Auf der Suche nach Marcel
Saul Friedländers „Proust lesen“ ist eine sehr persönliche Lektüre der „Recherche“
Von Sandra Vlasta
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseProust lesen ist ein Titel, der bei deutschsprachigen Proust-LeserInnen Erinnerungen weckt: Gab’s das nicht schon mal? Ja! Vor fast 30 Jahren hat der Schweizer Romanist Luzius Keller sein Buch über Leben und Werk des französischen Autors unter demselben Titel bei Suhrkamp vorgelegt. Kellers Band trug in der Erstausgabe zudem ein ähnliches Foto von Proust als Titelbild, mittlerweile ist der Band allerdings in grellem Pink erhältlich. Der Romanist ist überdies als Mitherausgeber der Frankfurter Ausgabe von Marcel Prousts Werken bekannt.
Auch Saul Friedländer ist kein Unbekannter: Der israelische Historiker wurde für seine Forschung, in der er sich vor allem mit der jüdischen Geschichte und dem Holocaust auseinandersetzt, mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2007, dem Preis der Leipziger Buchmesse 2007 und dem Pulitzerpreis 2008, um nur einige wenige zu nennen. Friedländer will mit seiner Forschung vor allem den Opfern eine Stimme geben, die zu oft aus dem Blick gerieten, was eine Banalisierung von Verbrechen wie dem Holocaust mit sich brächte. Viele seiner Werke haben nicht zuletzt wegen seines zugänglichen Stils (den Hayden White als „literaturhaft“ bezeichnet hat) ein großes Publikum erreicht.
Neben seinen historischen Arbeiten hat Friedländer auch zwei autobiographische Werke, Wenn die Erinnerung kommt (1979) und Wohin die Erinnerung führt (2016), vorgelegt und, 2012, erstmals einen Band zu einem Schriftsteller veröffentlicht, nämlich zu Franz Kafka. Marcel Proust und insbesondere dessen monumentaler Roman À la recherche du temps perdu (1913–1927) stehen im Mittelpunkt seines neuesten Buchs. Der Band wird als „Essay“ bezeichnet und wie schon der Klappentext nahelegt, möchte Friedländer damit keine literaturwissenschaftliche Analyse von Prousts Werk vorlegen – ein deutlicher Unterschied zum genannten Buch von Luzius Keller –, sondern kommt einem „inneren Bedürfnis“ nach, wie er in der Einleitung schreibt. Immer wieder habe er Auf der Suche gelesen und dabei hätten ihn Aspekte beschäftigt, die seiner Wahrnehmung nach in der Literaturkritik bislang wenig beachtet worden wären. Das sind vor allem die aus Friedländers Sicht ambivalente Beziehung des Erzählers zur Mutter, die Frage nach dessen jüdischer Identität, nach seiner Homosexualität, nach seinem Verhältnis zu verschiedenen sozialen Schichten und, vor allem, die Frage nach dem Anteil der realen Person Marcel Proust an dem Erzähler Marcel in der Recherche. Nun habe er, Friedländer, sich dazu entschlossen, diesen Themen einen eigenen Aufsatz zu widmen.
Der daraus entstandene Band gliedert sich in acht Kapitel, die jeweils einem der genannten (sowie weiteren) Teilaspekten von Friedländers Proust-Lektüre gewidmet sind. Der Historiker ist ein genauer Leser, der offensichtlich den gesamten Roman gut kennt, zudem Prousts Biographie sowie einige seiner weiteren Werke. Außerdem ist er mit der Sekundärliteratur vertraut, auf die er sich immer wieder bezieht und die in einer Bibliographie zusammengefasst wird. Gleichzeitig kennzeichnet den Essay ein sehr zugänglicher Stil, wie man das von Friedländer gewohnt ist. Dabei spricht er seine LeserInnen auch immer wieder direkt an („Gestatten Sie mir“, „Nehmen Sie“ etc.) und nimmt sie so erfolgreich mit auf seine Reise durch Prousts Werk.
Nur selten wird es schwierig, Friedländers Argumentation zu folgen, weil zum Beispiel das Verhältnis zwischen Autor und Erzähler etwas zu sehr ausgereizt wird, so wenn es heißt, dass der „Erzähler einigen Lesern die sexuellen Vorlieben des Autors offenlegen wollte“ oder dass „Proust dem Erzähler [hätte] gestatten können, […] [die Mutter] wie die Menschen von Combray zu beschreiben“. Zum Teil verschwimmen die Kategorien Autor/Erzähler auch, so dass unklar bleibt, wen Friedländer gerade meint. Manche dieser Unklarheiten mögen aber auch der Übersetzung geschuldet sein, denn Friedländer hat den Text auf Englisch verfasst. Leider finden sich auch einige weitere ärgerliche Kleinigkeiten, die aber weniger dem Autor zur Last gelegt werden können: Zum Original gibt es bis auf den Namen der Übersetzerin keine weiteren Angaben, die Seitenangaben im Inhaltsverzeichnis sind großteils falsch, es finden sich formale Fehler in der Bibliographie und es wird nicht deutlich gemacht, aus welcher Ausgabe Friedländer Proust zitiert (an einer Stelle schreibt Friedländer, dass er die „zweite Überarbeitung der englischen Übersetzung des Romans“ benutzt – dieser genauen Angabe hätte mit einem entsprechenden Hinweis auf den in der Übersetzung verwendeten Text Rechnung getragen werden müssen).
Doch diese Mängel formaler Natur (die zum Beispiel durch ein hilfreiches Personenregister ausgewogen werden) können Friedländers intensive Auseinandersetzung mit Proust, aus der vor allem die Begeisterung und die Liebe zu dessen Werk spricht – ein Aspekt, der in literaturwissenschaftlichen Abhandlungen meist im Hintergrund bleiben muss – wenig anhaben. Am eindrücklichsten ist jedoch Friedländers fortgeführte Begründung zur Abfassung des Essays, die er am Ende des Bandes wieder aufnimmt: Neben dem bereits genannten „inneren Bedürfnis“ nennt er hier sein inniges Verhältnis zur französischen Kultur und Sprache, die er ab 1939, nach der Flucht der deutschsprachigen Familie aus Prag nach Frankreich, kennen und lieben lernte. Das Französische sollte „für den Rest meines Lebens meine Hauptsprache bleiben“, schreibt Friedländer, der seine Werke, neben Englisch, auch auf Französisch und Deutsch verfasst. Seiner intensiven Auseinandersetzung mit Proust, „dem bewunderungswürdigsten französischen Romancier“ entspricht, dass Friedländer „in kultureller Hinsicht Franzose war und blieb“.
Der zweite, sehr berührende Grund erklärt nicht zuletzt Friedländers eingehende Auseinandersetzung im Essay mit der Mutterfigur sowie mit deren, so seine Lesart, vom Erzähler im Verborgenen gehaltenen jüdischen Identität: „Durch mein ganzes Leben hindurch habe ich mich weder an das Läuten einer Gartenglocke noch an irgendwelche Schluchzer zurückerinnert, wie es dem Erzähler widerfuhr, nur ein tiefer Schmerz begleitet mich bis heute: die Erinnerung an die niemals wiederkommende Mutter.“ Friedländer, geboren 1932, hat seine Eltern und einige seiner Verwandten in Vernichtungslagern verloren, er selbst überlebte den Krieg in einem katholischen Internat in Frankreich.
|
||