Wundersame Geschichten

Joris-Karl Huysmans beobachtet Pilger in „Lourdes“

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Wallfahrtsort Lourdes und die Lebensgeschichte von Bernadette Soubirous hat dank des 1941 von Franz Werfel verfassten, sensiblen, vor allem auch religiös musikalischen Romans Das Lied von Bernadette einen exponierten Platz in der Literaturgeschichte erhalten. Knapp vierzig Jahre zuvor, in den Jahren 1903 und 1904, hielt sich Joris-Karl Huysmans mehrere Wochen lang dort auf. Er beobachtete, recherchierte und berichtete illustrativ über die Stätte, der er selbst anfangs mit großer Skepsis begegnete. Aus dem Jahr 1906 stammt dieser Bericht über den Ort in den Pyrenäen, in dem der schwer an Krebs erkrankte französische Schriftsteller, der Mystik sehr zugewandt, sich der Spiritualität der Stätte annähert und seine Wahrnehmungen und Eindrücke teilnahmsvoll notiert.

Wer war Bernadette Soubirous? An Asthma erkrankt, von schwacher Konstitution, klein, schüchtern und nervös sei die „zierliche Gestalt“ gewesen. Die katholischen Literaten hätten sie zwar ins Engelhafte verklärt, Laizisten und Atheisten wie Emile Zola wiederum als hysterische Person dämonisiert.

Huysmans studiert Aufzeichnungen, die weniger das Interesse der Medien erregt hatten. Bernadette wird als umgänglich und naiv beschrieben, nie als fantasievoll oder emotional bewegt. Sie war sehr unauffällig, erzählte „kurz, farblos und kühl“. Die Geistlichen betonen ihre „wenig ausgeprägte Frömmigkeit“. Einem solchen Mädchen vom Lande erscheint die Jungfrau Maria? Sie hält sich an den Rosenkranz, hält sich daran buchstäblich fest. Die „Klosteroberinnen“ ermuntern sie nachdrücklich zu mehr religiösem Eifer und meditativen Übungen. Bernadette ist ratlos, sie wisse nicht, wie man meditiere. Huysmans schreibt, sie sei „weit entfernt von der Mystik“ gewesen, die ihr zugewiesen werde, und außerstande, „sich in etwas hineinzusteigern“. Das „schlichte Begriffsvermögen des Mädchens“ zeige vielleicht einmal mehr, „dass Gott nur die Ärmsten und Einfachsten auswählt, wenn er einen Mittler benötigt, um sich an die Massen zu wenden“. Die Stilisierung zu einer „märchenhaften Hirtin“ erfolgte dennoch. Bei den Nonnen lernte sie lesen und schreiben. Das machte ihr große Mühe, aber die „liebenswerten Eigenschaften der Sanftmut und Demut“ prägten sich stärker aus. Bernadette wollte „fern von der Menge vergessen werden“. Im Kloster arbeitete sie als „hingebungsvolle Krankenschwester“, war ganz und gar eine „gutherzige Nonne“. Sie starb im Alter von 35 Jahren am 16. April 1879.

Die geistliche Obrigkeit begegnete den Erscheinungen der Jungfrau Maria aus dem Jahr 1858 mit Misstrauen und Skepsis. Die Offenbarungen wurden als „Karneval“ bezeichnet und der „göttliche Ursprung der Visionen“ sollte nicht anerkannt werden. Auch der Ortsbischof war äußerst zurückhaltend. Doch die offenbar wundersamen Heilungen in Lourdes wurden untersucht. Am 18. Januar 1862 wurde erklärt, dass die Ergebnisse „beweiskräftig“ seien – und Wallfahrten an die Stätte, an dem sich die Gottesmutter dem Mädchen Bernadette offenbart haben soll, begannen.

