Der Altmeister und Magier phantastischer Geschichten

Zum 100. Geburtstag von Ray Bradbury

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es war eine Lust, Feuer zu legen.
Es war eine eigene Lust, zu sehen, wie etwas verzehrt wurde, wie es schwarz und zu etwas anderem wurde. Das gelbe Strahlrohr in der Hand, die Mündung dieser mächtigen Schlange, die ihr giftiges Kerosin in die Welt hinaus spie, fühlte er das Blut in seinen Schläfen pochen und seine Hände waren die eines erstaunlichen Dirigenten, der eine Symphonie des Sengens und des Brennens aufführte, um die kärglichen Reste der Kulturgeschichte vollends auszutilgen.

Wahrscheinlich kennen die meisten Leser den Anfang des visionären Romans Fahrenheit 451 von Ray Bradbury, der später auch zur Schullektüre wurde. Der Klassiker gehört mit George Orwells 1984 und Aldous Huxleys Brave New World zu den großen Zukunftsromanen des 20. Jahrhunderts und ist eines der wichtigsten Werke der amerikanischen Nachkriegsliteratur. Nicht zuletzt aufgrund des großen Erfolgs von Fahrenheit 451 gehört der Autor zu den anerkanntesten Science-Fiction-Schriftstellern in den USA.

Ray Douglas Bradbury wurde am 22 August 1920 in Waukegan, einer Kleinstadt im Bundesstaat Illinois, als Sohn eines Amerikaners englischer Abstammung und einer schwedischen Immigrantin geboren. Als er vierzehn Jahre alt war, zog die Familie nach Los Angeles, wo er die High School besuchte. Schon während der Schulzeit entstanden eigene Schreibversuche. Besonders für phantastische Literatur und Science-Fiction zeigte er großes Interesse; seine Vorbilder waren neben Aldous Huxley vor allem Edgar Allan Poe, Jules Verne und H.G. Wells.

Noch als Schüler trat er 1937 der Los Angeles Science Fiction League und dem Los Angeles Poetry Club bei. Seine erste Kurzgeschichte wurde noch im Jahr seines schulischen Abschlusses in der Zeitschrift Imagination! veröffentlicht. Angespornt von diesem ersten literarischen Erfolg beschloss Bradbury für sich ein ungewöhnliches Pensum: jede Woche eine neue Geschichte, wobei teilweise mehrere Fassungen entstanden. Am Wochenende bombardierte er dann diverse Zeitschriftenverlage mit dem Ergebnis. So entstanden im Laufe weniger Jahre Hunderte von Kurzgeschichten.

Es dauerte aber bis 1941, ehe er mit der Geschichte Pendulum das erste Honorar verdiente. Mit Dark Carnival (1947) publizierte er erstmals eine Sammlung von 27 Storys in Buchform. Bradbury, der zunächst als Zeitungsverkäufer und freier Journalist seinen Lebensunterhalt verdiente, konnte nun eine Laufbahn als freier Schriftsteller einschlagen. Seit 1947 war er mit Marguerite McClure, die er in einer Bücherei kennengelernt hatte (wo sonst?), bis zu ihrem frühen Tod 2003 verheiratet. Zwischen 1949 und 1958 wurden die vier Töchter des Ehepaares geboren.

Der literarische Durchbruch gelang Bradbury schließlich 1950 mit seinem Romandebüt The Martian Chronicles (dt. Die Mars-Chroniken), das aus einer Reihe zusammenhängender Erzählungen besteht, die von der Besiedlung, genauer von der Besetzung, des Mars durch die Menschen handelt. Im Mittelpunkt steht jedoch keine Technikschwelgerei, vielmehr setzte sich Bradbury in den Geschichten, die sicherlich von den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs beeinflusst waren, mit dem Zusammentreffen verschiedener Kulturen und mit Fragen der menschlichen Gesellschaft kritisch auseinander. Übrigens: Als die NASA-Marssonde „Phoenix“ 2008 auf unserem roten Nachbarplaneten landete, hatte sie neben wissenschaftlichen Dokumenten auch eine digitale Kopie von Bradburys The Martian Chronicles an Bord.

