Falsch gefreit, ewig bereut

Stephen Parker legt offen, was Frank Wedekind nie genau zu wissen bekam

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Studie Die Wedekinds in Amerika verfolgt nicht zuletzt auch das Ziel, „exemplarisch darzustellen, wie die Verbindung von Online- mit herkömmlichen Archiven einen qualitativen Zugewinn für die literaturwissenschaftliche Forschung herbeiführen kann.“ Diesem über den Forschungsgegenstand hinausweisenden Anspruch wird die Studie auf beeindruckende Weise gerecht. Kaum zu bezweifeln ist, dass dem Herausgeber ohne „Online-Suchen viele Quellen in vier Kontinenten“ kaum „bekannt und zugänglich“ geworden wären, Quellen, die die „erstaunliche Geschichte der Wedekinds in Amerika“ auf eine Weise „erzählbar“ machen, „die realitätsgesättigter und dissonanter ist als die lang gehegten Familienlegenden.“

Im Zentrum von Die Wedekinds in Amerika stehen die französische und die deutsche Fassung des den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 14. Mai 1861 umfassenden, aus verstreuten „Notizen“ seit Ende April 1861 in „letzte[r] Fassung“ entwickelten und von daher „größtenteils synthetische[n]“ Kalifornischen Tagebuchs des schon in jungen Jahren weit gereisten norddeutschen Arztes und Apothekers Wilhelm Wedekind (1816-1888). Dieser, ein Forty-Eighter, späterer Bismarck-Verächter und Vater von Frank Wedekind, war während seiner kalifornischen Jahre (1849–1864) in San Francisco vorrangig nicht nur als „zu großem Wohlstand“ kommender „Grundstücksspekulant[] und -makler[]“ tätig, sondern war auch „Gründungspräsident des Deutschen Vereins“ (1850), „Mitbegründer der Deutschen Klinik“ (1852) und „Mitbegründer der Allgemeinen Deutschen Unterstützungsgesellschaft“ (1854) ebenda. Von daher war Wilhelm Wedekind in der deutschen Kolonie San Franciscos eine „tragende[] Säule“ von „hohe[m] Ansehen“.

Die Edition seines Tagebuchs, die konsequent dem „Prinzip eines möglichst weitgehenden Nichtintervenierens im Text seitens des Herausgebers“ folgt, stellt zweifellos eine Bereicherung für die Wedekind-Forschung im Besonderen und für kulturgeschichtliche Forschungen im Allgemeinen dar: für die Wedekind-Forschung allein schon – in familienbiographischer Perspektive – deshalb, weil es den bereits 2003 publizierten, auf das Tagebuch zurückgreifenden Jugenderinnerungen seiner 24 Jahre jüngeren Ehefrau  Emilie Wedekind geb. Kammerer (1840–1916) mit dem Haupttitel Für meine Kinder „in wesentlichen“, „die Entwicklung der Liebesbeziehung“ betreffenden „Aspekten […] zuwiderläuft“. Damit bringt das Tagebuch weiteres Licht in jenes von den Eheleuten gepflegte kalifornische „Dunkel“, das ihre Ehe misslingen ließ und das Aufwachsen und das Leben ihrer Kinder so sehr beeinflusste. Für kulturgeschichtliche Forschungen im Allgemeinen ist das Tagebuch insofern ein Gewinn, weil es beispielsweise aufschlussreiche Einblicke in mentale Dispositionen und in das Vereinsleben deutscher Auswanderer in den USA sowie in das Musikleben der Zeit gewährt – Emilie war Opernsängerin, trat aber ebenso wie andere auch in „berüchtigten“ sogenannten Melodeons auf, dem „Bella Union“ und „Tucker’s Hall“.

Bei der sprachlich „in mancher Hinsicht mangelhaft[en]“ französischen Fassung, die den „deutschen Muttersprachler[]“ nicht verleugnen kann, handelt es sich nicht um das trotz intensiver Suche nach wie vor verschollene handschriftliche Original, sondern um ein „von fremder Hand“ angefertigtes Typoskript. Das wurde von Frank Wedekind, der das Tagebuch nach dem Tod des Vaters im Nachlass fand, vermutlich schon früh in Auftrag gegeben, deshalb vielleicht, um damit ungehindert arbeiten zu können. Deutliche „Spuren“ des Tagebuchs finden sich, so der Herausgeber unter häufigerem Verweis auf Forschungsliteratur, ja nicht nur bspw. im „späten Stück Schloss Wetterstein“, sondern auch schon im „Hauptwerk der 1890 Jahre, den >Lulu<-Dramen“.

