Pippi Langstrumpf feiert Geburtstag

„Pippi Langstrumpf. Heldin, Ikone, Freundin“ und „Alle Abenteuer in einem Band“ sind umfassende Buchgeschenke für die Fangemeinde

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf – ihre Abenteuer sind inzwischen in 77 Sprachen übersetzt worden und vor kurzem, am 21. Mai 2020, hat sie ihren 75. Geburtstag gefeiert. Genau genommen ist es der Geburtstag von Astrid Lindgrens Tochter Karin Nyman. Sie ist die Namensgeberin der Figur, deren Abenteuer ihre Mutter erfand und die sie ihr bereits ab dem Jahre 1941 erzählte. Zu ihrem 10. Geburtstag 1944 erhielt Karin ein maschinengeschriebenes Manuskript des ersten Pippi-Bandes, im Nachhinein als Ur-Pippi tituliert. Da diese Ausgabe beim Bonnier-Verlag, dem sie zur Begutachtung vorgelegt wurde, auf Ablehnung stieß, konnte die eigentliche Erstausgabe der nun umgeschriebenen Pippi Langstrumpf nicht vor dem 1. September 1945 erscheinen.

Am Ende dieses ersten Bandes ihrer Abenteuer feiert Pippi mit Annika und Tommy ausgelassen ihren Geburtstag und, so bemerkt sie, zu diesem Anlass könne sie ja wohl auch ihren Freunden etwas schenken. „Oder steht irgendwo in euren Schulbüchern, dass man das nicht kann? Hat das etwas mit Plutimikation zu tun, weshalb es nicht geht?“. Aber klar doch geht es, und zu Pippis 75. Geburtstag hat sich das der Oetinger Verlag nicht zweimal sagen lassen. Sieht man von Nonbook-Artikeln und Neuausgaben von Bilderbüchern mit einzelnen Pippi Langstrumpf-Geschichten ab, so fallen Pippi Langstrumpf. Alle Abenteuer in einem Band ins Auge, des Weiteren eine groß angelegte Hommage an Pippi mit einem Coffee Table Book, das in erster Linie LeserInnen jenseits des Kindheitsalters ansprechen dürfte: Pippi Langstrumpf. Heldin. Ikone. Freundin.

Die Neuausgabe, Pippi Langstrumpf. Alle Abenteuer in einem Band mit den Bildern von Katrin Engelking anzuschauen und zu lesen, lohnt sich aus mehreren Gründen. Viele Erwachsene haben eine verfälschte Erinnerung an die Heldin, eine audiovisuell überlagerte, in der manch eine/r z.B. die berühmte „Prusseliese“ oder Konrad mit seinem Spezialkleber sowie den Flug im Auto aus dem Film Pippi außer Rand und Band im Buch wähnt. Die „Prusseliese“ hat ein Modell in der Ur-Pippi, Fräulein Blomkvist, während Konrad, das fliegende Auto und viele weitere Szenen lediglich in den Filmversionen mit Inger Nilsson vorkommen. Weitaus bedeutender als diese Unterschiede zu registrieren ist es, jene Episoden aus den Abenteuern zu fokussieren, die den Charakter der semi-fantastischen Heldin illustrieren und die darüber hinaus demonstrieren, dass Astrid Lindgren Abenteuergeschichten für „alle Alter“, alle Nationen und alle Zeiten erzählt. Nach Peter Pan ist Pippi das „ewige Kind“, gleichzeitig starke, resiliente, emanzipierte junge Erwachsene mit Rebellionspotenzial und, alles zusammengenommen, ein „edler Mensch“ im humanistischen und klassischen Sinn. Pippi wächst über ihr neunjähriges Ich hinaus, als „Kind des Jahrhunderts im Jahrhundert des Kindes“ avanciert sie zur Botschafterin einer affektiv multiplexen und altersunabhängigen Kindheit.

