Gestalten der Liebe in Zeiten der Auflösung

Elena Ferrantes zweiter Roman „Tage des Verlassenwerdens“ ermöglicht Einsichten in die Schreibwerkstatt der großen Autorin

Von Christiane WolfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christiane Wolf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Weinflasche in der Küche fallen zu lassen, gehört zu den wenig erbaulichen Missgeschicken des täglichen Lebens. Fliegen die Glasscherben aber so weit in alle Richtungen auseinander, dass sie sogar im Lieblingsessen des untreuen Ehemannes landen, just an dem Tag, an dem dieser seiner Frau eine neue Beziehung als Trennungsgrund gesteht, und ist diese Szene überdies von einer Autorin wie Elena Ferrante erdacht, wird das Alltagsmalheur zur Lebensmetapher. Es offenbart die jähe Zersplitterung eines Lebensentwurfs durch den Entzug von Liebe, unserem Lebenselixier, und es zeigt damit zugleich schlaglichtartig, wie instabil, brüchig und verlustanfällig unsere vertrauten Lebensformen sind – es macht unvermittelt sichtbar, auf welch tönernen Füßen die ehedem verlässlichsten Routinen bei ausbleibender Zuwendung und Wertschätzung urplötzlich stehen.

Denn „[d]as Bedürfnis nach Liebe“, so Ferrante in einer schriftlichen Interviewantwort auf die Frage nach der Liebesfähigkeit von Olga, der verlassenen Frau, ihrer Titelfigur, „ist die zentrale Erfahrung unserer Existenz. Wie widersinnig es auch klingen mag, lebendig fühlen wir uns nur mit diesem Pfahl im Fleisch, den wir Tag und Nacht mitschleppen.“ (Elena Ferrante: Frantumaglia. Mein geschriebenes Leben, I. Schriften 1991–2003, Frankfurt a.M. 2019, S. 13, Ohne Sicherheitsabstand

Man muss nicht besonders bibelfest sein, um hier die sprachliche Anleihe bei dem Diktum des Apostels Paulus zu erkennen, welches besagt, das fundamentale Verlangen, in unserem fehlbaren Sosein angenommen zu werden, ist eine menschliche Schwäche – eine Schwäche, die uns aber zugleich stark macht, und, so Ferrante weiter, „alle anderen Bedürfnisse hinweg[fegt] und […] unser Handeln [begründet]“. Die Abwesenheit der Liebe in all ihren Facetten, sei es als Wohlwollen, Rücksicht, Schonung, als Freundlichkeit, Mitgefühl, Verzeihen und Erbarmen, verweist dagegen auf eine schier existentielle Gefährdung. „Menschen und Städte ohne Liebe“, schreibt Ferrante, „sind eine Gefahr für sich und andere.“ 

Es ist der Dreh- und Angelpunkt in Ferrantes Romanen, aufzuzeigen, welche Kräfte Frauen mobilisieren, um die Ausgesetztheit vor dem Scherbenhaufen einer von Zurückweisung, von mannigfaltigen Formen der Missachtung zertrümmerten Existenz nicht in völlige Vereinsamung, Dissoziation und womöglich Selbstzerstörung münden zu lassen, sondern aus der lebensbedrohlichen Krise gestärkt und erneuert, als dieselbe, doch in verwandelter Gestalt, hervorzugehen.

Tage des Verlassenwerdens (die Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel I giorni dell’abbandono bei edizioni e/o in Rom) ist nach Lästige Liebe die zweite Romanveröffentlichung der italienischen Autorin, die mit ihrer Tetralogie über die Lebensgeschichte der beiden ungleichen Frauen Elena und Lila mit dem Auftaktband Meine geniale Freundin Weltruhm erlangt hat. Wie ein roter Faden zieht sich durch Ferrantes Werke die Suche ihrer Ich-Erzählerinnen nach der ihnen gemäßen Daseinsform. Sie fahnden nach einer Struktur, die Woher und Wohin ihrer Biografie, ungeachtet der Brüche darin, in Beziehung setzt. Die Protagonistinnen erkennen jäh die Fragwürdigkeit scheinbarer Gewissheiten und unternehmen alles Erdenkliche, um dem fragilen Gefüge ihres Lebens Haltbarkeit zu verleihen. Dafür ist es von zentraler Bedeutung, Herkunft und Vergangenheit nicht etwa als entbehrlich abzutun, sie als erloschen zurückzulassen, sondern sie als notwendige Bedingungen eines Schicksals anzuerkennen, dessen Schmied man letzten Endes selbst ist.