Im letzten Jahr bzw. in den letzten Jahren seines Lebens dann hat sich Frank Wedekind das Typoskript des Tagebuchs erneut vorgenommen und es „durchgesehen[] und korrigiert[]“, ein Zeichen dafür, „welche Bedeutung er der Suche nach der Wahrheit über die kalifornischen Jahre“ der Eltern als dem Hintergrund ihrer Ehe zuschrieb, diesem „Spektakel voller Zurecht- und Schuldzuweisungen“. Zugleich entstand eine deutsche Fassung des Typoskripts. Diese deutsche Fassung wurde zu einem Gutteil von Wedekind selbst besorgt, schließlich aber, krankheitsbedingt, vom Dramatiker und ‚Münchner Modernen‘ Julius Schaumberger zu Ende gebracht, wobei der im Französischen keineswegs sattelfeste Schaumberger lediglich die ca. ein Drittel des Gesamttextes umfassenden Einträge vom 5. April bis zum 14. Mai übersetzte.

Umrahmt werden die beiden – in Fußnoten ebenso umfassend wie sorgfältig kommentierten – „jeweils auf der gegenüberliegenden Seite präsentiert[en]“ Fassungen von einem knappen Vorwort und einem einhundert Seiten langen Essay „Die Welt als Opera buffa und Ehe-Zirkus“ des Herausgebers Stephen Parker sowie von einer instruktiven editorischen Notiz, einer den Zeitraum 1816 bis 1918 umfassenden Zeittafel, einem Literaturverzeichnis, einem Bildnachweis und einem Register. Mit diesen Anhängen zu beginnen:

Die Zeittafel konzentriert sich vor allem auf die Jahre bis 1864 (Rückkehr der Wedekinds nach Europa) und rückt dabei das Vorleben, das Umfeld und insbesondere das Agieren der späteren Eheleute in den vier Jahren vor der Eheschließung – sie lernen sich 1859 kennen – in den Blick.

Das Literaturverzeichnis gibt neben einigen Hinweisen auf „Literatur zu den Wedekinds“ (jüngste Publikation 2014) und auf „Weiterführende Literatur“ (jüngste gedruckte Quelle 2007) Auskunft über besuchte bzw. befragte „Archive“ – es sind beeindruckende 16 an der Zahl –, herangezogene „Werke Frank Wedekinds“ (vor allem Briefe, Notiz- und Tagebücher) und von den „Wedekinds“ (Donald, Emilie, Theodor, Wilhelm) verfasste Werke.

Unter den im Bildnachweis gelisteten insgesamt acht Abbildungen dürften insbesondere diejenigen von Emilie Wedekind in San Francisco im Jahre 1861, von Wilhelm Wedekind um 1885, von Emilies Schwester Sophie aus dem Jahre 1857 und von Jakob Kammerer, dem Vater der beiden Schwestern, um 1850 von Interesse sein.

Das erstaunliche 75 Personen umfassende Register verzeichnet die „Namen aus dem Vorwort, dem Essay […], der Editorischen Notiz und der Zeittafel. Im Tagebuch vorkommende Personen [hingegen] werden nur aus der französischen Version erfasst“.

Dem Vorwort Stephen Parkers ist u.a. zu entnehmen, dass bei der Rekonstruktion der Geschichte von Wilhelm und Emilie Wedekind in San Francisco auch das hier zwar nicht wiedergegebene, doch im Essay ausgiebig referierte Californische Geschäfts-Buch 1849-1864 von Wilhelm Wedekind „von großem Wert“ gewesen ist – es befindet sich im Armin-Wedekind-Nachlass in Zürich und war Frank Wedekind wohl nicht bekannt. Aus diesem Geschäfts-Buch nämlich wird u.a. ersichtlich, dass der in diesem Falle „korrupt[]“ handelnde Wedekind Emilie aus ihrer Ehe mit Hans Schwegerle zu einem Zeitpunkt, von dem „es bisher hieß, die Wedekinds wären dazumal schon verheiratet gewesen“, mittels „Zeugengeld“ herauskaufte. Das bedeutet faktisch auch, dass Armin Wedekind als erstes Kind von Emilie und Wilhelm während deren Ehe mit Schwegerle gezeugt und mit dem 29. Januar 1863 zudem unehelich geboren wurde: Die Scheidung seiner Mutter von Hans Schwegerle war, wie der Zeittafel zu entnehmen ist, nämlich am 3. Januar 1863 „urteilskräftig“ geworden, die Eltern heirateten aber erst am 28. März desselben Jahres.