Mit einnehmender Fröhlichkeit setzt sich Pippi über alle Regularien hinweg, sie braucht nicht zur Schule zu gehen, weil sie, so wie sie selbst sagt, bereits genug Weisheit besitze. Sehr klug nutzt sie diese, wenn es auch noch so sehr am Schreiben und Rechnen hapert, für ein pädagogisches Anti-Programm, in dem Wörter verballhornt oder gleich neu erfunden werden – so der weltberühmte „Spunk“, für den sich die Kinder auf semasiologische Spurensuche begeben müssen.

Nicht nur auf der Insel Taka Tuka, sondern zuvor auf einem Schulausflug, bei dem sich die Lehrerin zurückzieht, gleich ein ganzes Buch liest und die Kinder einfach machen lässt, kommt Pippis Edutainment-Kompetenz einer ganzen Kinderschar zugute. Auf der Südseeinsel ist Pippi, so wie Peter Pan in Nimmerland, die Impulsgeberin für alle Kinder der Insel, ihre Spiele, wie „Sachen suchen“ oder „nicht den Boden berühren“ sind interkulturell und partizipativ. Es erstaunt kaum, dass Pippi, Annika und Tommy nach ihrer Rückkehr in die „kleine, kleine Stadt“, in die Pippi nicht wie Mary Poppins „hineingeweht“, sondern „hineingespült“ kam, der Kindheit frönen: „Liebe kleine Krummulus – niemals will ich werden gruß“. Astrid Lindgren ist nicht die Einzige, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts das epigonal romantische Ideal einer unbeschwerten, unverbildeten, unbelasteten, naturnahen und insbesondere imaginativ-ursprünglichen Kindheit in ihre Werke einfließen lässt, ein Ideal, das fundamental mit der politischen Realität rundum kollidiert. Pippi Langstrumpf ist unter anderem vergleichbar mit Antoine de Saint-Exupérys Der kleine Prinz, dem eine ähnliche Breitenwirkung beschieden war (und ist).

Doch das stärkste Mädchen der Welt ist auch schon erwachsen – in Analogie zum Topos des „puer senex“ könnte man sie eine „puella senis“ nennen. Die Wirkung ihrer Taten ist grandios. Unter ihren Gleichaltrigen verschafft sie sich schnell Respekt, als sie dem kleinen Ville hilft, der gerade verprügelt wird. Zum Sprachrohr ihrer Autorin mutiert sie spätestens dann, wenn sie im Zirkus den stärksten Mann der Welt, der ausgerechnet Adolf heißt, besiegt. Auch das Kaffeekränzchen bei Settergrens spricht Bände, verhält sich Pippi doch diametral zu der Erwartungshaltung, die auf ihr ruht. Nach ihrem militärisch akzentuierten und entsprechend parodistischen Auftritt stopft sie Unmengen von Kuchen in sich hinein und erzählt hanebüchene Geschichten vom Dienstmädchen ihrer Großmutter als Kontrastprogramm zu den „feinen Damen“, die sich über ihre Hausangestellten aufregen. Zweifelsohne offenbart sich damit die Signatur einer Autorin, die in einem Land mit scharf markierten sozialen Grenzen lebte.

Sehr bezeichnend ist ebenso die Regierungsweise des Kapitäns Langstrumpf, des „Südseekönigs“, der seinen Untertanen am Samstag etwas vorlügt, wenn sie sich die Woche über gut betragen haben. Manchmal gebe es sogar einen „kleinen Lügen- und Singabend“, bei dem sich die Untertanen mit Trommelschlagen vergnügten. Diese Parodie auf die Paraden aller Royalen tritt allerdings ein bisschen in den Hintergrund, denn Pippi entgegnet, dass sie sich in ihrer Einsamkeit „die Hucke so voll“ löge, dass es „eine Freude“ sei, „das anzuhören“. Hier schwingt Pippis melancholischer Zug mit, denn sie ist auch ab und an ein trauriges Kind, das aber – entscheidender Vorteil gegenüber anderen – so resilient ist, dass es sich selbst wieder aufheitern kann. Pippi endet, sehr bezeichnend, mit Pippis träumerisch-nachdenklichem Blick – und mit der Versicherung, immer in der Villa Kunterbunt zu bleiben.