„Wo kam ich her? Wo ging ich hin?“, überlegt auch Olga fieberhaft in einer der ersten Phasen ihres Verlassenwerdens, als sie noch verzweifelt versucht, den Ernst ihrer Lage zu überspielen und ihren Mann Mario durch strenge „Selbstdisziplin“, besonnene Reaktionen und gefälliges, einnehmendes Verhalten der treusorgenden Ehefrau, für eine nur scheinbar heile Welt zurückzugewinnen. Ja, sie kapriziert sich zunächst geradezu auf die Rolle des hilflosen Heimchens am Herd, das zugleich ihre weiblichen Reize gezielt zum Einsatz bringt – ein rückwärtsgewandtes Verhalten, durch das Olga sich in eine unheilvolle Spirale der Selbsterniedrigung und Selbstisolation manövriert. An deren Tiefpunkt und derart fixiert auf Mario hat sie sich jeglicher Möglichkeit beraubt, mit der Außenwelt Kontakt zu halten. Telefon und Handy versagen den Dienst, und am „härteste[n] Tag“ ihres Verlassenwerdens ist ihr gar das Geschick abhandengekommen, die Wohnungstür von innen aufzuschließen. Sie sieht sich mit den beiden kleinen Kindern, Illaria und Gianni, entnervt, verbindungs- und beziehungslos in den eigenen vier Wänden eingesperrt. 

Nicht zuletzt die temporäre Einsiedelei indes zwingt Olga in Klausur und Selbstreflektion. Die selbstverschuldete – wenn nicht gar unterbewusst gesuchte, da jetzt lebensgeschichtlich notwendige – Abgeschiedenheit nötigt sie, hart mit sich ins Gericht zu gehen. Es wetterleuchtet hier der Topos der Einsamkeit als Prüfstein des Gewissens. Überdies fühlt man sich von ferne erinnert an die mystische Form der Abkehr von der Welt, um dadurch das Einssein mit sich selbst zu erlangen. Denn dass Olga in den Momenten ärgster Demütigung während ihres Verlassenwerdens mit sich selbst und der Welt zerfallen ist, daran besteht kein Zweifel.

Von Beginn des auch für die Leser*innen zuweilen schwer erträglichen Leidensweges Olgas an sind Gestalten der Vergangenheit wie der Zukunft mit gegenwärtig. Zum einen nämlich beschwört der Schmerz des Verlassenwerdens ihr die Erinnerung an eine Figur aus den Kindertagen in Neapel herauf, die poverella, die Ärmste, genannt, und der Inbegriff des Schlimmsten, was einer Frau passieren könne, nämlich „sitzengelassen“ zu werden. Zum anderen sind es die wiederkehrenden Begegnungen mit dem Nachbarn Carrano, einem Musiker, den sie als Hoffnungsträger lange verkennt: „Aus seinen gebeugten Schultern“, heißt es, „wuchs der Instrumentenkoffer empor wie ein Stachel“. 

Immer wieder nimmt Olga ihn so oder ähnlich, „mit gesenktem Kopf“ und „mit dem Instrument bepackt“, wahr, das er wie eine Bürde mit sich schleppt. Tatsächlich jedoch ist es, wie sich herausstellen wird, das Behältnis einer verborgenen Kraftquelle, die er auf sich nimmt. Andererseits konfrontieren Olga immer aufs Neue bedrückende Bruchstücke ihrer Kindheitserinnerungen mit der Inkarnation der verlassenen Frau. Zwischen diesen beiden Polen, dort der unbedingten Hingabefähigkeit der poverella an den einen und einzigen Geliebten, dessentwegen diese sich schließlich das Leben nimmt, und hier dem tragenden Element der stets präsenten doch vielfach verkannten karitativen Nächstenliebe, die sich im Nachbarn, dem Künstler, verkörpert, bewegt sich Olga auf ihrem dornigen Weg heraus aus alten Abhängigkeiten – einem Weg, der einer wahren Höllenfahrt der Selbsterkenntnis gleichkommt.  

Vorläufig ringt sich die Ich-Erzählerin trotz des trostlosen Zustands, in den sie sich nach Marios Eröffnung gestürzt sieht, ein gewaltiges Maß an Selbstbeherrschung ab, um ihren Mann bei dessen sporadischen Besuchen, die er der Kinder wegen im alten Zuhause absolviert, bei Laune zu halten und nicht zu verschrecken. Dies geht mit einem Ausmaß von Verstellung einher, das Olga nicht lange durchhält. Sie geht so weit, alten Schmuck seiner Großmutter anzulegen, um Mario bei dessen Anblick scheinbar unantastbare Familienbande zu suggerieren, was jedoch auf beschämende Weise misslingt. Hart trifft Olga die Erkenntnis, dass die bloße Berufung auf einen Stammbaum ihrem Leben fortan keinen verlässlichen Ordnungsrahmen mehr bietet, und nur widerwillig gewährt sie dieser Einsicht Einlass in ihr Weltbild. Der Schmuck muss erst auf mysteriöse Weise aus der ehelichen Wohnung verschwinden, sie muss erst entdecken, dass Marios „Neue“ ihn trägt und darüber vollkommen außer sich geraten, ja zur Furie werden, bevor sie sich mit der Vorstellung zu arrangieren beginnt, dass Vorfahren gemeinsamer Kinder allein als Bindeglieder für ein lebenskräftiges Zukunftsmodell ausgedient haben. 

