Faktoren für die zögerliche Antwort auf die Pandemie-Bedrohung in einem Mangel an persönlicher Erfahrung und mithin an Vorstellbarkeit begründet und raten mit Blick auf KI dazu, „‘Katastrophenpropheten‘ ernst zu nehmen“. Beiseite gelassen wird dabei ein großes Segment der jüngeren Populärkultur, das nichts anderes vorstellt als Outbreak-Narrative und tödliche Bedrohungen durch globale Infektionen. Dieses Unterhaltungssegment befeuert zwar die Vorstellung, reduziert die Pandemie damit aber zum bloß fiktiven Szenario und gilt, wie gezeigt worden ist, mitnichten der Vorbereitung auf katastrophale Ereignisse, sondern dem Aufzeigen, dass die neoliberale Gegenwart alternativlos ist, sofern die Alternative allein in der Katastrophe besteht. Katastrophenprophetien ernst zu nehmen ist mithin alles andere als einfach. Was in der Krise zählt, das ist neben einer Offenlegung rationaler Entscheidungsprinzipien ebenso, und noch weit mehr als die Epistemologie wissen möchte, Einsicht in Irrationalitäten.

 

Hinweis: Alle bisher erschienenen Teile unserer Reihe „Lesen in der Corona-Krise“ finden Sie hier.

 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Nikil Mukerji / Adriano Mannino: Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit.
Reclam Verlag, Stuttgart 2020.
120 Seiten, 6 EUR.
ISBN-13: 9783150140536

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