Weit mehr als ein Bruchstück

Dieter Burdorfs ambitionierter Versuch, das Fragmentarische ganz zu erfassen

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Legt man das schmale Buch nach der Lektüre des beschließenden achten Kapitels „Ausblick: Brüchige Stimmen“ aus der Hand, ist man um mancherlei reicher: um stupendes, vielgestaltiges kulturgeschichtliches Wissen zumal und um anregende Überle­gun­gen theoretischer, systematischer und historiographischer Art, doch auch um Verunsicherung und Verwunderung, um Zweifel und Fragen und einen Schuss Unmut obendrein.

Letzterer hat vor allem damit zu tun, dass der als solcher hoch willkommene Text immer wieder, sei es der Anschaulichkeit, des Belegens, des Bekenntnisses oder der ‚Griffigkeit‘ halber, mit Para­phrasierungen, (arte-)fact-dropping, erhobenem Zeigefinger, breit entfalteten Gemein­plät­zen und selbst mit Banalitäten durchsetzt ist. Dergestalt büßt der Text nicht nur an Dichte und Stringenz des Gedanken- und Argumentationsgangs ein, sondern lässt auch darüber nachdenken, an welche Art Publikum er sich eigentlich wendet.

Verunsicherung und Verwunderung: Die stellen sich bereits ein, wenn man den Titel und Untertitel der sich nicht als „systematische[] Abhandlung“, sondern als Essay in Kapiteln verstehenden (und dennoch gut literaturwissenschaftlich mit 249 Fußnoten operierenden) Untersuchung näher ins Auge fasst und anschließend einen ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis wirft. Dass „Zerbrechlichkeit“ als Haupttitel das ‚Dach‘ für „Fragmente“ schlechthin abgeben soll, beirrt ebenso wie die nähere Bestimmung „in der Literatur“ im Untertitel, die offen lässt, ob es um literarische Fragmente gehen soll oder um Literatur, die von Fragmenten handelt – so viel scheint jedenfalls gewiss, dass im zweiten Falle nicht Fachliteratur über Fragmente im Zentrum des Interes­ses stehen sollte. Dieses angesprochene Beirrt-sein bekommt dann weiter Nahrung, wenn im Inhaltsverzeichnis Kapitel aufgeführt werden, die explizit von Ruinen und Torsi handeln, werden diese doch landläufig, das heißt alltagssprachlich wie in fachlichen Zusammenhängen, allenfalls in ungefährer Rede mit dem Begriff „Fragment“ belegt. Gibt es gute Gründe, von dieser Praxis abzuweichen, und ist ein solcher Grund beispielsweise in dem Sachverhalt zu sehen, dass das Lateinische „fragmentum“ in der Antike auf materielle und nicht auf literarische Gegenstände bezogen wurde (vgl. zweites Kapitel)?

Die „Vorbemerkung“ des Autors jedenfalls macht zum einen deutlich, dass unter „Fragment“ tatsächlich auch zerfallene Bauwerke und Torsi gefasst werden sollen (das erste Kapitel unterscheidet dann noch einmal in „Fragment“ im „engeren“ und im „weiteren“, wobei zu letzterem sogar „Schiffs- oder Autowracks“ gezählt werden). Gewiss ist die Forderung höchst sinnvoll, „die literaturwissenschaftliche Verwendung des Fragment-Begriffs auf eine verlässliche Basis zu stellen“, wie es nach etwa einem Drittel des siebten Kapitels „›Das Fragment der Fragmente‹“ heißt. Doch ist es auch sinnvoll, das heißt vor allem funktional, diesen literaturwissenschaftlichen Begriff faktisch kulturwissenschaftlich zu dimen­sionieren und ihn anderen Disziplinen quasi überzustülpen? Das kann an dieser Stelle nur gefragt werden, beispielsweise mit dem Hinweis darauf, dass zumindest in der Architektur der Begriff „Fragment“ – deutsch: Bruchstück – ja bereits vergeben ist, so hat es den Anschein, für ausgelöste Teile aus einem Objekt nämlich, sei dieses auch unversehrt, zerstört (Ruine) oder unvollendet (Bauruine).