Durch ihr anfängliches manipulatives Verhalten hat Olga lediglich das Klischee der so verführerischen wie stets verfügbaren Ehefrau bestätigt. Schrittweise geht ihr auf, wie abhängig sie in dieser Rolle über die Jahre geworden ist, in welcher sie Marios Leben zu ihrem gemacht hat. Eine Rolle indes, in die Olga sehenden Auges hineingeschlittert ist. Denn nachdem ihr eine Lehrerin Simone de Bouvoirs La femme rompue zu lesen gegeben hatte, hat sie sich in der Schulzeit noch abschätzig über „gebildete Frauen“ ausgelassen, die, „in wohlhabenden Verhältnissen lebend, […] in den Händen ihrer gleichgültigen Männer zerbrachen wie Spielzeug“.

Die verheerenden Begleiterscheinungen dieser überholten Lebensform treten jetzt in Olgas eigenem Leben sinnfällig zutage, als ein Glassplitter der zu Bruch gegangenen Weinflasche in Marios Mund „eine blutige Spur“ hinterlässt. Auch an ihn ergeht, Ferrantes Metaphorik folgend und wenn man die Deutung konsequent weitertreibt, der Fingerzeig, du musst dein Leben ändern. Denn – so ein Leitmotiv der Autorin – es ist das physische Erlebnis eines stechenden Schmerzes, der alarmiert und aufschreckt, und uns scharfsinnig im Hier und Jetzt verortet, um uns entsprechend in eine auch geistig hochkonzentrierte Grundspannung zu versetzen, welche uns befähigt, Zusammenhänge zwischen scheinbar weit Auseinanderliegendem, etwa Vergangenem und zukünftig Möglichem, zu erkennen. Olga ihrerseits bewaffnet ihre Tochter regelrecht und lässt sich von ihr mit einem Brieföffner Stiche versetzen, um nicht Gewesenem sentimental nachzutrauern oder angesichts des ungewissen Bevorstehenden in Selbstmitleid zu zerfließen. 

Die schmerzenden Einstiche sind Weckrufe, die an Olga ebenso wie an Leda, die Frau im Dunkeln und Protagonistin von Ferrantes folgendem Roman, ergehen. Sie wirken wie ein Notsignal, buchstäblich zu sich zu kommen. Statt in Geistesabwesenheit abzugleiten, allzu lieb gewordene Gewohnheiten zu hätscheln oder zwischenmenschliche Unachtsamkeiten zu begehen, gilt es im Gegenteil, sich zu sammeln, aufmerksam und fokussiert zu bleiben, die Sinne zu schärfen und analog dazu neue Denkweisen zu wagen. Diese Art der Wachsamkeit bezeichnet Ferrante in einer brieflichen Interviewantwort als selbstverordnete „bewusste Eigenüberwachung“. Mithin ist sie das Gegenteil der mühevoll antrainierten Selbstdisziplin, die ihre Ich-Erzählerinnen so meisterhaft beherrschen. Sie ist ein „Wachsam-Sein, aber ohne auf den Blick zu rekurrieren, sondern auf das Gefühl, lebendig zu sein“. Als solches steht es, anders als repressive „männliche“ Kontrollmechanismen, unter spezifisch „weiblichen“ Vorzeichen, und es stellt sich heraus als eine vitale Grundspannung aller Sinne, „eine affektive Disposition des gesamten Körpers, der in alle Richtungen expandiert und über sich hinauswächst“. (Frantumaglia, S. 126–127)  

In beiden Romanen liefert der Text Vorzeichen des Umbruchs, die ihre Heldinnen freilich nicht auf Anhieb verstehen. Denn zwar begegnet Carrano Olga von Beginn an in Schlüsselmomenten ihrer desolaten Lage, und die Art und Weise seiner Charakterisierung könnte ihr entscheidende Hinweise geben. Nicht nur nimmt sie ja seinen Instrumentenkoffer wie einen „Stachel“ wahr, sie sieht auch, wie „die dunkle Klinge von Carranos schmaler Gestalt den Viale […] zerteilte“ –, und dennoch braucht sie denkbar lange, um zu begreifen, dass ihrem Leben eine unwiderrufliche Zäsur bevorsteht, dass sie einen wohltätigen Menschen wie Carrano bitter nötig hat, um einen harten Schnitt mit ihren hergebrachten Handlungsweisen zu vollziehen und die Fragmente ihres in die Brüche gegangenen Lebens neu zusammenfügen zu können. 

