Geheimnisse des Genies Goethe
Eine Erinnerung an Kurt R. Eisslers große psychoanalytische Studie
Von Thomas Anz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWar es wissenschaftliche Prüderie, provinzielle Engstirnigkeit, Widerstand gegen unliebsame Theorien oder lag es an offenkundigen Mängeln des Buches? Da veröffentlichte 1963 in den USA der renommierte Psychoanalytiker und Goethe-Liebhaber Kurt R. Eissler, Leiter des Sigmund-Freud-Archivs in New York, nach vielen Jahren hingebungsvoller Arbeit eine 1538 Seiten umfassende Studie über die psychischen Grundlagen jener literarischen Phantasien, mit denen Goethe zum Klassiker deutscher Literatur wurde. Doch das Buch wurde in Deutschland ignoriert - bis 1983 der erste Band auch in der Muttersprache des 1908 in Wien geborenen Autors erschien.
War das Werk vielleicht nur für psychoanalytisch kompetente und gläubige Leser von Interesse? Keineswegs. Kurt R. Eissler geht mit den Begriffen Freuds sparsam um, und er distanziert sich ausdrücklich von jenen psychoanalytischen Biographien, denen es vor allem darum geht, in ihren Untersuchungsobjekten Bestätigungen der eigenen Theorie zu finden und "zu beweisen, was man voraussagen konnte", nämlich daß auch Genies einen Ödipuskomplex haben. Die "psychoanalytische Studie" liest sich weithin wie eine "normale" Biographie, nur daß ihr Scharfsinn, ihr Einfühlungsvermögen, ihre Genauigkeit und Materialfülle das normale Maß weit überschreiten.
War vielleicht der Umfang des Buches seiner Resonanz abträglich? Man liest lange daran, aber langweilig ist es nicht. Es hat im Gegenteil etwas von der Spannung eines Detektivromans, und mit ihm hat es auch sonst einiges gemeinsam. Zwar handelt es nicht von realen Verbrechen, die es aufzudecken gilt, aber doch von Geheimnissen in der Geschichte eines Menschen, hinter denen sich Verbotenes verbirgt: Inzest- oder Todeswünsche, masochistische Bedürfnisse oder homosexuelle Neigungen. Und wie die Aufklärung einer kriminellen Tat versucht die psychoanalytische Detektion Ordnung und Licht in einen anarchischen, dunklen und unheimlichen Teil des Lebens zu bringen. Eissler läßt uns als Ich-Erzähler teilhaben am Prozeß seiner Nachforschungen, spricht von "Beweismaterial" oder von "Fälschungen", er interpretiert Indizien, kombiniert, spekuliert und hält den neugierigen Leser dadurch in Atem, daß er seine Vermutungen nicht vorzeitig preisgibt. Gefordert sieht er sich bei seiner Suche nach Goethes "Seelengeheimnissen" auch durch den Dichter selbst, der von sich sagt: "Was ich geworden und geleistet, mag die Welt wissen, wie es im einzelnen zugegangen, bleibe mein eigenstes Geheimnis."
Neben dem Bekenntnisdrang steht bei Goethe der mehr oder weniger bewußte Wille, das eigene Ich zu verbergen. Die abenteuerliche Geschichte einer Verstellung wurde denn auch zum Ausgangspunkt für Eisslers Nachforschungen.
1777 erhielt Goethe ratsuchende Briefe eines jungen Mannes, der von seinen Konflikten und depressiven Verstimmungen berichtete. Goethe antwortete nicht, besuchte ihn aber noch im selben Jahr während seiner ersten Reise in den Harz - freilich ohne seine Identität preiszugeben. Er gab sich als Maler namens Weber aus, der in Braunschweig seine Schwester und seinen Schwager besuchen wolle.
Das Treffen verwickelte sich zu einer romanhaften Geschichte mit schlechtem Ausgang. Plessing, so hieß der Unglückliche, fragte seinen Besucher über Goethe aus, beschwerte sich über ihn, las einen der unbeantworteten Briefe vor. Goethe spielte seine Inkognito-Rolle weiter, gab therapeutische Ratschläge, indem er Plessing erzählte, wie er den berühmten Dichter in Weimar über vergleichbare Fälle habe urteilen hören. Statt sich selbstquälerisch nur mit dem eigenen Innenleben zu beschäftigen, müsse man sich der Natur zuwenden und tätig in die Außenwelt eingreifen. Plessing widersetzte sich solchen Ansichten hartnäckig. Goethe seinerseits reagierte verärgert und reiste vorzeitig ab.