Mit dem dystopischen Roman Fahrenheit 451 (1953) erlangte Bradbury schließlich Weltruhm. Zentrales Thema ist die Auseinandersetzung mit den Gefahren des Totalitarismus (u.a. mit dem Faschismus oder dem McCarthyismus). Erzählt wird die Geschichte einer Diktatur, die ganz auf die Zufriedenheit ihrer Bürger bedacht ist. Mit einer perfekten Freizeitindustrie bis hin zur Dauerberieselung wird ihnen keine Zeit gelassen, sich mit ihrer individuellen Situation oder der politischen Lage zu beschäftigen. Bücher hingegen werden als unglückstiftend und staatsgefährdend angesehen und sind daher strengstens verboten. Ziel ist eine bücherlose Gesellschaft. Die Feuerwehr hat die Aufgabe, überall illegale Bücher aufzuspüren und sie zu vernichten – selbst wenn deren subversive Besitzer dabei mit ums Leben kommen. Allein der junge Feuerwehrmann Guy Montag, zunächst pflichtbewusst und kritiklos, beginnt nach einer Begegnung mit der siebzehnjährigen Clarisse McClellan aus der Nachbarschaft, die Welt und seine Arbeit zu hinterfragen. Er riskiert seine Existenz, indem er bei den Feuerwehraktionen heimlich Bücher einsteckt und sie daheim im Lüftungsschacht versteckt.

Montags Hand klappte zu wie ein Rachen, drückte das Buch mit gieriger Gedankenlosigkeit an die Brust. Die Leute droben schleuderten unterdessen Zeitschriften schaufelweise in die staubige Tiefe. Wie abgeschossene Vögel stürzten sie hinab, wo die Frau stand, klein und verloren, inmitten der Leichen.
Montag hatte nichts getan. Seine Hand hatte alles allein getan. Seine Hand, mit eigenem Denkvermögen, mit eigenem Wissen und Gewissen in jedem zitternden Finger, war zum Dieb geworden. Jetzt steckte sie das Buch unter den Arm, drückte es fest in die schweißige Achselhöhle hinein, schoss leer wieder hervor, wie die Hand eines Zauberkünstlers. Sieh doch her! Unschuldig! Sieh doch!

Damit ist Montag selbst ein Gefahrenherd für das System geworden. Sein Vorgesetzter, der hochgebildete Captain Beatty, der selbst einmal „ein paar dieser Schmöker“ gelesen hat, ahnt, dass Montag nicht mehr der angepasste Feuerwehrmann ist. Er versucht, Montag die Flausen auszureden:

… es steht nichts drin! Nichts, was man annehmen oder weitergeben könnte. Sie handeln von Leuten, die es nie gab, von bloßen Hirngespinsten …

Über Clarisse McClellan lernt der abtrünnige Montag schließlich die einsamen „Buchmenschen“ kennen, die in den Wäldern hausen und Werke der Weltliteratur memorieren, um sie so für die Nachwelt zu erhalten.

Bradburys Roman Fahrenheit 451, ein eindringliches Plädoyer für Literatur, Bücher und Lesen, wurde in vielen Ländern zu einem Bestseller. Seine Popularität steigerte sich noch durch die Verfilmung (1966) des französischen Regisseurs François Truffaut mit Oscar Werner (als Guy Montag) und Julie Christie (als Clarisse und Montags Ehefrau Mildred) in den Hauptrollen. Vor zwei Jahren brachte der amerikanische Kabel-TV-Sender HBO eine Neuverfilmung auf den Markt.

Nach dem überraschenden Erfolg mit seinen beiden Erstlingswerken setzte Bradbury seine Karriere mit zahlreichen Romanen und Erzählungen fort; über Jahrzehnte trug er mit seiner märchenhaften Produktivität dazu bei, dass die in Fahrenheit 451 beschriebene bücherlose Welt nicht Realität wurde. Die Romane Dandelion Wine (1957, dt. Löwenzahnwein), Something Wicked This Way Comes (1962, dt. Das Böse kommt auf leisen Sohlen), The Halloween Tree (1972, dt. Halloween), Death Is a Lonely Business (1985, dt. Der Tod ist ein einsames Geschäft) oder A Graveyard For Lunatics: Another Tale of Two Cities (1988, dt. Friedhof für Verrückte) wurden allesamt Bestseller und in viele Sprachen übersetzt.