Ähnliches widerfährt der Frau im Dunkeln, Leda, welcher erst ein bedrohlicher Stich mit einer Hutnadel zugefügt werden muss, damit sie erkennt, was ihr Leben im Innersten zusammenhält, und die zuvor den Schmerz noch nicht zu deuten wusste, den ein vom Baum abfallender – oder vielleicht doch geworfener – Pinienzapfen ihr verursacht, als er als „plötzlicher Schlag“ mit Wucht ihren Rücken trifft. Auch sie hat sich soeben in Grübeleien verloren und die Zeichen der Zeit nicht erkannt – umso weniger verständlich, wenn man weiß, dass man in Süditalien üblicherweise einen Wunsch frei hat, wenn ein herabfallender Pinienzapfen einen trifft: Es heißt, der Baum ist die Mutter vom Zapfen; wenn dieser abfällt, bedeutet das, ein Leben geht und ein neues kommt.

Der Weg freilich, den die Frauen bis zu ihrer emotionalen und intellektuellen Wiedergeburt zurücklegen, ist ein schmerzhafter Reifeprozess. Dabei sind die Häutungen, denen sich Olga unterzieht, ungleich quälender mitanzusehen als Ledas nicht minder folgenschwerer Erfahrungszuwachs im Roman. Denn allen hochfliegenden Plänen und Gedankenspielen ihrer Jugend zum Trotz verschließt Olga allzu lange die Augen vor dem grundstürzenden Einschnitt, den das Verlassenwerden in ihr Leben wie eine Schneise schlägt. Sie versucht auf linkische Weise, ihre Ehe zu retten und glaubt, nur Risse kitten zu müssen, indem sie gemeinsame Freunde kontaktiert, um zu Mario durchzudringen. Von Durchschnittsmenschen aus dem Dunstkreis ihres Mannes, der sich ihr nach und nach als oberflächlicher Opportunist und „einfallsloser Mensch“ erweist, hat sie allerdings keine Hilfe zu erwarten. Zu dieser schmerzlichen Erkenntnis verhilft ihr sukzessive Carrano, der schon bei ihrer ersten Begegnung Olga darauf aufmerksam macht, ihr Mann habe „keinerlei Manieren“. Gute Umgangsformen, Höflichkeit und Feingefühl jedoch gehören zu den Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Dessen ungeachtet missdeutet Olga Carranos Hilfsbereitschaft und Menschlichkeit lange als „klebrige Höflichkeit“ oder „lächerliche[] Geste“ und unterstellt ihm anzügliche Gedanken. Einen One-Night-Stand und viele Buchseiten später muss er sie überdies darüber aufklären, sie selbst sei „nicht viel anders“ als Mario, schließlich seien sie „lange zusammen“ gewesen. 

Wieder wird sich Olga über einen schlummernden Teil ihres Ich Rechenschaft ablegen müssen: „Ich war stumpfsinnig genug, mich als rechtwinklig auszugeben“, stellt sie fest, „sogar meinen Hang, von einer Phantasie zu nächsten zu flattern, hatte ich mir erfolgreich abgewöhnt.“ Spät – und unter anderem dank eines Konzertbesuchs in einem kleinen Theater, bezeichnenderweise „eine[r] glatt geschliffene[n] Nussschale ohne Ecken“, wird ihr klar, sie muss im Leben viel mehr ersetzen als nur den einen Mann durch einen anderen. Sie hat Carrano eine Nacht lang zum Werkzeug ihrer Rachegelüste gemacht, um Mario dessen Untreue heimzuzahlen – eine äußerst fremdbestimmte und entwürdigende Handlung, durch die sie sich nur weiter selbst beschädigt und sich, entgegen ihrer eigentlichen Absicht, ihrer Freiheit beraubt. 