Zum zweiten stellt die „Vorbemerkung“ heraus, dass es sich bei Fragmenten um „nicht abgeschlossene oder im Verlauf ihrer Überlieferung zerbrochene, teilweise oder ganz zerstörte“ Objekte handeln kann. Angesichts dieser ganz und gar einsichtigen, basalen Unterscheidung – auf von ihm so bezeichnete „Fragment-Simulate“ als dritte Möglichkeit kommt der Verfasser vor allem im genannten siebten Kapitel eigens zu sprechen – überrascht es dann aber doch, wenn zugleich pauschal behauptet wird, dass wir „[i]n jedem fragmentierten Gegenstand […] mit unserer eigenen Zerbrechlichkeit oder Fragilität konfrontiert“ werden. Und: „[B]edauern“ wir es tatsächlich in jedem Fall, dass „der fragmentarische Kunstgegenstand […] nicht voll­endet wurde“? Hier entsteht der Eindruck, dass der auf behauptete Wort- bzw. Bedeutungs­gleichheit hinauslaufende Gebrauch der Wörter „Fragment“, „fragmentiert“ und „fragmen­ta­risch“ zu einem mehrfachen, undienlichen Wechsel der Argumentationsebenen und -perspek­tiven geführt hat.

Von daher fällt es schwer, im Ganzen der Aussage zuzustimmen, dass das Fragment ein „ästhetisches Objekt“ sei, „das es uns in besonderem Maße ermöglicht, in ihm die[] Erfahrung der Zerbrechlichkeit unserer selbst, der uns liebsten Menschen und unserer Lebenswelt gespiegelt zu sehen.“ Das zieht dann auch eine skeptische Beurteilung der für die Untersuchung zentralen Behauptung nach sich, der „Begriff der Zerbrechlichkeit“ sei dazu geeignet, „eine die einzelnen Künste übergreifende Kategorie zur Beschreibung der Form und Funktion von Fragmenten in der Kunst“ zu sein.

Das erste Kapitel der Untersuchung, dass als Outline des Bandes die „Vorbemerkung“ fortführt und von daher zum Zwecke der Bekräftigung oder der Erinnerung (wie andere Kapitel auch) etliche Wiederholungen aufweist, handelt von der „Faszination des Fragmentarischen“ menschlicher Artefakte; dabei wird die Musik „aus Platzgründen“ leider ausgeklammert. Die erste These lautet, dass die „Faszination“ bezüglich literarischer Fragmente mit derjenigen beispielsweise für „Ruinen und Torsi“ „verbunden“ sei, die zweite, dass diese „Faszination“ nicht nur ästhetischer, sondern auch – Stichworte „Zerbrechlichkeit“ und „Verletzlichkeit“ – existentieller Natur sei. Auch hier ließe sich fragen, ob man so generalisierend und allgemeinverbindlich von „Faszination“ sprechen sollte und ob es nicht angemessener wäre, im Einzelfalle zu bestimmen, aus welchen der Sache selbst anhaf­tenden Gründen einerseits, aus welchen fachlich-intellektuellen, ästhetischen, emotionalen und / oder men­talen Gründen andererseits wir uns mit einem literarischen Fragment, einer Ruine, einem Torso, einer Vorstudie o. Ä. beschäftigen. Der in einer Fußnote damit zitierte Goethe spricht in der Italie­ni­schen Reise mit Blick auf eigene Fragmente sogar eher lapidar und entmythisierend von seiner damaligen sich steigernden „Unart, vieles anzufangen und bei vermindertem Interesse liegen zu lassen“. Und die im zweiten Kapitel zitierten George Steiner und Carlos Spoerhase versuchen zwar ebenfalls zu generalisieren und zu nobilitieren, treffen den Sachverhalt meines Erachtens aber genauer, wenn sie statt von existentiell eingefärbter, einseitig den Rezipienten betonender „Faszination“ – im fünften Kapitel spricht der Verfasser selbst von „einer anthropologischen Perspektive auf die Wirkungsweise fragmentarischer Werke“ – von der Objekt und Subjekt vermittelnden, eigenen „Verheißungskraft“ des Fragments sprechen und davon, dass das Fragment gegenüber der „,realisierten ›Totalität‹ […] enttäuschungsresistenter‘“ sei.