Wie aufschlußreich diese scheinbar belanglose Geschichte einer mißglückten Verständigung für die psychische Befindlichkeit des Dichters wird, wenn man sie nur genau analysiert, kann Eissler überzeugend demonstrieren. Gewiß, seine Interpretationskunst fördert nicht nur Neues zutage. Daß Goethe sich gegenüber psychisch Gefährdeten wie Plessing oder auch Jakob Michael Reinhold Lenz äußerst zwiespältig zeigte, haben andere ähnlich beschrieben. Von ihnen fühlte er sich angezogen und abgestoßen zugleich. In ihnen erkannte der Dichter des "Werther" seine eigenen Gefährdungen wieder, die ihn fast zum Selbstmord getrieben hatten und die er doch immer wieder abzuwehren vermochte.
Daß Goethe mit dem Rat, sich aktiv der Außenwelt zuzuwenden, eine therapeutische Maxime auf den Fall Plessing übertrug, die ihm zur Bewältigung eigener Krisen geeignet schien, ist noch relativ leicht durchschaubar. Warum aber gab er vor, seine Schwester zu besuchen, die in Wirklichkeit schon tot war? Und warum datierte er in seinen autobiographischen Erinnerungen die Episode auf das Jahr 1776 vor, in dem sie noch lebte? Die Frage führt Eissler ins Zentrum seiner Analyse: zur Beziehung zwischen Johann Wolfgang und seiner Schwester Cornelia. Eissler macht diese innige, doch durch Inzestverbot, eifersüchtige Besitzansprüche und Schuldgefühle belastete Geschwisterliebe zum Schlüssel für Goethes Liebesleben und literarische Phantasie. Nicht zufällig verliebte er sich so häufig in sexuell tabuisierte Frauen, die zu heiraten unmöglich war. Hier wiederholte er die Konflikte in seinem Verhältnis zu Cornelia.
Ihr verdankte er immerhin, so sieht es Eissler, die Rettung vor der Psychose, als er krank aus Leipzig nach Frankfurt zurückkehrte. Sie war für ihn in den Krisen seiner Jugendjahre der emotionale Rückhalt, den er zum Überleben so notwendig brauchte wie die literarische Produktivität. Doch sie war es auch, die durch ihre Heirat bei dem Bruder das schwere Trauma das Verlustes hervorrief, von dem er sich nur mühsam befreite.
Goethe suchte und fand Ersatz: zunächst in der Brieffreundin Auguste Gräfin Stolberg und dann vor allem in Charlotte von Stein. Daß ihr Verhältnis "den Charakter einer Patient-Analytiker-Situation annahm", ist eine Kernthese Eisslers, auf die er immer wieder (und oft überanstrengt) zurückkommt. In Frau von Stein fand Goethe mit seiner inneren Unruhe eine hilfreiche Freundin, der er sich ohne Mißtrauen öffnen konnte und die ihm ungemein verständnisvoll zuzuhören bereit war. Zu dem therapeutischen Charakter dieser Beziehung gehörte auch der erotische Verzicht - was ihr offensichtlich leichter fiel als ihm. Ohne Umschweife nennt Eissler sie "asexuell" und "frigide". Auch darin war sie Cornelia ähnlich. Beide hatten mit ihren Ehemännern ähnliche Schwierigkeiten.
Im erfolgreichen Prozeß jener "Analyse", die Goethe im Weimarer Jahrzehnt vor der Italienreise gleichsam durchmachte, spielte eine entscheidende Rolle, daß er sich den "Übertragungsmechanismen" in seinen Liebesbeziehungen bewußt zu werden begann. "Es dämmert ihm, daß die starke Anziehung, die Charlotte von Stein auf ihn ausübt, der Abkömmling [...] seiner vergangenen Bindung an Cornelia ist. Am Ende der analytischen Selbsterkenntnis stehen Heilung und Befreiung. Als Goethe sich im September 1786 von Frau von Stein trennt, um nach Italien zu reisen, löst sich auch die pathologische Fixierung auf die Schwester und damit zugleich seine psychische Impotenz. Erst in Rom wird es dem 39jährigen möglich, so Eisslers gewagte, doch nicht schlecht fundierte Vermutung, seine erste sexuelle Erfahrung zu machen.