Nur widerstrebend akzeptiert Olga, dass sie mit allem brechen muss, was ihr bisher als selbstverständlich erschien. Auch und vor allem ihr Menschenbild muss sie einer Revision unterziehen. Zu lange hatte es sich an Äußerlichkeiten, dem Aufrechterhalten des bloßen schönen Scheins, orientiert, was für sie „das ständige Bemühen“ nach sich zog, „nichts als Nektar und Ambrosia“ zu sein und „alles Körperliche zu eliminieren“. Doch die rohe, ungeschönte Physiologie holt sie nun, in den Tagen ihres Verlassenwerdens, nur umso ungefilterter ein. Die eigenen Körpersäfte, das Erbrochene ihres kranken Sohnes, die Ausdünstungen und Ausscheidungen des sterbenden Haustiers, des Schäferhundes Otto, die die Kreatur auf ihre physische Existenz reduzieren, setzen ihr zu. Eine Eidechse – bei der Autorin durchweg die Ekelmetapher schlechthin – dringt in ihr Zuhause ein, und Olga zerquetscht sie. Nicht genug damit, suchen auch noch Ameisen die Wohnung heim, und sie unternimmt alles, um die Eindringlinge, die auf provokative Weise ihre seelische Verfassung konterkarieren, mit Insektengift zu vertreiben: 

Dieses Gewimmel schien der Aufruf zu einem intensiven, aktiven Leben, das sich über jedes Hindernis hinwegsetzt, mehr noch, das bei jedem Widerstand seinen sturen, grausamen Willen hervorkehrt, den eigenen Weg zu gehen. Umso mehr machte es mir zu schaffen.

Es dauert geraume Zeit, bis es Olga gelingt, den ungebremsten Lebenstrieb als Voraussetzung für den „Zusammenhalt der Dinge“ zu erkennen und ihn nicht krampfhaft aus dem Alltag zu verbannen. In jungen Jahren ist „diese trotzige animalische Energie“ Olga selbst auf gleichsam naive Weise noch zu eigen gewesen, die sich genauso bei Otto in dessen guten Tagen zeigte: „Er preschte los wie das pralle Leben, eine aufgeladene dunkle Masse. Er beschnüffelte die Bäume, setzte einen Haufen ins Gras, jagte Schmetterlinge, verlief sich in dem Pinienwäldchen.“ Ottos Tod markiert dergestalt nicht nur Olgas endgültige Abkehr von Mario, der ihn ihr als Welpe geschenkt, sich dann aber immer selbst um ihn gekümmert hat und ihn gleichwohl anstandslos bei ihr und den Kindern zurücklässt. Nachdem ihr tiefempfundenes Erbarmen mit dem Tier, das in seinen stinkenden Exkrementen liegt und leidet, diesem letztlich gewährt, in ihrem Schoß zu sterben und ihr ihr eigenes Bedürfnis nach „Vergebung“ klar wird, ermöglicht der Verlust des Hundes Olga nun vor allem eine neue Hinwendung zur physischen Vitalität. 

Hat das sinnenhaft Leibliche im eigenen Leben, das oft genug einhergeht mit Blut, Schweiß, Schleim und Tränen, sie vordem verstört und verunsichert, wollte sie es streckenweise nur noch ausmerzen, so gelingt ihr nun eine reflektierte Bejahung solch überschießender Triebhaftigkeit. Den eisernen, unnachgiebigen Drill, mit dem Olga anfangs ihrer Verzweiflung Herr zu werden versucht, hat sie künftig, derart geläutert, nicht mehr nötig. Allzu schnell war zuvor ihre strenge Selbstzucht umgeschlagen in ihr Gegenteil, in Hemmungslosigkeit und Aggression. Nach und nach gelingt es Olga, beide Extreme in sich auszubalancieren, nicht zuletzt, weil – mit Ferrante gesprochen – „der weibliche Körper“ gelernt hat, „auf sich zu achten, die eigene Expansion zu kontrollieren, die eigene Kraft“ (Frantumaglia, S. 128).  

Denn die weibliche Lebensenergie ist schon immer gekoppelt an die „uralte Zuständigkeit der Frauen für alle Bereiche, die mit dem Entstehen von Leben zu tun haben“. Romantisierenden Auslegungen dieser Feststellung erteilt die Autorin in einer ihrer schriftlichen Interviewantworten allerdings eine herbe Absage, denn diese Zuständigkeit lasse „keinesfalls [auf] eine reine Idylle“ schließen (Frantumaglia, S. 127). Und auch im Roman hadert Olga auf drastische Weise mit ihrem Muttersein, hält mitunter schriftlich fest, wie sie sich lange Jahre 

fühlte: wie ein Klumpen Nahrung, auf dem die Kinder pausenlos herumkauen; wie ein Kloß aus lebendiger Materie, der seine organische Substanz beständig aufweicht und mischt, damit zwei gefräßige Blutegel sich daran nähren und ihm den Geruch und Geschmack ihrer Magensäfte anhängen können. Stillen, wie widerwärtig, das war etwas für Tiere. Und dann der laue, süßliche Breigeruch aus ihren Mündern. Ich konnte mich waschen so viel ich wollte, diesen Mamagestank wurde ich nicht los. 