Im zweiten, vor allem etymologisch, lexikalisch und komparatistisch ausgerichteten Kapitel geht es um „Zerbrechlichkeit“ und „Unversehrtheit“ und deren begriff­li­che Umfelder. Dabei wird irritierenderweise davon ausgegangen, dass diese „Kate­go­rie[n]“ einander in derselben Weise „gegenüber“ stünden wie „Ganzes“ und „Fragment“ (als „,anwesende[r] Teil eines abwesenden‘“ tatsächlichen oder imaginierten „,Ganzen‘“; der Verfasser zitiert hier Matthias Schöning) das tun. Wird auch mit gutem Grund „Zerbrechlichkeit“ vor allem im Vergleich zu „Verletzlichkeit“ als dasjenige Wort aus dem „breite[n] Spektrum von Wörtern“ im Deutschen bezeichnet, das am umfänglichsten „ein gemeinsames Konstituens des Menschen und der ihn umgebenden Lebenswelt bezeichnen kann“ – deren Zeitlichkeit nämlich – , so wirkt folgende daraus gezogene Schlussfolgerung argumentativ doch schief: „Die Kategorie der Zerbrechlichkeit steht aber niemals für sich allein; sie ist stets auf das Ideal der Unversehrtheit, das sie verfehlt, bezogen.“

In den nachfolgenden Kapiteln geht es dann um all dasjenige, was dem Verfasser nach unter „Fragment“ im „engeren Sinne“ zu verstehen ist, also um Ruinen, Torsi, literarische Be­schrei­bungen von „Fragmenten“, literarische Fragmente und um „Fragment-Simulate“. Die Anzahl der wertvollen, teils wegweisenden Einzelbeobachtungen und -erkenntnisse ist dabei derart, dass diese hier im Detail nicht wiedergegeben werden können. Stattdessen soll daher ein problem­orientierter Überblick versucht werden.

Ob die Untersuchung gewonnen hätte, wenn die kulturhistorisch weitsichtigen, beeindruckend kenntnisreichen Kapitel drei und fünf zusammengelegt worden wären? Beide handeln immerhin zentral von „Ruinen“ der antiken Welt, das dritte Kapitel insbesondere von der Akropolis und das fünfte vor allem vom alten Rom; ferner kommen in beiden Kapiteln nun auch ausführlich Dichter und Schriftsteller sowie Philosophen und Soziologen zu Wort. Freilich fokussiert das dritte Kapitel darauf, „das Problem historischer kultureller Ganzheiten, ihrer späteren Ergänzung, ihres Zerfalls und Wieder­auf­baus, ihrer gewaltsamen Fragmentierung und kulturellen Überformung“ zu disku­tieren, wäh­rend sich das fünfte Kapitel eher dem Nachdenken über die Attraktivität von Ruinen als solchem widmet: Doch stehen diese Fokussierungen ja nicht ohne innere Verbin­dung da.

Dreierlei ist im dritten Kapitel von grundsätzlichem Interesse der einen oder anderen Art: Zum einen kulturphilosophische – und hintergründig auch sprachphilosophisch grundierte – Gedanken über „­Fragmentierung“ und „Ganzheit“, die sich an Überlegungen Hermann Fürst von Pückler-Muskaus über die „,Schändung des Parthenons‘“ entzünden, eigentlich schon auf den im siebten Kapitel verhandelten „Fragment“-Begriff Friedrich Schlegels vo­rausweisen und die zu der vom Verfasser nicht vollzogenen Konsequenz führen könnten, die Begriffe „Fragment“ und „Ganzheit“ sub specie aeternitatis als relational und nicht als substantiell bzw. ontologisch zu begreifen. Zum anderen wird sich der Literaturwissenschaftler vor allem an den Ausführungen über die Auseinandersetzung Hofmannsthals und Rilkes mit dem antiken Griechen­land erfreuen. Schließlich werden Kulturwissenschaftler gespannt auf Goethes zugleich „Trauer“ und Vorfreude umfassenden, doppelperspektivischen Gedanken zu einem zu erwirkenden „,idealen Kunstkörper‘“ in Frankreich schauen, die dieser im Zusammenhang mit der „Dislokation […] kulturelle[r] Schätze“ Italiens anstellt. Goethes eine, genuin transkul­turelle, das Neue und die Zukunft willkommen heißende und damit höchst aktuelle Perspektive wird dabei vom Verfasser allerdings als ein an der Vergangenheit orientiertes Restaurations­pro­gramm gedeutet.