Alle Texte aus Pippi Langstrumpf. Alle Abenteuer in einem Band kommen sprachlich purifiziert daher. Vor einigen Jahren bereits schlugen die Wogen der Diskussion hoch angesichts der Frage, ob man „Negerkönig“ und „Negerprinzessin“ so einfach durch „Südseekönig“ und „Südseeprinzessin“ ersetzen könne. Dass die diskriminierenden „N*-Wörter“ nicht mehr opportun sind, versteht sich zwar von selbst, aber nichtsdestoweniger greift man in den Originaltext ein, was nicht unkommentiert bleiben sollte. Hinzu kommt die Frage, wie weit man mit den Substitutionen gehen muss. Wie sieht es mit den „Eingeborenen“ aus? Wie mit „Chinese“? Beide Begriffe stehen noch im Text. Neben der Streichung der erwähnten Dysphemismen und der Modernisierung der Rechtschreibung fallen zusätzlich, vergleicht man mit früheren Ausgaben, viele kleinere lexikalische Modifikationen auf, deren Sinn sich nicht erschließt.

Die redaktionellen Eingriffe sind – wohl berechtigterweise – dem schwedischen Original zu schulden, resultieren aber fast in einer Neuübersetzung. „Außerhalb der kleinen, kleinen Stadt“ ist in der Neuausgabe „Am Rand der kleinen, kleinen Stadt“ gewichen. Heinig übersetzt: „Sie hatte keine Mutter und keinen Vater“, nun heißt es: „Sie hatte keine Mama und keinen Papa“. Im dritten Kapitel von Pippi in Taka-Tuka-Land „sagte Pippi träumerisch, ‚denkt bloß, daß ich das gefunden habe! Gerade ich und niemand anders!‘“. Nun sagt sie „verträumt, ‚stellt euch bloß mal vor, dass es mir eingefallen ist! Gerade mir und niemand anders!‘“. Während sie in der Ausgabe von 1949 das funkelnagelneue Wort „findet“, in diesem Kontext ein Verb prall gefüllt mit Poesie, fällt es ihr im neuen Text einfach nur ein. Hunderte von solchen Änderungen, die leider bar jeder editorischen Notiz vorgenommen worden sind, ließen sich identifizieren.

Die unterschiedlichen Stadien des Texts gehen mit mindestens ebensolch divergenten Illustrationen einher. Es ist sehr charmant, dass die kleinen Büchlein mit berühmtem farbigem Cover und Schwarz-Weiß-Illustrationen von Walter Scharnweber nach wie vor auf dem Markt sind. In ihrer Ökonomie und Reduziertheit sind diese Abbildungen vielleicht mehr als andere geeignet, die Fantasie der LeserInnen zu beflügeln Zu den ersten deutschen Illustrationen gesellte sich später die Bebilderung von Rolf Rettich in einer Ausgabe, die ebenfalls noch erhältlich ist. Besonders zu begrüßen ist jedoch, dass anlässlich des Geburtstages drei Bände mit den Original-Illustrationen von Ingrid Vang Nyman erschienen sind, denn die Künstlerin war ihrer Zeit weit voraus und gestaltete eine Pippi, die Astrid Lindgrens Vorstellungen perfekt entsprach. 1949 waren ihre Zeichnungen dem Oetinger Verlag zu modern.

Nicht bestreiten lässt sich, dass Pippi in all ihrer Lebendigkeit und Polyvalenz jede Menge Gestaltungsspielraum eröffnet. Katrin Engelkings Pippi, neueste ikonografische Fassung, ähnelt einerseits zwar der ersten Pippi-Skizze, von Astrid Lindgren selbst auf dem Manuskript der Ur-Pippi angefertigt, andererseits und vor allem jedoch ist sie an physische Idealvorstellungen des 21. Jahrhunderts adaptiert worden. In einem farbenprächtigen Umfeld, insbesondere in und um eine/r traumhafte/n Villa Kunterbunt, wuselt eine Pippi herum, die etwas zu gekünstelt lacht und sehr dünn geworden ist – „verschlankt, geglättet und zur Niedlichkeit verdammt“. So Stefanie Flamm, die dieser und anderen neuen Abbildungen „Widersinn“ bescheinigt, denn

