Ein Kind ohne Wunschpunkte

Paul Maar erinnert sich in „Wie alles kam“ an seine Kindheit in Franken

Von Paul GeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paul Geck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie alles kam lautet der denkwürdige Titel der Erinnerungen von Paul Maar, und die geradezu ins metaphysische reichende Haltlosigkeit wird durch den Zusatz Roman meiner Kindheit nur ein wenig gemindert. Tatsächlich ist in diesem Buch beides zu spüren, eine, man ist versucht zu sagen kindliche, Ernsthaftigkeit, neben die immer wieder ein leichtfüßiges Staunen tritt, jenem Staunen ähnlich, das am Beginn jeder Metaphysik stehen soll: Warum ist überhaupt etwas und nicht nichts?

Und: wie wird man zu dem, der man ist? Für Paul Maar liegt es nahe, nach Antworten in seiner Kindheit zu suchen. Eine zentrale Gestalt in seinem Buch ist der Vater: ein Mann, der als Soldat und Kriegsgefangener die ersten Lebensjahre seines Sohnes nicht miterlebte, der zudem seine erste Frau – Paul Maars leibliche Mutter – verlor und noch einmal heiratete. Während der Sohn zu seiner Stiefmutter ein enges Verhältnis entwickelt, bleibt ihm der Vater, als er dann wieder da ist, fern und fremd. Nähe zu seinem Sohn kann der Vater nur herstellen, indem er ihn schlägt. Wie kommt es also, fragt sich Paul Maar, dass er, als er längst ein berühmter und gefeierter Autor geworden ist und sich zu einer Lesung in Moskau aufhält, im Bad seines Hotelzimmers so tun muss, als habe er die Dusche benutzt? Obwohl er sich nur am Wasserhahn gewaschen hatte, betätigt er von außen stehend die Duschbrause und befeuchtet das Handtuch. Keiner, auch nicht das Zimmermädchen, soll denken, er würde die Körperhygiene vernachlässigen! Es geht darum, so denkt er später, „den Schein zu wahren und artig zu sein“. Bloß nicht auffallen und Situationen vermeiden, die ihm in seiner Kindheit eine Ohrfeige vom Vater eingebracht hätten.

Die Kreativität Paul Maars konnte durch einen solchen Zwang zur Anpassung nicht unterdrückt werden, im Gegenteil. Schon früh malte und zeichnete der Junge, das Schreiben kam erst später. Und auch sein literarisches Schaffen profitierte von der Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie. Offengelegt wird das von Maar am Beispiel des berühmten Herrn Taschenbier und des Sams. Herr Taschenbier hat als direktes Vorbild einen Büroangestellten von Paul Maars Vater, einem freundlichen, schüchternen Mann, von dem der Autor vermutet, sein Vater habe ihn nur angestellt, um seine schlechte Laune an jemandem auslassen zu können. „Wenn ich Herrn Wenner beobachtete, schien es mir manchmal, als habe ihn mir ein warnendes Schicksal vor Augen gestellt, um mir vorzuführen, wie ich als Erwachsener einmal sein würde, wenn ich nicht meine Schüchternheit und die Abhängigkeit von meinem Vater ablegen würde.“

Die Figur des Sams ist das Gegenteil von angepasst. Es ist ein anarchisches Energiebündel, explosiv, kreativ, aufmüpfig. Nachdem Maar es zunächst für ein Theaterstück erdacht hatte, verschaffte es sich ein Eigenleben als Hauptfigur in einer bald in Serie erscheinenden Kinderbuchreihe, ein schweinsnasiger Junge mit roten Haaren und einem blauen Taucheranzug – natürlich stammte die Illustration von Paul Maar selbst, der in einem Interview auch verraten hat, wie es zu den blauen Wunschpunkten kam: Beim Malen abgelenkt, hatte er die Sommersprossen des Sams mit dem noch nicht ausgewaschenen blauen Pinsel gemalt. Wie alles kam? Zufall war eben auch mit dabei.

Nicht hörig sein, sich nicht unterkriegen lassen, mit allen Mitteln der Kreativität und Fantasie gegen die Unwägbarkeiten und Ungerechtigkeiten dieser Welt kämpfen: Was Paul Maar in seinen Samsbüchern wichtig ist, das gilt auch für seine Erinnerungen. Es sind unspektakuläre, in sanften Farben erzählt Erlebnisse, auch sprachlich überwiegt ein unaufgeregter, lakonischer Tonfall. Wie alles kam, das ist keine Klage darüber, worauf wir durch unsere Kindheit festgelegt werden. Es ist ein Buch über die Freiheit, seine eigene Geschichte zu leben und zu gestalten. Und es endet so wie eine gute Geschichte vom Sams, Herrn Taschenbier und Frau Rosenkohl: hoffnungsvoll und versöhnlich.

Titelbild

Paul Maar: Wie alles kam. Roman meiner Kindheit.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2020.
304 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783103970388

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