Natürlich sind derartige "Enthüllungen" dazu geeignet, voyeuristische Publikumsbedürfnisse zu befriedigen. Können sie auch zum besseren Verständnis von Goethes Werk beitragen? Biographistischen Interpretationen herkömmlicher Art ist Eisslers Studie jedenfalls darin überlegen, daß er nicht einzelne Erlebnisse oder Personen aus dem Leben des Dichters in dessen Dichtungen zu identifizieren sucht, sondern wiederkehrende Konfliktkonstellationen. So fällt denn auch die in der Goethe-Forschung von Beginn an so beliebte Rückführung des "Werther" auf den autobiographischen Realitätsgehalt anders aus als gewöhnlich. Eissler hält es für sicher, daß Goethe den psychologischen Hintergrund seines Erfolgsromans verborgen hat und die Interpreten sich davon haben täuschen lassen. War es Zufall, daß er den "Werther" schrieb, nachdem seine Schwester wenige Monate vorher geheiratet hatte und als sie gerade schwanger war? Primärer Gegenstand des Romans ist der traumatische Verlust Cornelias. Werthers Rivale hat weit größere Ähnlichkeiten mit Schlosser, dem Schwager Goethes, als mit Kestner, dem Ehemann Lottes.
"Stella", das "Schauspiel für Liebende", interpretiert Eissler überzeugend als eine "Wunscherfüllungsphantasie". Daß Stella in dem Stück für Goethes Geliebte Lili steht, hat man wiederholt angemerkt. Aber Cäcilie Sommer? Sie ist Cornelia Schlosser nicht nur im Klang des Namens ähnlich. Der Konflikt eines Mannes, der von der Liebe zu zwei Frauen zerrissen wird, findet in dem Stück eine Lösung, die in der Realität von Goethes Leben nicht möglich war: "Stella ist Lili; die mit all den Eigenschaften ausgestattet ist, die er sich bei seiner Geliebten wünscht, und Cäcilie, die Mutter seines Kindes, bewahrt die schwesterliche Ergebenheit für ihn, ohne seine sinnliche Liebe zu Lili zu stören."
In der "Iphigenie" schließlich hat das Verhältnis zwischen Bruder und Schwester seine literarisch bedeutendste Entfaltung gefunden. In dem Dreieck Iphigenie -Thoas - Orest vermochte Goethe unterschiedliche Varianten seines Grundkonflikts auszuphantasieren. Iphigenie konnte sowohl für Cornelia stehen, die fern der Heimat einem ungeliebten Mann unterworfen war, als auch für Frau von Stein, die auf den in Weimar eintreffenden Goethe ihren heilsamen Einfluß ausübte. Thoas wiederum fungiert auch als Vater-Figur. Intensiver als in dem Drama verarbeitete Goethe seine Beziehung zum Vater allerdings im "Wilhelm Meister", dort vor allem in der Auseinandersetzung mit "Hamlet". Eissler schreibt dem Roman eine selbstanalytische Funktion zu.
Das sind nur Andeutungen von dem, was die Studie mit großer Ausführlichkeit darlegt. Abgesehen von manchen interpretatorischen Gewaltsamkeiten, die auch vor psychoanalytisch gewitzten Kalauern à la Arno Schmidt nicht zurückschrecken ("gen Italien" = "Genitalien"), ist an ihr vor allem die individualpsychologische Ausklammerung der kulturgeschichtlichen Zusammenhänge anfechtbar, in denen Goethes Leben und Werk stehen.
