Licht und Schatten kolonialer Forschungsreisen

Christopher Kloeble erzählt in „Das Museum der Welt“ von einer deutschen Himalaya-Expedition und indischer Geschichte

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Christopher Kloeble hat einen ungewöhnlichen Abenteuerroman vorgelegt, der detailreich und tief die „indische Seele“ und die Geschichte Indiens beleuchtet. Erstaunlich ist daran, dass er es schafft, als europäischer Weißer eine gänzlich unverbrauchte Perspektive einzunehmen, indem er mit dem 12-jährigen indischen Waisenjungen Bartholomäus (nachfolgend Bart genannt) eine fiktive Figur erschafft und zum Ich-Erzähler erhebt. Bart wird aus der fragilen Welt eines Waisenhauses herausgegriffen, die er unter normalen Umständen wahrscheinlich gar nicht überlebt hätte. Der Autor lässt ihn Revolution, Konflikte und Verrat in einem historischen Kontext erleben.  

Das Besondere an dem Jungen ist, dass er trotz seiner unglücklichen Situation und seines Status ein Ziel verfolgt: Er will ein Museum gründen für „die teuersten und schwersten und gefährlichsten Objekte des Kontinents und selbst Unsichtbares wie Gefühle, Träume oder Erinnerungen“ sollen dort sichtbar gemacht und zum Leben erweckt werden. Sein Museum wächst in einem Notizbuch, dass ihm nach dem Verlust seiner Eltern seine letzte schützende Hand – Pater Fuchs, den er sehr verehrt und respektiert – geschenkt hat. Im Waisenhaus wird das Buch von den anderen Kindern verbrannt. Es dient im weiteren Verlauf des Romans als roter Faden, an dem sich verschiedene Handlungsstränge entspinnen. 

Kloeble entwickelt das Museum zu einer wandernden Ausstellung, die nur durch die Fantasie von Bartholomäus bestückt wird. Pater Fuchs fordert ihn trotz des Verlustes zu einer Museumsführung auf und dazu, sich nicht beirren zu lassen, denn die Gedanken seien ja in seinem Kopf und ließen sich nicht physisch verbrennen. „Dann mach, dass ich es sehen kann, sagte er und schloss die Augen, führe mich durch dein Museum“. Gesagt, getan. Individuelle und humorvolle Beschreibungen, verbunden mit indischen Bezeichnungen, auch auf Hindi – z. B. bezeichnet Bart ein spezielles Gebäck als zu essendes Glück – sprechen unsere Sinne an. Das wichtigste Ausstellungsstück ist für den Jungen ein leerer Platz, den er für das Indien vor der Kolonialisierung und seine nicht mehr lebenden Eltern reserviert hat. So erzählt er von einem Geschenk, das er bekommen und geträumt habe, dass er alles über seine Eltern wisse, endlich ihren Namen, ihre Sprachen und ihr Aussehen kennengelernt habe. Die Erzählung endet mit dem Versprechen von Pater Fuchs, sich einen Namen für das Museum auszudenken. Doch am nächsten Morgen ist der alte Mann spurlos verschwunden. 

An dieser Stelle tauchen drei deutsche Wissenschaftler, die oberbayrischen Brüder Schlagintweit, auf. Bart soll sie auf ihrer dreijährigen Forschungsreise in den 1850er Jahren begleiten und für sie dolmetschen. Der Kontakt war noch über Pater Fuchs entstanden. Die Forscher verfolgen jedoch nicht nur wissenschaftliche Ziele, sondern auch wirtschaftliche Interessen eines britischen Handelsimperiums. Der Junge entwickelt daher im Laufe der Reise ambivalente Beziehungen zu den Brüdern, die einem stetigen Wandel unterworfen sind. 

Schließlich gerät Bart zwischen die Fronten, indem ihn Mitglieder der indischen Widerstandsbewegung als Spion installieren wollen. In dieser Funktion durchlebt er die Reise als wachsenden Loyalitätskonflikt zwischen einerseits dem Erkenntnisgewinn der Wissenschaft bzw. auch dem Freiheitskampf seiner Landsleute und andererseits wirtschaftlichen und politischen Machtstreben. Das Besondere an Bart ist, dass er die Argumente beider Parteien einer stetigen Prüfung unterwirft. Die Stimme des Jungen ist dabei stellvertretend für die vielen unbekannten, schwer arbeitenden Expeditionsbegleiter jener Zeit zu interpretieren. Kloebe schafft mit dem Jungen auch ein Symbol für die Identitätssuche der indischen Bevölkerung. 

Für die Schlingensiefs ist Indien nur ein Forschungsobjekt und Bart ein Mittel zum Zweck. Aber der beobachtet und macht die Brüder selbst zum Gegenstand der Betrachtung. Er erkennt bald, dass sie mehr sammeln als forschen und von ihrer Sammelwut regelrecht besessen sind, wodurch sie schließlich selbst zu Opfern werden. Bart spielt jedoch auch seine Rolle in dem Spiel, indem er die Schlingensiefs als Vehikel für seine Suche nach dem Pater benutzt. 

Kloebles Erzählstil wechselt zwischen erfrischenden und altklugen Teilen, die nicht immer zu einem 12-jährigen Waisen passen wollen. So wird Bart mehrmals deutlich mit seinem Status konfrontiert, aus dem er sich nicht befreien könne, denn er werde niemals frei sein. Dass er dabei ambitioniert sei, mache es nur schlimmer, wird ihm gleich zu Beginn im Waisenhaus vermittelt und auch, dass einer wie er Dankbarkeit empfinden müsse, wenn er nicht schon als Kind krepiere. Hier handelt es sich um den Versuch, die Ideen des Jungen im Keim zu ersticken. Doch Kloeble gibt Bart die Gelegenheit, seine Sicht auf die Kolonialherren frei heraus zu artikulieren. Damit entlarvt er die Europäer als Wesen, die die indischen Ureinwohner als minderwertig ansehen, sie in ihrer Überheblichkeit unterschätzen, und thematisiert so auch den Rassenkonflikt. 

Der Ich-Erzähler durchlebt verschiedene Rollen – als Abenteurer, Spion, Heranwachsender, aber auch Kritiker des Kolonialismus und Begleiter der indischen Historie und der Wissenschaftsgeschichte. Kloeble gelingt dabei ein stetiger Perspektivwechsel, der jedoch stellenweise ermüdend ist, auch weil die muttersprachlichen Begriffe weder in einem Glossar zusammengefasst noch sich immer aus dem Kontext erschließen lassen. Anzuerkennen sind Kloebles Thematisierung der Globalisierung und das Infragestellen ihrer Grenzen, seine tiefgehenden Recherchen und auch die Authentizität, die er über weite Strecken erzeugt. Es gelingt ihm, interessante Charaktere zu entwerfen. Das Buch verliert sich aber auch in zwar schönen, doch langatmigen Landschaftsbeschreibungen und wirkt an vielen Stellen zu sachlich, was die Lektüre etwas trockener macht als die die Romanidee anfangs vermuten lässt.

Titelbild

Christopher Kloeble: Das Museum der Welt.
dtv Verlag, München 2020.
528 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282185

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch