Über ein dunkles Geheimnis, Stärke, Flucht und spätes Verzeihen

Monika Hürlimann lässt uns in „Marta“ eine Lebensgeschichte vor historischem Hintergrund nachempfinden, lüftet dabei ein dunkles Familiengeheimnis und zeigt schonungslos, wieviel Kraft einen das Leben kosten kann

Von Stefanie SteibleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Steible

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Schweizer Medizinerin Monika Hürlimann erzählt in ihrem Debütroman eine Lebensgeschichte, die sich vor dem Hintergrund einer Flucht aus dem kommunistischen Polen abspielt. Die dadurch ausgelösten Gefühle und Anforderungen an eine junge Frau bettet die Autorin in den Hintergrund gelebter Zeitgeschichte ein. In vielen Teilen dürfte der Roman autobiographisch sein, ohne dass die verwendeten Namen und Orte übereinstimmen.

Das Buch berührt seine Leser und öffnet sehr persönliche Einblicke in das Erlebte, ohne sentimental zu werden. Trotz eines nüchternen, naturwissenschaftlichen Erzählstils, der sehr gut das Verhältnis zur zweiten Hauptfigur des Romans – der Mutter der Erzählerin – beschreibt, vermag es die Autorin den Leser immer wieder mitten in die Geschichte zu holen. Der Roman baut einen breiten Spannungsbogen auf, dessen Ende jedoch etwas enttäuscht.

Marta wächst mit ihrem Zwillingsbruder Tomek bei der für sie unnahbaren Mutter im kommunistischen Polen auf, die sie allein erzieht. Sie erlebt, wie ihr Bruder trotz mittelmäßiger Leistungen bevorzugt wird, wie die Mutter sich für andere Kinder aufopfert, die sie in sozialer Arbeit betreut. Schon als Kind stellt sie sich viele Fragen zu ihrem familiären Hintergrund. Sie kennt nur die offizielle Version, nach der die Mutter das Konzentrationslager Auschwitz überlebte, dort jedoch Opfer medizinischer Versuche geworden sei, mit deren Folgen sie immer noch kämpft.

Das junge Mädchen erlebt eine Mutter, die immer nur für andere da ist, viel arbeitet und ihr keinerlei Anerkennung zeigt. Schon früh lernt sie, sich selbst zu organisieren und für sich zu kämpfen. Menschliche Nähe findet sie bei ihrer Ersatzfamilie Bukowski. Die hier hergestellten Beziehungen und Erzählstränge verwirren zum Teil, weil sie nicht auserzählt und häufig erst rückblickend dargestellt werden. Sie zeigen aber auch einen schönen Kontrast dazu auf, wie es für die in Polen verbliebenen Menschen nach der Abkehr vom Kommunismus weiterging.

Marta erfährt als Jugendliche in dem Bemühen, Fleisch für die Familie zu organisieren, sehr deutlich, dass es im Kommunismus gleiche Menschen und gleichere gibt. Rückblickend kann sie daher verstehen, warum ihre Mutter 1984 die gefährliche Flucht nach Westdeutschland organisierte und auch, welche Risiken andere Menschen da für sie eingegangen sind. Dennoch wird sie als 15-Jährige mitten in der Pubertät aus ihrer Heimat gerissen. In Deutschland fühlt sie sich lang orientierungslos. Sie wundert sich zwar darüber, wie gut die Mutter Deutsch spricht, kann dies aber nicht einordnen. Das junge Mädchen entwickelt im Unterschied zu ihrem Bruder einen ungeheuren Willen, das von der Mutter auf sich genommene Risiko zurückzuzahlen. Schließlich wird die Familie in Kiel ansässig und Marta schafft es relativ schnell aufs Gymnasium. Dort lernt sie, was Freundschaft wirklich bedeutet und dass es weder auf Äußerlichkeiten, Besitz noch den Notendurchschnitt ankommt, sondern darauf, sich auf andere verlassen zu können. Sie erkennt, welche Bezugspersonen ihr gut tun und wendet sich immer mehr von ihrer Familie ab.