Insgesamt 30 Romane sollten es werden; sie alle verbinden Elemente von Science Fiction, Kriminalroman, Fantasy und Horror. Noch umfänglicher sind die Ausgaben mit seinen Kurzgeschichten. Bradbury äußerte selbst einmal: „Ich kann es kaum glauben, dass ich in meinem Leben so viele Kurzgeschichten geschrieben habe“. Schätzungen gehen von 600 Kurzgeschichten aus. Und so sind Auswahlbände wie The Illustrated Man (1951, dt. Der illustrierte Mann), The October Country (1955, dt. Familientreffen) oder The Toynbee Convector (1988, dt. Die Laurel-&-Hardy-Liebesgeschichte und andere Erzählungen) wahre Fundgruben der Fantasie und weisen Bradbury als Meister dieser Literaturgattung aus. Ob ein merkwürdiger Zwerg, der jeden Abend das Spiegelkabinett auf einem Rummelplatz aufsucht, um sich für wenige Minuten normale Größe vorzugaukeln, ob ein eifersüchtiger Ehemann, der bei einer Firma eine Kopie seiner untreuen Gattin bestellt, um sie zu ermorden, oder ein nächtlicher Spaziergänger, der von der Polizei aufgegriffen wird, weil er zu Hause kein Fernsehgerät besitzt… Bradbury beschwört in seinen Kurzgeschichten immer das Unheimliche, das Groteske im wirklichen Leben herauf. Selbst in der kürzesten Story gelingt es ihm noch, eine Welt erstehen zu lassen, die Wunder und Schrecken vereint.

Obwohl Ray Bradbury ab 1999 durch einen Schlaganfall an einen Rollstuhl gefesselt war, blieb er weiterhin schriftstellerisch aktiv. Er starb am 5. Juni 2012 nach langer Krankheit im Alter von 91 Jahren in Los Angeles. Sein Grabstein trägt die Aufschrift „Author of Fahrenheit 451“.

„Streng genommen bin ich gar kein Science-Fiction-Autor. Ich habe nur einen einzigen SF-Roman geschrieben, Fahrenheit 451. Alles andere ist Fantasy. Und das ist schließlich die älteste Literaturtradition der Welt. Auch Homer war ein Fantasy-Autor“, so äußerte sich Bradbury 2008 in einem Tagesspiegel-Interview mit Denis Scheck. Ob Raumschiffe oder Zeitmaschinen, Bradbury ging es weniger um die Darstellung des technischen Machbaren, sondern um den Fortbestand unseres Planeten und die Verteidigung des Individuums in einer perfektionierten Welt und gegen den übermächtigen Staat. Der SF-Autor war eher ein Skeptiker des wissenschaftlichen Fortschritts.

Neben seinen Romanen und Erzählungen veröffentlichte er auch Gedichte, Theaterstücke und Essays und betätigte sich als Drehbuchautor (u.a. für den Melville-Klassiker Moby Dick mit Gregory Peck) sowie als Mitarbeiter von Filmen und Fernsehserien. Die Auflistung seiner Auszeichnungen und Preise ist fast eben so lang wie die Anzahl seiner Werke. Bradbury hat viele seiner schreibenden Kollegen der nachfolgenden Generationen beeinflusst und inspiriert; Stephen King, Steward O‘Nan oder Steven Spielberg sahen in ihm ihr großes Vorbild.

Im Diogenes Verlag, der sich seit Jahrzehnten um die deutschsprachigen Bradbury-Ausgaben verdient macht, ist nun zum Jubiläum Fahrenheit 451 in einer neuen Übersetzung von Peter Torberg erschienen, die versucht, so nah wie möglich an Bradburys eigener Sprache zu bleiben – „aus Respekt vor dem großen Autor und seinem Werk“. In seinen Anmerkungen zur Übersetzung betont Torberg: „an mancher Stelle findet das aufmerksame Auge gar einen Widerspruch, eine Unklarheit, eine nicht ganz sauber aufgelöste Stelle im Text“. Doch Ray Bradbury selbst kann man dazu nicht mehr befragen.

Zur Übersetzung von Fritz Güttinger (1907-1992), die erstmals 1955 im Arche Verlag veröffentlicht wurde und weit über ein halbes Jahrhundert in zahlreichen Ausgaben erschien, sind die Unterschiede wohl nicht gravierend. Ein Detail ist für Torberg allerdings essentiell: „Das englische ‚fireman‘ ins Deutsch als ‚Feuermann‘ statt ‚Feuerwehrmann‘ zu übersetzen“, denn im Englischen besteht die Zweideutigkeit des Wortes nicht.

(Zitate aus Ray Bradbury: Fahrenheit 451. Aus dem Amerikanischen von Fritz Güttinger. Diogenes Verlag. Zürich 1981)

Titelbild

Ray Bradbury: Fahrenheit 451.
Aus dem Amerikanischen von Peter Torberg.
Diogenes Verlag, Zürich 2020.
272 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071405

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