Der Essay „Die Welt als Opera buffa und Ehe-Zirkus“, dessen erste Hälfte vornehmlich auf den Zeitraum 1848 bis zum Kennenlernen der Wedekinds wohl im Sommer 1859 abhebt, verblüfft geradezu durch erschöpfende Kenntnisse. Diese betreffen der Sache nach auch Details, Randständiges und ‚Abschweifendes‘ sowie selbstverständlich die relevante Primär- und Forschungsliteratur. So wird beispielsweise über viele Seiten nicht nur das turbulente Leben von Emilies Schwester Sophie Amic-Gazan (1838–1858) nacherzählt – das war vor allem zwischen Sommer 1853 und ihrem Gelbfieber-Tod auf hoher See am 23. Dezember 1858 eng mit Emilies eigenem Leben verbunden –, sondern auch das des für Sophie wichtigen Musikkritikers und Komponisten Aquinas Ried.

Für das Thema „Die Wedekinds in Kalifornien“ braucht man diese letztgenannte Erzählung letztlich ebenso wenig wie einige andere, was darauf hinweisen mag, dass der Essay zuweilen in der Gefahr steht, weitläufig ‚über die Ufer zu treten‘. In diesem Zusammenhang ist auch auf eine erhebliche Anzahl an beispielsweise Daten oder Geldsummen betreffende Fakten hinzuweisen, die vor allem das erinnernde Aufnehmen beeinträchtigen. Hat man das Vorwort, die Zeittafel und die Fußnoten zum Tagebuch zur Kenntnis genommen – auch sie überschneiden sich öfters –, stört zudem die eine oder andere inhaltliche Wiederholung.

Von einschlägiger Bedeutung ist aber gewiss, dass wir im Essay ausführlich über das deutsche Vereinsleben in San Francisco und das Musikleben dort und anderenorts in den 1850er und 1860er Jahren unterrichtet werden, darüber hinaus erstmals auch einlässlich mit dem (kalifornischen) Leben von Hans Schwegerle vertraut gemacht werden, Emilies erstem Ehemann. Aus Emilie Wedekinds partieller Legendenbildung Für meine Kinder war zwar beispielweise bekannt, dass sich Schwegerle ihr gegenüber zusehends aggressiv verhielt und sogar zum Messer griff, zu dieser Geschichte gehört aber auch, dass Emilie sich schon früh beispielsweise nicht scheute, mit Wilhelm Wedekind in seiner „Gegenwart […] zu flirten“, wie dieser selbst im Tagebuch-Eintrag vom 13. März 1861 festhält. All diese Informationen zum Kulturleben in San Francisco und zu Hans Schwegerle braucht man jedenfalls in der Tat, wenn man das Agieren der späteren Emilie Wedekind und dasjenige Wilhelm Wedekinds nicht nur verstehen, sondern dafür auch (Un-)Verständnis aufbringen will.

Aus der Sicht Stephen Parkers stellt es sich – belegt u.a. durch das Tagebuch – so dar, dass schon in der Kennenlernphase von Emilie und Wilhelm Wedekind „offensichtlich“ war, „dass ihre Vorlieben, Wünsche und Erwartungen unterschiedlicher Natur waren.“ Wilhelm Wedekind seinerseits sei freilich „nicht bereit“ gewesen, Emilies „Willen nach Unabhängigkeit“ und ihr resolutes Eintreten für eigene Ansichten und Entscheidungen „zu billigen“, habe vielmehr mit allerdings ergebnislos bleibenden Erziehungs- und „Kontrollversuchen“ reagiert. Andererseits jedoch sei der Verliebte so von (unterdrücktem) „leidenschaftliche[m] Begehren“ getrieben und von einem selbstentworfenen „Idealbild“ Emilies geblendet gewesen, dass er – in mehr als einer Hinsicht „machtlos“ – entschieden gegen eigene Grundsätze und moralische Überzeugungen gehandelt, Emilies Verhalten letztlich hingenommen, mit ihr als verheirateter Frau weit über ein Jahr lang bis zu deren Scheidung eine Affäre gehabt und seinen und ihren bald ramponierten guten Ruf hintangestellt habe.