Nach dem Abitur geht sie nach Berlin, um Medizin zu studieren. Ihr Zwillingsbruder bleibt bei der Mutter und sie lebt ihr scheinbar tristes Leben zwischen Aquarium, Schrebergarten und Zigaretten. Die Beziehung zu beiden kühlt merklich ab. Neben den fachlichen Inhalten lernt Marta, sich und ihr Lernen zu organisieren, aber auch eine Beziehung zu führen. Dabei muss sie erkennen, dass ihre Vergangenheit auch neu geknüpfte persönliche Kontakte beeinflusst.

Martas Leben gleicht trotz einiger Konstanten einer ewigen Suche. Sie trifft sich mit ihrem bis dato unbekannten Vater, ohne ihm die wichtigsten Fragen zu stellen. Sie ist mutig, ohne dies selbst immer sofort zu erkennen. Sie ist interessiert am Denken anderer, ohne es als ihre Berufung zu akzeptieren. Sie ist realistisch, ohne getroffene Analysen sofort in die Realität umzusetzen. Doch die junge Frau geht ihren Weg und beginnt schließlich ihre praktische Medizinertätigkeit in der Schweiz. Eine neue Suche beginnt. Anfangs noch der festen Überzeugung – vor allem ob des Dialektes – schnell wieder nach Berlin zurückzukehren, verliebt sie sich in die Berge, die Ruhe, die Annehmlichkeiten des Schweizer Arbeitslebens und schließlich auch in einen Mann. Doch erst viele Jahre später wird sie erkennen, was Liebe wirklich bedeutet.

Als Martas Bruder erkrankt und die Mutter ebenfalls hilfsbedürftiger wird, gelingt es der Autorin, eine lange und starke Passage zu entwickeln, die beschreibt, wie schwer es auch für eine Ärztin ist, ihre Familie bei massiven gesundheitlichen Problemen zu unterstützen. Beeindruckend sind zudem die Gedanken, die sich damit beschäftigen, wo Heimat tatsächlich ist und ob man als Exilschweizer dazu gehören kann oder für immer außerhalb des Systems bleibt. 

Marta bietet vieles, was wir andernfalls nur aus Geschichtsbüchern lesen können. Die Autorin setzt mit ihrem Werk das um, was Marta in ihrem Leben des Öfteren verpasst hatte. Am Ende wird sie von dieser Erkenntnis eingeholt und stellt sich den offenen Fragen ihres Lebens und vor allem der Historie ihrer Mutter, deren Flucht in das Land der Nazis immer rätselhaft geblieben war. Ihre Geschichte entpuppt sich schließlich als dunkles Lebensgeheimnis, das Marta nicht mehr loslässt.

Wie sie mit diesem Vermächtnis leben kann, wäre interessant gewesen zu erfahren, auch vor dem beruflichen Hintergrund der Autorin. Doch die Selbstdiagnose fällt schwer und so bleibt der Leser mit einigen offenen Fragen zurück. Gegen Ende verfällt der Roman zu sehr ins Klischeehafte. Doch in breiten Zügen arbeitet die Autorin mit schonungsloser Offenheit. Sie zeigt uns, wozu Menschen – positiv wie negativ – fähig sein können, und schafft damit ein großes Verständnis, ohne belehren zu wollen, und das in einem angenehmen, gut lesbaren Schreibstil.

In jedem Fall macht der Roman Mut, dass die Suche nach der eigenen Identität sich trotz aller Schmerzen lohnt. Die vielen parallelen Erzählstränge erschweren es manchmal, den Fokus zu behalten. Andererseits ist das Leben eben keine Einbahnstraße, und so greift Marta unerwartete Wendungen genauso auf wie Probleme in der Zusammenarbeit mit Kollegen oder das Sich-Nicht-Zurechtfinden in einem System sowie die Zweifel an der eigenen Arbeit, wohlwissend, dass sie sich auf einem hohen Niveau bewegt. Marta kann ihre Wurzeln dabei nie verleugnen, aber das scheint ihr auch zu helfen, trotz aller im Laufe der Zeit erarbeiteten Annehmlichkeiten bodenständig zu bleiben.

Titelbild

Monika Hürlimann: Marta. Heimat in Polen, Deutschland und in der Schweiz.
Roman.
Anthea Verlag, Berlin 2020.
436 Seiten , 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783899983616

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