Einen Höhepunkt im fünften Kapitel, das sich u.a. knapp „Gedenkschrift[en]“ (am Beispiel Herder) und literarischen Reflexionen über das Erinnern (am Beispiel Ruth Klüger) widmet, stellt die Nachzeichnung von Georg Simmels „‚Reiz‘“ und „‚Wehmut‘“ vereinigende Hochschätzung der in der Tat von Vergänglichkeit und damit von Existentiellem zeugenden Ruine dar. Die wird Simmel zufolge im Unterschied zu sonstigen zerstörten Kunstwerken „‚ganz wie ein Natur­pro­dukt empfunden‘“. Hingegen könnte Walter Benjamin vor allem deshalb angeführt worden sein, weil er in seiner (präventiv zurückgezogenen) Habilitationsschrift vom barocken Trauerspiel als „‚Ruine‘“ und vom „‚Werk als Ruine‘“ spricht und damit den weiten Fragment-Begriff des Verfassers zu stützen scheint. Doch ist in diesem Zusammenhang u. a. (und mit dem Verfasser) auf das „[H]ochspekulative“ und die Bildhaftigkeit von Benjamins Theorie(n) hinzuweisen. Genuin literarhistorisch endet dann das Kapitel mit zwei einlässlicheren Hinweisen auf „Ruinendichtung in deutscher Litera­tur“, auf Jakob Michael Reinhold Lenz und auf Robert Gernhardt. Gemäß der von Lenz in Das Hochburger Schloß entwickelten Perspektive, dies ein weiterer Vorgriff auf den Fragment-Begriff F. Schlegels, müsse „[n]otwendigerweise“ selbst das größte künstlerische „Werk Fragment bleiben“, so der Verfasser, der Gernhardts Sonett Roma aeterna (1987) als „Parodie auf das ganze Genre der Ruinen­poesie“ liest und wertschätzt.

Das sechste Kapitel geht von einer weiteren generalisierenden Behauptung aus, derjenigen, dass uns „[j]eder Torso […] mit der Zerbrechlichkeit und Verletzlichkeit menschlicher oder tierischer Körper“ konfrontiere. Dabei möchte man fragen, ob nicht zumindest intendierte Torsi („Fragment-Simulate“) ganz im Gegenteil auch das Substrat, die Idee des Körpers oder doch wenigstens die des Rumpfes wiedergeben und von daher unversehrt sein können – der Torso als (ggf. selbstverständlich zerbrechliche) Ganzheit. Würde man, um eine Analogie zu be­mü­hen, Albrecht Dürers Betende Hände als Fragment bezeichnen, nur weil diesen Extremitäten, Rumpf und Kopf fehlt? Auch hier bekommen wir es also wieder mit der Perspektivität, Relationalität und damit Elastizität der Begriffe zu tun, die allerdings keineswegs als begriffliche Unschärfe oder gar als Beliebigkeit missverstanden werden sollte.

Die ersten, gelehrten Seiten des sechsten Kapitels gehören dem Torso von Belvedere und des­sen Rezeption in Kunstgeschichte (Winckelmann) und Kunst (Michelangelo, Goya, Dela­croix). Darauffolgend geht es um Auguste Rodin (insbesondere Porte de l’Enfer) und dabei selbstverständlich auch um Rainer Maria Rilkes Auseinandersetzung mit Rodin. Von hoher Bedeutung ist hier, dass Rilke nach anfänglichem „Befremden“ über Rodins Montagetechnik erkennt, dass derjenige die Kunst und deren Vorstellung von Ganzheit, Unversehrtheit und höherer Einheit verfehlt, der sie mit prosaischen Vorstellungen und mit einer dieser eigenen Sprache zu beschreiben und zu verstehen versucht. Das sehr informative, auch ausführlich bedeutende Forschungsliteratur zitierende letzte Drittel des Kapitels gehört dann Rilkes poetischer Auseinandersetzung mit Kunstfragmenten und hier insbesondere dem Sonett Archäïscher Torso Apollos.