Zum Widerstand freilich provoziert in dem Buch anderes weit mehr. Daß zum Verständnis eines Kulturheroen wie Goethe seiner Sexualität oder zuweilen gar seinem Stuhlgang so viel Bedeutung beigemessen wird, muß mancher als respektlose Erniedrigung des Dichterfürsten und als Kränkung seiner Verehrer empfinden. Doch nichts weniger als das hatte Eissler mit seiner Studie im Sinn. Das aufwendige Werk verstand sich auch als eine Liebesbekundung, und sein erklärtes Ziel war es, das Genie der gewachsenen Zahl von Goethe-Kritikern wieder näherzubringen. Dazu ist das Buch in der Tat geeignet. Denn es vermittelt uns nicht das harmonisierte Bild des "gesunden" Klassikers, den man seit den siebziger Jahren gerne etwas abschätzig von "moderneren" Dichtergrößen wie Lenz, Kleist, Hölderlin oder Büchner abhebt. Denen steht er vielmehr näher, als wir oft glaubten.
Zur Politikgeschichte äußert sich der Autor kaum, und wo er es tut, gibt er sich als zutiefst konservativ zu erkenne, der die Französische Revolution, ähnlich wie Goethe, nur als destruktive Gewalt zu würdigen vermag und dem die jahrelange Versenkung in die vergangene Welt des Weimarer Herzogtums die Flucht aus einer unerfreulichen Gegenwart ermöglichte. Der Psychoanalytiker interessiert sich vornehmlich für Goethes Beziehungsgeschichten, die Wünsche und Ängste in dem Verhältnis zu seinen Eltern, Geschwistern, Freunden und Geliebten, interpretiert seine literarischen Phantasien vorrangig als Verarbeitungen psychischer Konflikte.
"Die Geschichte seines Sexuallebens", die der zweite Band geradezu peinlich genau zu rekonstruieren versucht, zeigt sehr eindringlich, daß "Goethe nur eine Frau von geringem sozialem Stand mit geringer Bildung und niederen Umgangsformen mit offener Sexualität lieben konnte. Wieviel an sexueller Leidenschaft in seinen Beziehungen zu anderen Frauen auch vorhanden gewesen sein mag, sie führte niemals zu einer genitalen Vereinigung." Daß er zu dieser erst in seinem 39. Lebensjahr überhaupt fähig wurde, daß er bis zu seiner befreienden Reise nach Italien an psychisch bedingter Impotenz zu leiden hatte, ist die These, die den spektakulären Charakter der Analysen ausmacht. Sie zerstören nämlich einen weiteren, von vielen Biographen überlieferten Goethe-Mythos: den vom Dichter der Liebe, der aus der Fülle eigener, ungehemmter Liebeserlebnisse schöpfen konnte. Goethe selbst hatte dafür mit "Dichtung und Wahrheit" die Hauptquelle geliefert. Für Eissler ist sie nur ein weiterer Beleg für die Richtigkeit seiner Vermutungen: "Wenn Goethe in späteren Jahren absichtlich oder unabsichtlich den Mythos seiner ausgiebigen genitalen Erfahrungen kultivierte, muß er über etwas in seinem Sexualleben tief beschämt gewesen sein."
Mit der gleichen Argumentation interpretiert er jenen "entscheidenden" Brief, den der Dichter am 16. Februar 1788 an den Herzog August schrieb und der zu einem zentralen Glied in der Indizienkette psychoanalytischer Beweisführung wird: "Ich könnte schon von einigen anmutigen Spazirgängen erzählen", bekannte Goethe hier kaum verschlüsselt. "So viel ist gewiß und haben Sie, als ein Doctor longe experientissimus, vollkommen recht, daß eine dergleichen mäßige Bewegung das Gemüth erfrischt und den Körper in ein köstliches Gleichgewicht bringt. Wie ich solches in meinem Leben mehr als einmal erfahren, dagegen auch die Unbequemlichkeit gespürt habe, wenn ich mich von dem breiten Wege, auf dem engen Pfad der Enthaltsamkeit und Sicherheit einleiten wollte."
Die Bemerkung, er habe die wohltuende Wirkung "mehr als einmal" in seinem Leben erfahren, scheint Eisslers These zu widerlegen. Doch kehrt der Interpret auch hier den manifesten Sinn der Mitteilung um. Statt "zum ersten Mal" schreibt Goethe "mehr als einmal", denn: "im Hinblick auf den phänomenalen Erfolg des Herzogs bei Frauen - und dessen vermutliches Prahlen damit - muß Goethe sein eigener gänzlicher Mangel an Erfahrung sehr peinlich gewesen sein".
