Fontane macht sich zum ‚mittleren Helden‘

Gabriele Radecke gibt mit „Theodor Fontanes ‚Von Zwanzig bis Dreißig‘“ einen neuen Sammelband über Fontane als Autobiographen heraus

Von Martin LowskyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Lowsky

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer die Autobiographie einer großen Persönlichkeit liest, interessiert sich vor allem für den Menschen oder die Epoche, in der er gelebt hat. Der Leser will also Fakten historischer, kultureller oder psychologischer Art erfahren. Aber dem Verfasser der Autobiographie geht es nicht allein um Fakten, sondern auch um die Kohärenz der Ereignisse und der Ideen, den organischen Aufbau, die gute Lesbarkeit, kurz: um die literarische Gestalt seines Berichtens, die Poetizität. Wir sagen da nichts Neues: Besonders seit den Forschungen der amerikanischen Kulturwissenschaftler Hayden White und Stephen Greenblatt weiß man, dass jegliche Geschichtsschreibung ein subjektives Unterfangen ist, das nicht ‚Wahrheit‘ vorträgt, sondern poetisches Schaffen ist. Bei der Autobiographie kommt noch hinzu, dass der Verfasser vielleicht absichtlich Tatsachen unterschlägt und Unwahres erzählt, weil ihm Manches peinlich oder rufschädigend erscheint. Die Grenze zwischen Unwahrhaftigkeit und Kreativität ist freilich fließend. Resümee unserer vielleicht zu knappen Darstellung: Eine Autobiographie ist ein poetisches Werk.

Das alles gilt auch für die Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig von Theodor Fontane (1819–1898), die er in seinen letzten Lebensmonaten publiziert hat und die weit mehr als nur zehn Jahre umfasst. Beispielsweise zieht Fontane der Kohärenz und der Selbststilisierung wegen zwei Daten zusammen (sein Apothekerexamen und den Erstdruck einer Erzählung lässt er an demselben Tag stattfinden), und um sein Engagement bei konservativen Medien zu vertuschen, nennt er seine in Wahrheit sehr intensive Arbeit bei der adelstreuen ‚Kreuz-Zeitung‘ ein „bloßes Stundenabsitzen“. Jedenfalls ist festzuhalten: Obwohl einige Forscher auf die literarischen Freiheiten und Schwindeleien in dem Werk hingewiesen haben, wurde es fast immer als Quellenwerk und Gebrauchsliteratur angesehen, durch die man das literarische Leben im Berlin des 19. Jahrhunderts kennenlernt. Thomas Mann, der den alten Fontane verehrte, pries seine Romane und seine Briefe, erwähnte aber den Autobiographen mit keinem Wort.

Im Jahr 2014 fand in dieser Sache eine Zäsur statt. Von Zwanzig bis Dreißig erschien innerhalb der Fontane’schen Großen Brandenburger Ausgabe in einer neuen Edition mit einer sorgfältigen und reichhaltigen Kommentierung von Wolfgang Rasch und Gabriele Radecke. Sie deckte alle historischen Ungenauigkeiten, Irrtümer und Fehler und die falschen Namensangaben auf, stellte also, um es scharf zu sagen, den ‚Schwindler Fontane‘ bloß – und öffnete damit den Lesern die Augen für die genuin poetische Qualität des Werkes. Kürzlich wurde im Text-und-Kritik-Band Fontane der Beitrag ‚Fontane als Klatschmaul‘ veröffentlicht (von Tilman Krause); diese tiefsinnige Hommage wäre ohne die Neuedition von 2014 nicht denkbar.

Der soeben von Gabriele Radecke vorgelegte Sammelband zu Fontanes Von Zwanzig bis Dreißig ist ein Begleitbuch zu der genannten Edition von 2014, doch nicht nur dies. Die klugen Aufsätze über den Autobiographen Fontane sind auch für sich sehr studierenswert. Um Fontanes Haltung zu den Personen seiner Autobiographie geht es in den Abhandlungen von Carmen Aus der Au, Peter Goldammer und Hartmut Hombrecher. Sie legen dar, wie Fontane seine Figuren ‚fiktionalisiert‘ und dabei sehr eigenwillig mit Franz Kugler, dem schriftstellernden Kunstprofessor, und dem großen Theodor Storm umgeht. Markus Bernauer behandelt in seinem Beitrag das Verhältnis Fontanes zu Paul Heyse, dem erfolgreichen Kollegen. Trotz einiger freundschaftlicher Gefühle lehnte Fontane diesen, wie er ihn sah, Ästhetizisten und Goethe-Epigonen ab, und tat diese Ablehnung in seiner Autobiographie dadurch kund, dass er in diffuser Weise betonte, der Mensch Heyse sei bei den damaligen Dichterkreisen angeeckt. Jana Kittelmann legt dar, dass Fontane angesichts der damaligen Memoiren-Schwemme lange Zeit Bedenken hatte, seine Lebensgeschichte zu Papier zu bringen. Schließlich fand er einen Ausweg und wählte einen radikalen Ansatz, den wir heute modern nennen: Das hervorgehobene Detail, ja das Bruchstück und den „Kleinkram“ (so Fontanes Wort) nahm er wichtiger als die Chronologie, die erzählerische Geschlossenheit oder gar die kosmische Konstellation, mit der Goethe seine Autobiographie begonnen hatte.

Bemerkenswert ist der Aufsatz von Hubertus Fischer über den fruchtbaren Dichterverein ‚Der Tunnel über der Spree‘, dessen Dasein ungefähr mit Fontanes Lebenszeit zusammenfällt. Die Forscher, die sich diesem Verein widmeten, standen ganz im Banne Fontanes, der Mitglied gewesen war; sie „kreisten“, wie Fischer sagt, ständig um das, was er in Von Zwanzig bis Dreißig über ihn berichtet hatte. Erst ab 1990 wurde begonnen, diesen Dichterverein losgelöst von Fontane als einen unter mehreren zu betrachten.

Matthias Grüne arbeitet in seinem Beitrag heraus, dass der Autobiograph Fontane geradezu wie ein Romancier erzählt: Er lasse viele Personen als große und kleine Helden auftreten und präsentiere erzähltechnisch geschickt sich selbst als „mittleren Helden“ (den Begriff gibt es in der Erzähltheorie). Diese kunstvolle Bescheidenheit Fontanes biete ihm den Vorteil, dass er politische Erklärungen statt sich selbst seinen Mitmenschen in den Mund legen kann und dass er selbst zum Beobachter des Geschehens wird, ja sogar zum Bundesgenossen der Leser, die das Ganze doch auch nur beobachten. Grünes These vom ‚mittleren Helden Fontane‘ ist ein Glanzpunkt des Buches.

Dieser Band, mit Register und Faksimile-Abbildungen auf dem Umschlag ausgestattet (ein schmuckes Buch!), führt in die Spannungen des autobiographischen Erzählens ein, in den Gegensatz und das feine Ineinander von Poetizität und Fakten. Es handelt sich hierbei laut der Einleitung des Bandes um genau jene Bipolarität, die Goethe schlicht und prägnant mit dem Ausdruck Dichtung und Wahrheit bezeichnet hat.

Titelbild

Gabriele Radecke: Theodor Fontanes „Von Zwanzig bis Dreißig“. Zu Edition und Interpretation des autobiographischen Werkes.
Quintus-Verlag, Berlin 2020.
200 Seiten ,
ISBN-13: 9783947215331

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