Doch so sehr sich Olga in der Mutterrolle auch auf ihre Biologie beschränkt sieht, so nachdrücklich bezieht sie aus ihrer instinktiven Sorge um die Kinder letztlich die Kraft, sich nicht vollkommen gehen zu lassen. Denn das lateinische „vigere, mit dem man das Aufblühen des Lebens bezeichnet“, schreibt Ferrante, „hat einen gemeinsamen Wortstamm mit vigile (wachsam) und veglia (Wache)“ (Frantumaglia, S. 127). Es weist auf ein Durchsetzungsvermögen, das nicht auf Biegen und Brechen und um jeden Preis sein Ziel erreicht, sondern legt eine besonnene Art der Selbstbehauptung nahe, die eng mit Achtsamkeit und Aufmerksamkeit für das, was aus ihr folgt, verknüpft ist. 

Zu erreichen ist ein derart ausgewogener Zustand kontrollierter Kraft indessen nur in wenigen glücklichen Momenten. Immer wieder kann alles sicher Geglaubte aus den Fugen geraten. Diese prinzipielle Unsicherheit spiegelt die sprachliche Unmittelbarkeit, mit der die Protagonistin ohne jeden kontemplativen Abstand kataraktartig die Unbilden der Trennung, der Zerschlagung von Ordnungssystemen und ihre stückweise Neuformation schildert. Das psychologische Phänomen, dass unser praktisches Handeln nicht immer mit unserem theoretischen Erkenntnisgewinn Schritt hält, macht die Lektüre von Olgas emotionaler Achterbahnfahrt und die hellsichtigen Analysen ihrer trostlosen Lage stellenweise zu einer Herausforderung, weil Olgas Verhalten ihren Reflexionen Mal um Mal hinterherzuhinken scheint. Doch „[w]enn die Gefühlswelle heranrollt, bäumt sich das Schreiben auf, erregt sich, irrt hektisch herum und saugt alles auf, umgibt sich mit Erinnerungen, Wünschen“, so beschreibt die Autorin in Frantumaglia selbst die Gemütsverfassung der Ich-Erzählerinnen ihrer beiden ersten Romane (S. 132). 

Dieser naturalistische Erzählduktus der Hauptfigur erzeugt einen retardierenden Effekt in Bezug auf ihre Entwicklung hin zum autonomen Subjekt. So wird nicht auf Anhieb deutlich, was – wie übrigens auch Delia in Lästige Liebe – Olga alles hinter sich lässt: Ihre anfänglichen Täuschungsversuche und Vergeltungsmaßnahmen – sie schreibt Mario Briefe ohne sie je abzuschicken und lügt darin, sie stalkt ihn eine zeitlang, von einer erschreckenden Ausnahme abgesehen, hartnäckig aber erfolglos – sind lediglich affektgesteuerte Leistungen einer instrumentell verfahrenden Vernunft. Nur langsam wird deutlich, dass dem Auseinanderbrechen der eigenen Existenz erst dann restitutiv zu begegnen ist, wenn Olga ihrerseits ihre triebhaften und ihre rationalen Gemütsanteile zunächst auseinanderhält, um ihnen auf den Grund gehen und sie neu bewerten zu können – was nichts weniger bedeutet als „das Leben neu lernen zu müssen“. Mit dieser Neuauslegung von „Leben“ als „ein glücklicher Schreck; ein stechender Schmerz, ein intensives Lustgefühl, pulsierende Adern unter der Haut“ geht Hand in Hand der „Sinn“: die selbstbestimmte Anreicherung des unmittelbar sinnlich Erlebten mit Bedeutung. 

Bis dahin ist es nur folgerichtig und illustriert ihr inneres Zerwürfnis, dass Olga wortwörtlich Sinnes-Täuschungen erliegt. Namentlich die poverella sieht sie in ihre Hefte schreiben, ja sie führt „regelrechte Gespräche“ mit ihr. Diese sind letztlich nichts anderes als Selbstgespräche und somit Mittel zur Selbstobjektivierung und Selbstvergewisserung: Die poverella ist der konstitutive Teil unseres Ich aus einer unerledigten Vergangenheit, welcher in uns zur Abwägung gebracht und erlöst werden muss, damit wir – derart ausgesöhnt – zu neuen Ufern gelangen können. Ihre bedingungslose Liebesfähigkeit mag ein Relikt aus vergangenen Zeiten sein, doch sie überdauert als Regulativ für die kommende Zeit: „,Geh zu Carrano‘“, rät sie Olga, und zwar „in breitestem Neapolitanisch“, „,lass dir von ihm helfen.‘“ 