Wann sind Goethes Mitteilungen authentisch, wann verbergen sie die Wahrheit? Wann sind seine literarischen Phantasien Widerspiegelung realer Erlebnisse, wann nur Ausdruck von Wünschen, die ihm in der Realität versagt blieben? Knapp ein halbes Jahr vor dem zitierten Brief an den Herzog hatte Goethe seinen "Egmont" abgeschlossen. Die Beziehung zwischen dem Grafen und Klärchen, dem Mädchen aus niederem Stand, zeigt nach Eissler einen erotisch gelockerten Goethe, einen anderen jedenfalls als den, der vorher in Weimar seinen Wilhelm der "Theatralischen Sendung" alle Kräfte gegen die Verführungen der erotisch ungehemmten Philine aufbieten läßt. Weist schon die Klärchen-Episode also auf ein entsprechendes "Erlebnis" in Italien? Keineswegs. Das Schreiben dieser Liebesszenen war nur das "innere Probehandeln einer vorweggenommenen heterosexuellen Beziehung und zugleich der Ausdruck ihres Akzeptierens."
Anders wiederum die "Römischen Elegien": daß jenes "sexuelle Abenteuer" mit Faustina, über das Goethe hier dichtete, "der Wahrheit entspricht, und nicht, wie so viele behauptet haben, eine poetische Umformung von Erlebnissen mit seiner Geliebten und späteren Frau Christiane Vulpius ist", hält Eissler für gesichert. Neben dem Briefwechsel mit dem Herzog liefert ihm vor allem die kaum beachtete Schrift des Italieners Carletta "Goethe a Roma" den Beweis. Denn sie bezeugt die Existenz einer verwitweten Wirtstochter namens Faustina, die damals in der Nachbarschaft Goethes wohnte. Doch was ist damit wirklich bewiesen und was ist mit dem Beweis gewonnen? Eissler gibt sich viel Mühe, das "Liebesabenteuer mit Faustina" nicht nur als das erste dieser Art in Goethes Leben glaubhaft zu machen, sondern auch möglichst genau zu datieren. Und er zieht daraus weitreichende und wahrhaft verblüffende Schlüsse.
Schon in den ersten sieben Kapiteln des zweiten Bandes hatte Eissler in einer langwierigen, sich vielfach verzettelnden und weit unter dem sonstigen Spannungsniveau liegenden Analyse des "Wilhelm Meister" zu zeigen versucht, wie Goethe durch die Krankheit und den Tod des Vaters zur literarischen Selbstanalyse und zur Aufarbeitung seiner ödipalen Konflikte angehalten wurde. Vor allem aus Wilhelms (und Goethes) Sympathie mit Hamlet liest der Psychoanalytiker eine Spur, die ihm zum Schlüssel für die Bedeutung der italienischen Reise in Goethes Leben führt.
Die These erscheint zunächst absurd, gewinnt jedoch am Ende des Buches ein erhebliches Maß an Plausibilität: Was für den lange zaudernden Hamlet der Auftrag des Vaters zur rächenden Tat, das war für den zögernden Goethe der Wunsch des toten Vaters, seinen Sohn endlich auf jener Reise nach Italien zu wissen, die das Hauptereignis in seinem eigenen Leben war und die der Sohn mit seiner Entscheidung für Weimar so ungebührlich lange aufgeschoben hatte. Es ist frappierend, mit Eissler anhand zahlreicher Dokumente zu verfolgen, wie sehr sich Goethe in Italien mit seinem Vater identifizierte, wahrscheinlich sogar bis hin zu seinem Sexualverhalten. Im Januar 1788, als Goethes Verhältnis zu Faustina begann, war er fast genau in dem Alter, in dem sein Vater heiratete.