Joris-Karl Huysmans bekennt freimütig: „Wenn es einen gibt, der niemals den Wunsch gehabt hat, nach Lourdes zu sehen, dann bin ich es.“ Er versteht die Mystik als „absolut exakte Wissenschaft“. Die Kathedrale in Lourdes missbilligt er, diese verkörpere die „Ästhetik von Korkenhändlern“. Auf „Kitschbildern“ werde Bernadette „wie eine Kammerzofe ausstaffiert“. Devotionalien werden reichlich verkauft, aber der „Anblick dieses Meeres brennender Kerzen“ – bei der Prozession am Abend – ergreift den Besucher von innen her. Einzelne beten wortreich, andere schweigen. Huysmans schreibt: „Das göttliche Erbarmen wendet sich gewiss eher den armen kleinen Lichtlein zu …“ Die Kranken werden fortlaufend in die Heilungsbäder gebracht, doch werden sie geheilt? Sie überleben die Prozedur: „Man muss unbedingt nach Lourdes kommen, wenn man eine Vorstellung davon bekommen will, was aus dem zerfallenden Wrack unseres armen Leibes werden kann.“ Er beschreibt auch die „suggestive Wirkung einer aufgewühlten Menge“. Bisweilen gibt es unerklärliche Genesungen. Woran liegt das? Das Fragezeichen bleibt. Zugleich sieht er die „bizarre Hässlichkeit des Bösen“: „In Lourdes herrscht ein dermaßen Übermaß an Banalität, ein solcher Blutsturz des schlechten Geschmacks, dass sich zwangsläufig der Gedanke an einen Einfluss aus den Tiefen der Hölle aufdrängt.“

Die Liturgie der Kirche gerät durcheinander, wird zu einem vielstimmigen Konzert mit vielen schrägen Tönen. Die Buntheit der katholischen Welt schildert er anschaulich: „Während ein Priester am Altar das Messopfer feiert, spult ein anderer unbeeindruckt seine Predigt ab und hört mit dem nutzlosen Geplapper erst auf, wenn die Altarschellen zum Erheben der Hostie klingeln.“ Manchmal tritt der „Teufel“ auch in Gestalt einer „Betschwester“ auf. In Lourdes würden „Extreme des Leidens“ wie „Extreme der Freude“ sichtbar:

Lourdes ist eine Stadt der Nachtschwärmer, die durch die Exzesse ihrer frommen Überstunden die sündigen Exzesse der Nachtschwärmer in anderen Städten wiedergutmachen. […] Sind diese vereinigten Gebete für die Kranken in dem trostlosen Krankenhaus, wo sie in Schmerzen liegen und nicht schlafen können wegen des Lärms draußen, wegen der Rufe und Gesänge, vielleicht ein Balsam, der ihnen für den Rest der Nacht ihre Leiden mit der Hoffnung mildert, dass die Jungfrau gerührt durch diese großen Anstrengungen morgen, in einem Moment, wenn sie am wenigsten damit rechnen, darin einwilligt, ihre Heilung zu bewirken?

Joris-Karl Huysmans ist ein gläubiger Mensch, der zwar die vernünftige Einsicht berücksichtigt, aber von dem rätselhaften Zauber des Ortes sich betören lässt und die sehr wenigen unerklärlichen Wundergeschichten so aufnimmt, wie sie präsentiert werden. Er vermutet einen übernatürlichen Eingriff, wenn die Medizin und Naturwissenschaften seiner Zeit keine plausiblen Antworten auf die Ereignisse finden. Huysmans verschweigt nichts, die plastischen Schilderungen der Leidenden machen gewiss auch Ungläubige traurig und sprachlos – und wecken ein Verständnis dafür, dass diese Kranken die beschwerliche Reise auf sich nehmen, begleitet von Hoffnungen und Wünschen, von dem Bedürfnis, noch nicht sterben und etwas weniger leiden zu wollen. Diese Sehnsucht verbindet Gläubige und Ungläubige, fromme und zweifelnde Menschen. Die Wahrnehmungen, die in diesem authentisch erzählten, auch literarisch ansprechenden Bericht über Lourdes geschildert werden, hinterlassen einen bleibenden Eindruck.

Titelbild

Joris-Karl Huysmans: Lourdes. Mystik und Massen.
Übersetzt aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Hartmut Sommer.
Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2017.
300 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783940357656

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