Doch selbst ein zufälliger Konzertbesuch, bei dem sie Carrano als begnadeten Cellisten erlebt, überzeugt Olga noch nicht von dieser Notwendigkeit. Als sie nach dem Abschwellen des Applauses glaubt, „Ottos Schatten überquere freudig die Bühne wie eine dunkle Vene das pochende glänzende Fleisch“, bringt sie diese hochsymbolische Wahrnehmung nicht mit dem Musiker in Verbindung, bleibt sie ihm gegenüber misstrauisch und spröde. „[E]ine mysteriöse Macht“, die von Carrano ausgeht, schüchtert sie zunächst noch förmlich ein, bevor sie sie als die „Gabe […], Sinn zu geben“ begreift, „ein Gefühl der Fülle und Freude“, woneben das ungelöste Rätsel um Ottos qualvollen Tod an Bedeutung verliert. Das „lebendige Leben“, so beginnt Olga zu verstehen, ist mehr als die vom Verstand gelenkte Verknüpfung von „Ursache und Wirkung“, es integriert alles, „die modrige Erde der Toten, Aufmerksamkeit und Unaufmerksamkeit, enthusiastische Sprünge des Herzens und [sogar] das plötzliche Wegbrechen von Sinn“. 

Den freien Fall in des Lebens Abgründe hat sie lange mit den Mitteln der Logik abzufedern versucht, mit intellektuellen Abwehrreflexen gegenüber den Schicksalen einer Gebrochenen Frau oder einer Anna Karenina – allesamt Notbehelfe, die in blinden Aktionismus umgeschlagen sind. Sie verfangen ebenso wenig wie die Wunschvorstellung, mit selbstauferlegter Gefühlskälte das Fegefeuer des Verlassenwerdens heil zu durchqueren und ein lebensgeschichtliches Trümmerfeld auf diese Weise unbeschadet hinter sich lassen zu können. Das Bild des Salamanders, der durch Feuer läuft, ohne Schmerz zu empfinden, das Olga anfangs bemüht, um nicht der schmählichen Untreue Marios ohnmächtig zu unterliegen, ist genauso untauglich zur Neugestaltung ihres Daseins wie das Vorhaben, gegen Eidechsen, Ameisen, Einbrecher und sich selbst zu „kämpfen“. Gewaltsam, mit den Mitteln leidenschaftlicher oder rationaler – gar mechanischer – Entgegensetzungen, mit Hebeln und mit Schrauben respektive einer „Eisenschiene“ und mit rohen Kräften erreicht Olga nichts. 

Weiter als der mechanistische bringt Olga darum später der phantasievolle Ansatz. Einige Abende lang sieht sie sich Familienfotos an und sucht in ihrem jugendlichen Körper nach „Zeichen [ihrer] Autonomie“, späht in den Zügen ihrer Kinder Wesensarten Marios aus, betrachtet diese als Zeugnis ihrer verloschenen Beziehung, „um dennoch auf unsichtbare Weise weiterzuwirken.“ Dieses Innehalten inspiriert sie, „Augen, Ohren, Beine, Nasen und Hände“ von Mario, den Kindern und sich selbst „mit der Schere auszuschneiden“ und „auf einen Bogen Zeichenpapier zu kleben“. Den „futuristische[n], seltsam monströse[n] Körper“, der dadurch entstanden ist, wirft sie danach „schnell in den Müll“. Ferrante wird diese Parabel für ein lebensgeschichtliches Transformationsgeschehen, so wie viele weitere früh vorgeprägte Sinnbilder, sublimiert in ihre Tetralogie übernehmen. Dort zerstückelt Lila auf die ihr eigene geniale Weise ihr Hochzeitsfoto und nimmt damit eine radikale Dekomposition vor, welche ihr Lebensgefühl grausamer Zerrissenheit und abgrundtiefer Enttäuschung abbildet, bevor die in einem Akt inspirierter Schöpfungsfreude entstandene Collage auf naturgesetzlich unerklärliche Weise ein Raub der Flammen wird und so zur Unwiederbringlichkeitsmetapher avanciert. 

