Vergnügliches Scheitern

In „Fielding Gray“ zerlegt Simon Raven genüsslich die Zukunftspläne eines englischen Überfliegers

Von Steffen KrautzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Krautzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich stimmen die Voraussetzungen. Der junge Engländer Fielding Gray, Titelheld und Ich-Erzähler des 1967 in einem Londoner Verlag veröffentlichten Romans von Simon Raven, bringt alles mit für den Start einer glänzenden Karriere: einen hervorragenden Notendurchschnitt an einer Privatschule, sportliche Bestleistungen, blendendes Aussehen plus vermögendes Elternhaus. Noch dazu setzt die Handlung direkt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein und der zukünftige obligatorische Militärdienst scheint von nun an etwas weniger lebensgefährlich. Doch dann kommt alles ganz anders, sorgt eine Liebesaffäre mit einem jüngeren Mitschüler für dramatische Verwicklungen. Und während Fielding sein Leben immer mehr entgleitet, entfaltet sich der Roman zu einer umfassenden und bissigen Kritik an der englischen Nachkriegsgesellschaft.

Dem Berliner Elfenbein Verlag ist die erste deutsche Übersetzung von Fielding Gray zu verdanken; ganze 53 Jahre nach der Erstveröffentlichung! Das Buch bildet den Auftakt zum zehnteiligen Romanzyklus Almosen fürs Vergessen, obwohl es bei Erscheinen in Großbritannien der vierte Band einer Reihe war. Im aufschlussreichen Nachwort erläutert Übersetzerin Sabine Franke, dass die Romanhandlung von Fielding Gray chronologisch am Beginn der Serie steht und man sich daher für diese Veröffentlichungsreihenfolge entschieden hat. Doch alle Bücher sind auch einzeln oder in unterschiedlicher Chronologie lesbar, da jeder Titel einen anderen thematischen Schwerpunkt hat. Nach dem Abschluss des zwölfbändigen Romanzyklus Ein Tanz zur Musik der Zeit von Anthony Powell im Jahr 2018, ebenfalls ein Sittenbild der englischen Gesellschaft, nimmt der Verlag nun also ein weiteres Großprojekt in Angriff. Fielding Gray ist dabei ein so gelungener Start, dass man gar nicht anders kann, als ungeduldig auf den für diesen Herbst angekündigten zweiten Band Die Säbelschwadron zu warten. Laut Editionsplan soll die Serie dann im Herbst 2024 mit dem letzten Teil abgeschlossen werden.

Simon Raven nutzt in Fielding Gray eine clever konstruierte Rahmenhandlung und lässt den Helden die eigene Geschichte erzählen. Vierzehn Jahre nach den richtungsweisenden Ereignissen im Sommer 1945 sortiert Fielding auf Bitte eines Verlegers seine Tagebuchaufzeichnungen, um einen Roman zu schreiben. Hin und wieder meldet er sich aus späterer Perspektive zu Wort und fasst Ereignisse zusammen. Daneben werden Briefe und Telegramme einiger für die Handlung wichtiger Personen eingeflochten. Die erwähnte Liaison mit dem Mitschüler Christopher steht im Mittelpunkt. Doch verblassen gängige Elemente hetero- und homosexueller Liebeserzählungen wie Verliebtsein, Geheimnistuerei oder der erste Kuss schnell angesichts der weitreichenden Komplikationen, die diese Beziehung in Fieldings Umfeld verursacht. Nicht nur warnt Fieldings bester Freund Peter vor den Konsequenzen; Somerset, ein anderer Mitschüler, wittert seine Chance auf eigenen Vorteil und will Fielding erpressen. Für diesen ist die Beziehung zu Christopher hingegen gar nichts Ernstes, der Roman auch keine Coming-Out-Geschichte im klassischen Sinne, eher eine dramatische Coming-of-Age-Story. Dass Fieldings Eltern nicht mit dem Wunsch ihres Sohnes einverstanden sind, in Cambridge Alte Sprachen zu studieren, oder dass er sich auf dem Jahrmarkt mit einem Mädchen vergnügt, verkompliziert sein Leben auf der einen und vergrößert das Lesevergnügen auf der anderen Seite.