seit Jahren schon werden Pippi, Ronja, Friederike, das Sams als Vorbilder für aufmüpfiges und unangepasstes Verhalten herumgereicht […] deutsche Eltern wünschen sich Kinder, die so wild und frei sind wie die Helden ihrer Bücher. Oder glauben sie das nur? Fürchten sie sich womöglich davor, dass ihre Kinder tatsächlich so werden, und sind deshalb insgeheim beruhigt, wenn selbst die crazy Pippi jetzt aussieht wie eine höhere Tochter am Casual Friday?
(Stefanie Flamm: Büüüargh!. In: Die Zeit 3/2018)

Der „Widersinn“ dräut bei Pippi zwischen Bild und Text, denn letzterer straft die Model-Pippi Lügen und die Ansätze zur „feinen Dame“, als Pippi im weiblichen Outfit bei Settergrens „kaffeeklatscht“ oder sich für den Jahrmarkt in Schale wirft, werden immer ad absurdum geführt. In puncto Text sollte man vielleicht jeder Neuausgabe als wirkmächtiges Substrat die Ur-Pippi beigeben, die in mancherlei Hinsicht anarchischer und innovativer als die allseits bekannte Pippi ist. Immerhin: die einzige deutsche Ausgabe mit einem vorzüglichen Nachwort von Ulla Lundqvist ist noch zu haben (Ur-Pippi. Hamburg: Oetinger, 2007).

Der DIN-A-4-Band Pippi Langstrumpf. Heldin. Ikone. Freundin versammelt in fünf großen Kapiteln unterschiedliche Perspektiven auf das Mega-Mädchen. Im ersten Kapitel, Wie Pippi geboren wurde, kommen Karin Nyman, Lena Törnqvist, erste Direktorin des Astrid-Lindgren-Museums in Näs, und Astrid Lindgren selbst zu Wort. Neben Auszügen aus der Korrespondenz mit dem Verlag wird Lindgrens eigene Version der Genese von Pippi Langstrumpf nachgedruckt: die Erzählung Der Räuber Assar Bubla. Ein Highlight des ersten Kapitels bildet der Beitrag von Per Svensson, Die Geburt einer Superheldin in Zeiten des Krieges: Detailliert führt er die Verwandtschaft zwischen Pippi und Superman aus. Genau wie Superman sei Pippi ein Outsider, „in der kleinen Stadt die Einzige ihrer Art – ein merkwürdiges Kind“.

Kapitel zwei ist ohne jeden Zweifel das wichtigste, geht es doch hier um „das Revolutionäre an Pippi Langstrumpf“. Den Reigen der Analysen dazu führt die Skandinavistin Angelika Nix an, die mit großer Sachkenntnis darlegt, dass die Pippi-Romane auch eine Parodie auf die in Schweden beliebten „Tanten-Bücher“ seien und man den „entfesselten Bewegungsdrang“ Pippis als Attacke auf die zeitgenössische Kinderliteratur deuten könne. „Pippis wilde Erscheinung“ fordere „die Klischees der Mädchenbücher heraus“, z.B. „Reihen wie Trotzkopf oder Anne auf Green Gables“. Björn Ulvaeus von ABBA, die Schauspielerinnen Alicia Vikander sowie Marie Bäumer tragen lesenswerte Erinnerungen bei, bevor Barbara Vinken mit Ein wandelnder Aufstand nicht zuletzt die Kaffeekränzchen-Episode aus dem ersten Pippi Langstrumpf-Band einer genaueren Betrachtung unterzieht. Der folgende Artikel, Pippi – die Sprachrebellin mit der spitzen Zunge, ist immens aufschlussreich, denn die Sprachwissenschaftlerin Lena Lind Palicki zeigt mit Brillanz, dass „Pippi Langstrumpf das wohl wichtigste Puzzleteil für den sprachlichen Paradigmenwechsel“ im Schwedischen war. Pippi verstoße zudem „gegen etablierte Gesprächsregeln“, wenn sie etwa auf rhetorische Fragen antworte („Leiden Sie unter Sommersprossen?“ – „Nein“) oder Aussagen buchstäblich nehme („Ich habe schon einen Platz im Kinderheim […] Ich bin ein Kind und das hier ist mein Heim, also ist es ein Kinderheim. Und Platz habe ich hier. Reichlich Platz“).