Emilie ihrerseits habe den darüber bis zu seinem Tode „verbittert[en]“ Wilhelm so lange hingehalten – am 10. Mai 1861 versprechen sie sich, „ihr Leben miteinander zu teilen“, sie aber bleibt noch mehr als ein Jahr lang bei Schwegerle und lässt sich vom liebesblinden Wilhelm Wedekind derweil reich beschenken –, bis ihre „soziale Lage […] im Sommer 1862“ aufgrund von Schwangerschaft, „Beschlagnahme ihres Eigentums“, von ihr gestelltem Scheidungsantrag und daraus resultierendem plötzlichem Karriereende als Sängerin „äußerst kritisch“ war. In dieser „in der deutschen Kolonie skandalisiert[en]“ Situation habe Wilhelm Wedekind sein Versprechen, „ihretwegen jedes Opfer zu bringen“, eingehalten und sei mit ihr in die Nachbarstadt Oakland geflohen.

Ob man vor diesem Hintergrund wie der erkennbar Emilie-freundliche, in ihren Belangen meist nachsichtige und vertrauenswillige Stephen Parker allerdings urteilen sollte, im Tagebuch erscheine Wilhelm Wedekind „überdeutlich als erbärmliche, komische Gestalt“? Hat Wedekinds seiner „Obsession“ geschuldetes, offensichtlich widersprüchliches, moralisch doppelbödiges und (zumindest nach heutigen Maßstäben) auch verschroben-albernes Verhalten nicht auch etwas Erbarmungswürdiges, und wird es nicht allenfalls erst dadurch „erbärmlich[]“, dass er seiner Frau „für den Rest seines Lebens“ aus beider Verhalten und aus dem damit verbundenen herben Verlust an öffentlicher wie an Selbstwertschätzung einen Strick gedreht hat?

Kann man andererseits angesichts der zuvor angedeuteten Fakten guten Grundes sagen, Emilie habe „ihre künstlerische Karriere für eine Ehe mit einem wesentlich älteren Mann geopfert“? Ist es nicht vielmehr so gewesen, dass sie die einzig verbliebene Hand ergriff, die sich ihr allen Hinhaltens zum Trotz – was wollte sie eigentlich überhaupt von dem doch so offen anders denkenden Wilhelm Wedekind? – dennoch entgegenstreckte, als ihr eigenes, „leidenschaftlich“ und sozusagen erbarmungslos durchgesetztes Handeln „ihr Leben fast zunichtemachte[]“? Und ist darüber hinaus der erweckte Eindruck uneingeschränkt haltbar, Emilie habe deshalb insbesondere den Kindern „nie wichtige intime Details aus ihrem Leben in San Francisco“ erzählt, weil dies die von Wilhelm Wedekind formulierten „Bedingungen für die Ehe“ untersagten? Ihre Lebenserinnerungen schrieb sie doch erst ein Vierteljahrhundert nach Wilhelm Wedekinds Tod, und nur schwer vorstellbar ist, dass er zu diesem Zeitpunkt immer noch Gewalt über sie gehabt hat. Was also hat Emilie Wedekind tatsächlich bewogen, in Für meine Kinder die kalifornischen Jahre so darzustellen, als habe sie erst nach der Scheidung von Hans Schwegerle „mit Wilhelm Wedekind ein konventionelles bürgerliches Leben“ begonnen? Vielleicht auch die Absicht, so die Vermutung Stephen Parkers, sich „schützend vor ihre“ – doch längst erwachsenen – Kinder zu stellen?

Titelbild

Stephen Parker (Hg.): Die Wedekinds in Amerika. Das Journal amoureux seines Vaters – übersetzt von Frank Wedekind.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
232 Seiten , 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835337312

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