Olgas ehedem gewaltsames Vorgehen hat ihre innere Entzweiung lediglich verstärkt. Sie hat mit Obszönitäten reagiert und ist ihrerseits übergriffig geworden. So gefangen in dem Teufelskreis von „Aktion und Reaktion“ wird auch ihre Mutterliebe auf die Probe gestellt, und die Beziehung zu ihren Kindern durchläuft gleichfalls einen Prozess der Umgestaltung hin zu einem freizügigen Verhältnis, an dem schließlich wiederum Carrano maßgeblichen Anteil hat. Ob es Olga allerdings gelingen wird, Gianni und Illaria unabhängig von tradierten Rollenbildern großzuziehen, darauf gibt der Roman nur andeutungsweise Antworten. Der fiebernde kleine Junge, an dem Olga schon die Züge eines Draufgängers entdeckt, wird wieder gesund und muss, anders als Otto, dessen Tod auch die Loslösung von obsolet gewordenen Verhaltensmustern markiert, nicht sein junges Leben lassen. Illaria dagegen übernimmt zeitweilig die Mutterrolle bei ihrem Bruder, schminkt sich wie Olga, schlüpft in deren Stöckelschuhe und hofft und plappert heraus: „Jetzt sind wir gleich.“ Ein Blick in den Spiegel sowie in sich selbst offenbart Olga, innerlich und äußerlich zerrüttet, dass sie dies indes nicht wollen kann. Ihr Selbstbild gerät einmal mehr ins Wanken, und die Episode führt dazu, dass sie im Badezimmerspiegel nicht nur ihre beiden Gesichtshälften, sondern auch sich selber einer weiteren Prüfung unterzieht und feststellt, dass sie in ihrer „linken Gesichtshälfte, in der changierenden Physiognomie der verborgenen Seiten, die poverella wiedererkannte“.

Als Olga dieser Befund nicht mehr ängstigt, sie sich nicht mehr fühlt „wie bloßer Atem, komprimiert zwischen den schlecht verbundenen Hälften einer Person“, als sie erkennt, dass „die Welt der guten Gründe“ ihrer Jugend sich zersetzt – „ihre Kugel war zu einer dünnen, runden Platte geschrumpft, so dünn, dass sie in der Mitte, wo sie einzelne Stücke verloren hatte, schon löchrig schien, bald würde sie aussehen wie ein Ehering“ – als sie diesen einstigen Ausweis von Verlässlichkeit und Fortdauer also als ein Anzeichen bevorstehender Auflösung, das Symbol einer überlebten Form deutet und demgegenüber zu erkennen beginnt, dass der „Zusammenhalt der Dinge“ „gelegentlich lästigen Elementen überlassen“ werden muss, „die ihr Gesamtbild zu stören scheinen“, wird sie gewahr, dass das einzig probate Mittel, die Zukunft zu gestalten, darin zu finden ist, die Abwehrhaltung gegen die lästigen Figuren der Vergangenheit abzulegen und sie in Aufnahmebereitschaft zu verwandeln. Derart – und geradezu hermeneutisch anverwandelt – verliert die poverella ihren Schrecken, kann sie getrost „wieder ein altes Foto, blutleere, versteinerte Vergangenheit“ sein. Denn die Vorstellung einer stetigen Entwicklung in aufsteigender Linie, die frühere Lebensformen als endgültig überwunden außer Kraft setzt oder als unnütz ausstreicht, sie aus der Gegenwart verbannt und als Richtwert für Kommendes als untauglich ansieht, weicht einer Anschauung bejahter „Achronie“ – so ein Begriff, den Elena Ferrante in Frantumaglia verwendet: Statt sich gegen die Schatten der Vergangenheit zu wehren und sie aus dem eigenen Leben verbannen zu wollen, gilt es, sie diesem bewusst einzuverleiben, und so selbst die lebendige Vermittlung darzustellen, in welcher die Zeitalter oszillieren (S. 133).

Wer schon von der Geschichte Elenas und Lilas gefesselt war, hat nun, in der Zeitgenossenschaft einer bedeutenden Autorin und in der werkbiografischen Rückschau, das seltene Privileg, Weltliteratur beim Entstehen zuzusehen. Im Vergleich zur erzählerischen Dynamik der Tetralogie erscheint Tage des Verlassenwerdens bei der ersten Lektüre sperrig, der teils protokollarische Ton wird wiederkehrend überlagert von Szenen hautnah erlebter, ungeschönt beschriebener physischer und psychischer Zumutungen, die mitunter irritierend wirken. Auf den zweiten Blick aber ist die sprachliche Drastik mitnichten fehl am Platz. Der Roman entwickelt beim wiederholten Lesen eine metaphorische Dichte, die ihresgleichen sucht, und wird zur Fundgrube für Anspielungen und Motive, die schon aus Ferrantes Erstling Lästige Liebe herrühren und potenziert und verfeinert in die folgenden Schriften der Autorin Eingang finden. Ist man diesen intertextuellen Verknüpfungen und Bezügen erst einmal auf der Spur, möchte man Tage des Verlassenwerdens nicht mehr aus der Hand legen.

Titelbild

Elena Ferrante: Tage des Verlassenwerdens. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Anja Nattefort.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019.
254 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518428856

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