Eisslers psychoanalytische Phantasie baut darauf weitere, immer gewagtere Vermutungen. Eine Spekulation stützt die andere, und alle zusammen ergeben ein biographisches Konstrukt, das in schwindelnde Höhen reicht und stets vom Einsturz bedroht scheint. Goethes Einzug in Rom die symbolische Inbesitznahme der Mutter? Der Affekt gegen Newton nur der Haß auf einen Vater, der dem Licht, das heißt der reinen Mutter, Gewalt anzutun versucht? Die Farbenlehre eine "fixe Idee", Symptom einer partiellen Psychose? Zu den kühnsten, wenn auch wieder ausführlich begründeten Thesen gehört die über den Charakter von Goethes Sexualstörung, deren Heilung die moralisch rigorose Frau von Stein mit bewirkt haben soll, indem sie seine rasche Übererregbarkeit zu disziplinieren half.
Potentielle Kritik unterläuft Eissler mit ständigen Gesten sympathischer Bescheidenheit. Er selbst nennt seine Thesen "sehr anfechtbar" oder sogar "phantastisch", beruft sich nicht auf die unumstößliche Autorität professionellen Wissens, sondern auf sein "Gefühl", leitet neue Schlußfolgerungen immer wieder mit der vorsichtigen Einschränkung ein: "Wenn meine Hypothese korrekt ist..." Vielleicht am deutlichsten zeigen sich indes seine Selbstzweifel am Umfang des Buches. Weil all sein Beweismaterial nicht schlüssig genug ist, häuft er immer neues hinzu. Die Analyse findet nur schwer ein Ende. Nach 1300 Seiten folgen weitere 350 als Anhang mit 26 "Nachträgen", "Bemerkungen", "Notizen" und "Kommentaren".
Oder deutet der gewaltige Umfang auf ein ganz anderes Problem, auf eines, das der Psychoanalyse unter dem Begriff der "Gegenübertragung" vertraut ist, das Eissler indes beharrlich ausklammert? Was hat er an eigenen Konflikten in die Analyse hineingetragen? Wieweit macht der Biograph, wie Freud verallgemeinerte, seinen Helden zu einer Vaterfigur, die er zugleich idealisiert und erniedrigt? Was hat Eissler dazu motiviert, eine derart gigantische Schrift vorzulegen, die nicht nur eine Autorität deutscher Kultur weit besser zu verstehen beansprucht, als diese sich selbst verstehen konnte, sondern gleichzeitig auch noch die Goethe-Studien des Vaters der Psychoanalyse in den Schatten stellt?
Und wie schließlich erklärt sich die latente Sexualfeindlichkeit, die sich hinter der so offenen Sprache über Sexualität verbirgt? In den "Römischen Elegien" malte Goethe mit knapp drei Versen die Idee einer Einheit von erotischer Freiheit und künstlerischer Kreativität aus: "Oftmals hab´ ich auch schon in ihren Armen gedichtet/ Und des Hexameters Maß leise mit fingernder Hand/ Ihr auf den Rücken gezählt." Eissler hält von dieser Einheit offensichtlich wenig: "Man braucht bloß die `Römischen Elegien´ mit den für Marianne Willemer, einer Frau, die Goethe niemals sexuell besessen hat, geschriebenen Gedichten zu vergleichen. Die `Elegien´ sind schön, aber diese Art von Dichtung hätte Goethe niemals zu dem Dichter gemacht, der er war." Die entsagungsvolle Arbeit, die Eissler auf sich genommen hat, um die sexuelle Gehemmtheit des von ihm verehrten Genies nachzuweisen, scheint letztlich der Bestätigung vor allem einer These zu dienen: daß nämlich geniale Schöpfungen und große Kulturleistungen sich der Umlenkung unbefriedigter Triebenergien verdanken.
Freud bemerkt einmal, daß seine Krankengeschichten "wie Novellen zu lesen sind". Eisslers biographische Novellen überlassen dem Leser die Entscheidung, was er als Dichtung und was er als Wahrheit über Goethe annehmen will. Obwohl die ausgiebig zitierten Dokumente nicht erfunden sind, könnte alles auch ganz anders gewesen sein. Das macht den Reiz dieser Studie aus. Sie versteht es, den Blick auf Goethe und sein Werk in oft überraschende Richtungen zu lenken. Und sie eröffnet dabei Perspektiven über den Zusammenhang von Literatur und Leben, die von Literaturwissenschaftlern lange vernachlässigt wurden.