Einblick in eine Familie
Johan Bargum zeigt in seinem Roman „Nachsommer“ die Abgründe einer scheinbar normalen Familie auf
Von Johanna Hüther
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAls ihre Mutter im Sterben liegt, treffen die beiden ungleichen Brüder Olof und Carl nach langer Zeit in den finnischen Schären wieder aufeinander. Carl, der vor Jahren mit seiner Frau Klara in die USA ausgewandert ist, ist wenig begeistert, in das schwedischsprachige Finnland zurückgerufen zu werden. Olof, der ältere Bruder und Protagonist des Romans, ist seiner Mutter nicht wichtig und hat den Kontakt zu ihr ebenfalls fast aufgegeben.
Die Begegnung der beiden unterschiedlichen Brüder weckt erneut einen unterschwelligen Kampf um die Dominanz in ihrer Beziehung. Olof hat seit dem frühen Tod ihres Vaters die Rolle des großen Bruders eingebüßt und steckt seitdem von seinem jüngeren, aber körperlich überlegenen Bruder bei jeder Gelegenheit ein. Wegen seines phlegmatischen Charakters gibt er Carl jedoch keine Widerworte, sondern lässt den Spott passiv über sich ergehen. Auch die Mutter hat nie versucht ihrem ältesten Sohn zu helfen; ihr einziger Beitrag zu diesem Thema ist: „Schieb die Schuld nicht auf deinen kleinen Bruder.“
So kommt es, dass Olof, der in Angst vor seinem jüngeren Bruder lebt, eine Chance sieht an ihm Rache zu nehmen, indem er das Wochenende vor dessen Auswanderung mit Klara verbringt. Dabei verliebt er sich in sie und erneut steht ihm seine eigene Passivität im Weg; er bringt es nicht über sich Klara zum Bleiben zu überreden. Etwas aus seiner Apathie kommt Olof bei dem erneuten Zusammentreffen nur durch die beiden Söhne seines Bruders, von denen der Ältere merkwürdige Ähnlichkeiten mit Olof hat.
Johan Bargum gilt als einer der bekanntesten finnlandschwedischen Autoren. Die Originalausgabe dieses Romans erschien bereits 1993, wurde von Karl-Ludwig Wetzig ins Deutsche übersetzt und erscheint ein Vierteljahrhundert später im mareverlag.
Obwohl Nachsommer ein Familiendrama mit einem vorhersehbaren Plot darstellt und sich die Vermutungen der Leser/innen scheinbar alle bestätigen, ist dieses Buch durch seine zusammengewürfelte und lückenhafte Erzählweise außergewöhnlich. In kurzen, parataktischen Rückblenden, die immer wieder die Erzählgegenwart durchbrechen, wird die Familienvergangenheit in groben Zügen dargelegt.
Dennoch bleiben viele Fragen unbeantwortet und der Phantasie der Leser überlassen: die Hintergründe der Affäre mit Klara, die kurz angedeutete inzestuöse Beziehung zwischen der Mutter und Carl und die unerklärlicher Weise sehr löchrige Erinnerung Olofs. Diese Erzählweise ist dabei so gut umgesetzt, dass man auch nach Ende des Buchs noch lange über die Zusammenhänge der Beziehungen nachdenkt und aus dem vermeintlich einfachen Plot eine spannende und lohnenswerte Geschichte wird.
Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2020 entstanden sind und gesammelt in der Septemberausgabe 2020 erscheinen.
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