Die unterschiedlichen Handlungsstränge sind voller überraschender Wendungen und plötzlich gewinnt Fielding unsere Sympathien, obwohl er doch eigentlich der oberflächliche, erfolgreiche Schulliebling und Überflieger ist, dem bislang alles in den Schoß fiel. Manch eine Verwicklung hat regelrecht Soap-Charakter und trotz einiger vorhersehbarer Vorausdeutungen steigert sich die Spannung langsam aber stetig. Wenn Fielding zum Beispiel ein ihm gewidmetes Foto Christophers im Schrank versteckt, während er andere Briefe vernichtet, ist klar, dass das Bild später von jemandem gefunden und gegen ihn verwendet werden wird.

England-Fans kommen bei den Versuchen, die zahlreichen Hürden möglichst schnell zu überwinden, nicht zu kurz: So sind wir bei einer Partie der englischen Nationalsportart Cricket dabei, besuchen im Regen alte Grabmäler und die Kathedrale von Salisbury, erhalten besondere, oft ernüchternde Einblicke in Kirche, Schulwesen und Militär. Die Beschreibungen der Szenen sind filmisch aufgebaut, etwa werden die Teilnehmer eines Gottesdienstes abwechselnd in der Totalen und dann wieder reihum in Nahaufnahme dargestellt. Im gesamten Roman jedoch stehen die spöttischen Gedanken Fieldings oder die pointierten Dialoge mit Freunden, Lehrern oder Eltern im Vordergrund.

Motivisch lassen sich Parallelen zu den etwas älteren Romanen Maurice (1913–14, erst 1971 posthum veröffentlicht) von E. M. Forster und Wiedersehen mit Brideshead (1945) von Evelyn Waugh ziehen. Sabine Franke zitiert einen Leser, der Fielding Gray „die schmutzige Version von Brideshead“ genannt hat. Das bezieht sich nicht nur auf die erotischen Abenteuer, sondern auch auf den unvorteilhaften Eindruck, den die englischen Oberschicht insgesamt hier macht. Auch in den Büchern des zeitgenössischen Autors Alan Hollinghurst Die Schwimmbadbibliothek (1988) und Die Sparsholt-Affäre (2017) werden anhand homosexueller Plots grundlegende Fragen nach dem Umgang der Gesellschaft mit dem Anderen thematisiert. Egal in welchem Jahrzehnt, überall tun sich in den genannten Werken tiefe menschliche Abgründe auf.

1995 sammelten die amerikanischen Filmemacher Rob Epstein und Jeffrey Friedman in ihrer Dokumentation The Celluloid Closet Gefangen in der Traumfabrik eine große Zahl von offenen und versteckten queeren Charakteren der Filmgeschichte. Eins der gängigen, immer wieder reproduzierten Vorurteile in Hollywood-Filmen war viele Jahrzehnte, dass es kein Happy End für schwule oder lesbische Beziehungen geben kann. Bis auf wenige Ausnahmen, etwa Forsters Maurice, galt das lange auch in der Literaturgeschichte. So ist zwar die Beziehung zu Christopher von Anfang an zum Scheitern verurteilt, doch die Verknüpfung von Fieldings eigenem Absturz mit seiner Haltung zu Christopher bricht immerhin mit der Standard-Erzählung und ist ein winziger Hoffnungsschimmer zwischen all den Intrigen, Gerüchten und Diskriminierungen. Mit dem neuen Tutor Major Constable taucht nämlich eine progressivere Figur auf, die eine schwule Affäre im Stillen vielleicht akzeptiert hätte, nicht aber Fieldings rücksichtsloses, egoistisches Verhalten. Fieldings Freund Peter, der von Anfang alles beobachtet hatte, sieht das ähnlich und so gibt es Gegenpositionen zur vorherrschenden Homophobie, die schließlich schuld an Christophers Schicksal ist.

Aus heutiger Sicht sind Vorurteile, wie etwa jenes des Schulrektors, Homosexualität wäre wie eine Krankheit übertragbar, kaum mehr nachzuvollziehen. Dass der Roman, in dem der Autor reale Erlebnisse verarbeitet, keine heile Welt vorgaukelt, sondern den gesellschaftlichen Konsens und seine mitunter brutalen Folgen offen thematisiert, macht ihn trotz aller Konstruiertheit zu einem realistischen Zeugnis seiner Zeit. Und auch wenn hinter der gesamten Geschichte eine ausgeklügelte Dramaturgie steckt; so amüsant wie hier ist ein Held selten gescheitert.

Titelbild

Simon Raven: Fielding Gray. Roman.
Aus dem Englischen von Sabine Franke.
Elfenbein Verlag, Berlin 2020.
261 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783961600137

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