Wie facettenreich die Rezeption der Romane in Deutschland war, steht im nächsten Kapitel im Zentrum. So berichtet Friedrich Oetinger von seiner ersten Begegnung mit Astrid Lindgren, seine Tochter Silke Weitendorf, erste Leserin in Deutschland, resümiert ihre Begeisterung und räumt dabei ein, dass manche Eltern ihrer Freundinnen eine ablehnende Haltung gegenüber den Büchern entwickelt hätten. „Pippi verabreicht ein Lebenselixier“ – so die Kinderbuch-Expertin Monika Osberghaus. Mit Pippi treibe Astrid Lindgren „die beiden Seiten ihres Schreibens – das ausgelassene, freche Glücksgefühl einerseits und die Einsamkeit und Melancholie andererseits – auf die Spitze, während sie sie in den späteren Werken auseinanderdriften“ lasse.

Wie kompliziert es in der DDR war, Pippi erscheinen zu lassen, sogar stark verkürzt, erläutert Caroline Roeder (Die Lindgren’schen Tücken und Attacken abzuschmecken). Ein Interview mit Katrin Engelking, Reflexionen zu Pippi Langstrumpf auf der Bühne von Christian Schönfelder, Autor und Dramaturg, im Gespräch mit seiner Lektorin Juliane Lachenmayer, sowie Texte zu Pippi von Eva Mattes, Pippis deutscher Synchronstimme, Cornelia Funke, Heike Makatsch, Kirsten Boie, Wolf Erlbruch und Harry Rowohlt runden das Kapitel ab. Gewürzt ist es außerdem mit Abbildungen der Buchcover im Wandel der Zeit und vor allem mit kurzen Zitaten und Bildern von deutschen Pippi-Fans im Alter von 5-12.

Den weitesten Bogen spannt Kapitel 4, Pippi international, in dem sich die disparatesten Ausgaben ein Stelldichein geben. Lena Törnqvist würdigt knapp Ingrid Vang Nymans Pippi-Illustrationen und lässt danach verschiedene Übersetzungen Revue passieren, indem sie demonstriert, wie die Anpassung an die jeweilige Zielsprache erfolgte. Die deutsche Übersetzung, nun endlich erwähnt das mal jemand, sei „inzwischen mehrfach redigiert und in fast allen Punkten an das schwedische Original angepasst worden“. Astrid Lindgren sei „die unsichtbare Hauptperson“ in all ihren Büchern – das diagnostiziert Henning Mankell. Svenja Blume, Literaturwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur, erklärt, weshalb Pippis Ausflüge in die französische Kinderliteratur eine „Irrfahrt“ waren. Vor der französischen Neuausgabe 1995 seien viele Stellen, hauptsächlich solche mit Pippis Wortwitz, geglättet worden und Pippi habe nur ein Pony, aber kein Pferd heben dürfen. Dem Erfolg von Pippi in Südafrika geht der ehemalige Präsident des Germanistenverbandes im südlichen Afrika, Rolf Annas, nach, die estnische Kinderbuchlektorin Mare Müürsepp apostrophiert Pippi als „estnische Nationalheldin“, die für Esten „vor allem Werte wie die Weisheit des Herzens und die Wärme der Seele“ repräsentiere.