Mit 25 Seiten macht das siebte Kapitel, das von literarischen Fragmenten handelt und somit, dies meine Vermutung, den Kern dessen trifft, was sich viele beim Lesen des Untertitels ver­spro­chen haben, nur knapp 20 Prozent des gesamten Textes aus. Das literaturgeschichtlich breite und obendrein theoriegesättigte Kapitel kann hier nur punktuell beleuchtet werden. Es geht von Goethes im Fließtext in Gänze zitierter Beobachtung aus, Literatur sei das „›Das Fragment der Fragmente‹“. Diese der Behauptung nach die „immer wieder tautologisch anmutenden Formeln“ der „Frühromantiker“ parodierende Beobachtung – Goethe benutzt im Unterschied zu diesen aber Singular und Plural, das lässt einen Tautologieverdacht oder eine parodistische  Absicht eher als unbegründet bzw. unwahrscheinlich erscheinen – wird dann so ausgelegt, dass Goethe mit „seinem Aphorismus […] nicht nur die zentrale Stellung des Fragments in der Literatur, sondern auch dessen eminente Bedeutung für die Frühromantiker“ beleuchte.

Goethe spricht in diesem Aphorismus allerdings gar nicht über ein einzelnes literarisches Werk, sei dieses unvollständig oder ganz, sondern über Literatur schlechthin als Kunstform. Diese steht als das aufgrund von Selegierung oder Verlust Übriggebliebene in einem Verhältnis zur als immer schon fragmentarisch verstandenen Welt, zur unendlichen, kontingenten Mannig­faltigkeit des Geschehenen, Gesprochenen und Geschriebenen. In diesem Sinne ist die Kunst­form Literatur nicht nur rein quantitativ betrachtet ein Bruchstück oder auch Bruchteil, ein Fragment jedenfalls des Weltganzen, sondern sie ist qualitativ betrachtet auch die Essenz dieses Weltganzen, deren Essenz wiederum das Fragmentarische ist – „‚Fragment der Fragmente‘“: Überbleibsel und zugleich Fragment par excellence.

Falls dem so ist, hat Goethes Aphorismus auch nur beiherspielend mit der Fragment-Ästhetik der Frühromantiker zu tun, für die neben August Wilhelm Schlegel, Friedrich von Hardenberg (Novalis) und Friedrich Schleiermacher vor allem Friedrich Schlegel steht. Der Verfasser stellt die Athenäums-Fragmente 22, 24 und 116 ins Zentrum seiner – überraschenden – Deutung bzw. Überle­gungen.

Trifft es das Konzept der „progressiven Universalpoesie“ tatsächlich, wenn behauptet wird: „Nur weil die moderne Dichtung fragmentarisch ist, kann sie […] das Universale ausdrücken.“ Müsste mit Blick auf sie nicht eher gegenteilig beispielsweise wie folgt formuliert werden: Weil das Universale niemals ganz ausgedrückt werden kann, kann Literatur („Poesie“) weder als Kunst­form, d.h. als Summe der Einzelwerke, deren Kritiken, Interpretationen und ‚Filiationen‘ noch bzw. schon gar nicht als einzelnes Werk (Einzelwerk, welcher Gattung auch immer; Werk eines Einzelnen) im strengen Sinne vollendet sein; Literatur ist also im Ganzen wie im Einzelnen notwendig das Werden, das vorläufig Sein, das Voranschreiten, das unabgeschlossen Bleiben – kurz: das Fragmentarische eigen; das gilt auch da, wo Ganzheit bzw. Vollständigkeit bzw. Geschlossenheit behauptet werden, können diese am Universalen gemessen doch immer nur oberflächlicher, dinghafter und damit relativer Natur sein.

Und ist es denn tatsächlich so, dass für F. Schlegel die „wahre Virtuosität“ darin besteht, „die Zerrissenheit der modernen Welt zugleich zu erkennen und souverän zu gestalten – durch das Schreiben von Fragmenten“ nämlich? Fordert Schlegel zum Schreiben von Fragmenten auf oder hält er allem konkreten Schreiben zuvor dafür, dass (angesichts des Universalen / der Zerrissenheit der Welt) nichts anderes als Fragmente geschrieben werden können, seien diese nun beispielsweise aphoristischer oder romanhafter Art?

Überzeugt es schließlich dem Kerngedanken nach bzw. auf mögliche Realisierungsformen hin gesehen, dass „Schlegels Begriff des ›Fragments aus der Zukunft‹“ überhaupt „kein Begriff des Fragments“ sei, „sondern die Skizze einer Gattungstheorie des Aphorismus“?  Ist es tatsächlich so, dass Friedrich Schlegels Fragment-Begriff ausschließlich auf aphoristisches Schreiben abzielt und anderes, ‚großvolumiges‘ Schreiben ausschließt?

Im Ergebnis ist dem Verfasser beizupflichten, dass sich F. Schlegels Fragment-Begriff nicht als „gattungstheoretische[r] Terminus“ eignet, allerdings aus einem einzigen, anderen Grund als den vom Verfasser genannten Gründen. Ungeeignet ist dieser Begriff nicht deshalb, weil er „vage“ wäre, sondern weil er als ein ontologischer auch tendenziell alle Textsorten (und deren Weltbezug) umfasst und von daher etwas auszudrücken vermag, das an der Schnittstelle von Geschichts­philo­sophie, Erkenntnistheorie und Literaturtheorie liegt, aber nichts spezifisch Gattungs­mäßi­ges. Der Begriff „Fragment“ bei F. Schlegel ist vor allem philosophischer, nicht literatur­wissen­schaft­licher Natur.

Beipflichten kann man dem Verfasser auch darin, dass F. Schlegel, wie er u.a. mit Die Griechen und Römer oder mit Lucinde gezeigt hat, „ein Meister des entstehungsgeschichtlichen Frag­ments“ gewesen ist, solange man in dieser Aussage nur die eine Seite der Medaille sieht. Denn die genannten Beispiele zeugen als im Lichte übergeordneter Pläne zwar teilstückhafte, doch für sich allein betrachtet abgeschlossene Objekte einmal mehr von der Relativität, der Dialektik der Begriffe „Ganzheit“ und „Fragment“. Aber hätte F. Schlegel dem Verfasser hinsichtlich der Gattungszuordnung dieser Projekte nicht selbst zugestimmt? Ob er ihm freilich darin zuge­stimmt hätte, in den „so genannten ›romantischen Fragmenten‹“ nichts als „Fragment-Simulate“ zu sehen, d.h. dem Verfasser nach keine Fragmente, soll hier bezweifelt werden.

Fazit: Wer aufgrund des Untertitels des Buches davon ausgegangen ist, es hauptsächlich mit literarischen Fragmenten und / oder mit literarisch-poetischen Texten über Fragmente, Ruinen, Torsi o. Ä. zu tun zu bekommen, wird vermutlich eher enttäuscht sein. Wer sich hingegen auf die Auslegungen insbesondere Goethes und  F. Schlegels sowie auf die Begrifflichkeit von Dieter Burdorf einlässt, hier namentlich auf dessen als eng behaupteten, doch faktisch weiten Fragment-Begriff, wer zudem bereit ist, über „Zerbrechlichkeit“ eine immer wieder veranschaulichte, existentielle Brücke zwischen „Frag­menten“ und conditio humana, ja Weltgeschehen schlechthin zu schlagen, dem wird ein kaum einmal eingetrübtes Lesevergnügen zuteilwerden.

Titelbild

Dieter Burdorf: Zerbrechlichkeit. Über Fragmente in der Literatur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
136 Seiten , 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783835336551

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