Von den Höhen und Tiefen der Pippi-Verfilmungen, insbesondere von den dreizehn halbstündigen Folgen für das Fernsehen mit Roman-Episoden der ersten beiden Bände, von Astrid Lindgren selbst ausgeschmückt, weiß Johan Erséus, Journalist, Übersetzer und Autor, spannend zu referieren. 8.000 Mädchen hatten sich für die Rolle der Pippi beworben, doch Inger Nilsson war die Einzige, die nicht nur als Typ, sondern auch vor der Kamera überzeugte. Die Deutsche Margot Trooger, die Fräulein Prysselius, von Lindgren autorisierte Figur, spielte, irritierte nicht selten mit affektierter Mimik und war nicht immer nüchtern. Inger Nilssons Rede auf der Trauerfeier für Astrid Lindgren 2002 (Danke, dass ich Pippi sein durfte), „eine Begegnung mit Inger Nilsson in Stockholm“ (Unverkennbar: Pippi), auf die Jacqueline Schärli Bezug nimmt, und ein Zitat Michelle Obamas zu Pippi Langstrumpf beenden Kapitel 4.

Pippi als Statement, Kapitel 5, startet mit einem regelrechten Kuriositätenkabinett – mit der Abbildung von Tattoos, mit einer Pippi, die „unter die Haut“ geht. Der Journalist Daniel Björk bescheinigt der Heldin eine „punkige Urkraft“, denn sie symbolisiere die „perfekte Modemuse“ in einer regelfreien Welt. In Regenbogensocken für Pippi schildert die Schriftstellerin Karen-Susan Fessel, wie sie Pippi als Identifikationsfigur erlebte. Zwar trüge Pippi heute, erfände man sie neu, „Regenbogensocken“, „aber auch mit Ringelsocken und stark gealtert“ sei sie „eine feministische Heldin und queere Identifikationsfigur“. Pippis emanzipatorische Aspekte, Pippi als „feministische Ikone“, betonen ebenso die verstorbene Vivi Edström, ehemals Professorin für Literaturwissenschaft, sowie die Autorinnen Charlotte Kerner (Die erste Mädchen-Emanze, der ich begegnet bin), Eva Menasse (Kein geducktes Leben führen), Ulrike Draesner (Mutig – und dumm) und Nora Bossong (Selbstbestimmt und allein). Der Vergleich Greta Thunbergs mit Pippi Langstrumpf und einige Street-Art-Beispiele (Pippi setzt Zeichen) komplettieren das schillernde Kapitel.

Genauso bunt ist der gesamte Band, der nicht nur mit den aufgeführten Beiträgen, sondern auch mit großformatigen Abbildungen, generös auf eine Seite gedruckten Zitaten aus den Pippi-Büchern und „Fun-Facts“ am Seitenrand punktet. Allein bei den bibliografischen Hinweisen dürfte man sich ein (noch) exakteres Vorgehen wünschen, im Speziellen den einen oder anderen Hinweis mehr zu Weblinks und Printmedien. Nicht nachvollziehbar ist es, dass beispielsweise die wertvolle Dissertation von Angelika Nix (Das Kind des Jahrhunderts im Jahrhundert des Kindes) keine Berücksichtigung findet.

Kaum ein anderer Held oder eine andere Heldin hat solch triumphale Erfolge erlebt und eine solch durchschlagende Wirkung in der internationalen Kinder- und Jugendliteratur entfaltet. Dies zelebriert der vorliegende Band mit einem gut gelungenen Mix aus journalistischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Stimmen, deren Konzertieren die überzeitliche Wertigkeit Pippis als ewiges Kind, „Mädchen-Emanze“ und edler Mensch glasklar hervortreten lässt. So ist eine kaleidoskopartige Wundertüte entstanden, ein Bilderbuch für Erwachsene, an dessen Abbildungen sich auch schon Kinder ergötzen können.

Titelbild

Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf. Heldin, Ikone, Freundin.
Oetinger Verlag, Hamburg 2020.
224 Seiten, 30,00 EUR.
ISBN-13: 9783789113451

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Titelbild

Astrid Lindgren: Pippi Langstrumpf. Alle Abenteuer in einem Band.
Oetinger Verlag, Hamburg 2020.
400 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783789114502

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