Dialektik der Stille

Dirk Popes Jugendroman „Still!“ ist ein bemerkenswert undogmatisches Plädoyer für Toleranz

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Denn was laut ist, kann nicht lauter sein.“

Rigo Baladur, Der Stille Tod

Wir sind von Geräuschen umzingelt. Überall macht sich Lärm breit. Auf den Straßen. Am Himmel. In den politischen Debatten. In der Wohnung des schlagbohrhämmernden Nachbarn. Stille erscheint angesichts des Lärms und des pausenlosen Gebrabbels als die große Sehnsucht unserer Zeit. Mit A Quiet Place hat der Regisseur John Krasinski eine vom Stummfilm inspirierte Dystopie auf die Kinoleinwand gebracht, in der die Menschen nur überleben, wenn sie sich mucksmäuschenstill verhalten. Und Donald Trump wird bei der letzten TV-Debatte zwischendurch das Mikrofon abgestellt. 

Auch dem Autor Dirk Pope müssen die akustischen Emissionen gehörig auf die Nerven gegangen sein. In seinem neuen Roman Still! hält er einhundertneunzig Seiten lang den Mute-Button gedrückt. Wie das geht?

Mariella, Popes jugendliche Protagonistin, redet nicht. Nicht mit den getrennten Eltern, nicht mir den Mitschülern, nicht mit den Lehrern. Halb wurde sie in die Rolle der Schweigerin gedrängt, halb hat sie sich bewusst dafür entschieden. Einen Grund für ihre Sprachlosigkeit findet sie in den Zwistigkeiten zwischen ihren Eltern: „Ich glaube, je lauter es zu Hause wurde, umso leiser wurde ich.“ Einen anderen in der unablässigen Geschwätzigkeit, mit der unsere Gattung den Planeten überzieht: „Nun, ich glaube, es wurde einfach zu viel gesagt. Über die Tage, Jahre, Jahrhunderte.“

Das beharrliche Schweigen Mariellas eckt an. Ihre Mutter reagiert zunehmend verzweifelt, ihre Lehrer fühlen sich provoziert, die Mitschüler mobben sie. Das wäre ja vielleicht noch auszuhalten. Doch so leicht will es Pope seiner Heldin nicht machen. Er versetzt sie immer wieder in Situationen, in denen Wut und Verzweifelung aus ihr herauszubrechen drohen. So wird das Sprechenmüssen fast unausweichlich, als ihr Torben im Sportunterricht mit voller Wucht einen Handball ins Gesicht wirft. Oder als ihr Vater auf den Plan tritt, um sie aus der Wohnung der Mutter zu sich zu holen. Doch die Kämpferin Mariella besteht alle diese Prüfungen – und gibt weiterhin keinen Ton von sich.

Obwohl sie sich als „Outlaw“ und „Gesetzlose“ fühlt, ist sie keineswegs allein. Da ist der Hausarzt Dr. Baumann, der sich weigert, ihr Schweigen als psychische Störung zu pathologisieren. Da ist Schuldirektor Dr. Melzer, der auf die Anwürfe von Mariellas Deutschlehrerin gelassen statt vorwurfsvoll reagiert. Da sind der „Mitschweiger“ Lehrer Sonntag und das stille Mädchen Frida, die mit Mariella sympathisieren und sie in ihrem Anderssein bestärken. Da ist – last but not least – der gehörlose Stan, mit dem sie sich anfreundet und in den sie sich verliebt.

Still! stellt den Leser vor etliche Fragen. So wie diese: Wie kann man einen Roman, also ein erzählerisches Werk, aus der Ich-Perspektive einer – schweigenden – Protagonistin schreiben? Immerhin reflektiert Mariella sich und ihre Umwelt unablässig. Sie seziert sprachliche Konventionen, imaginiert Interviews mit dem IfaS (Institut für angewandtes Schweigen), und ersinnt brillante Aphorismen. Ist das noch Schweigen oder eher ein nach innen gestülptes Plappern? Pope hat diesen Selbstwiderspruch mitbedacht. Und so liefert sein Roman die Einwandbehandlung gleich mit. Denn schließlich, so korrigiert Mariella den IfaS-Interviewer, „gebrauche [ich] ja Wörter, eine Mehr-, Viel- und Unzahl sogar. Ich artikuliere sie nur nicht laut.“ Auch heruntergeschluckte Worte sind noch da.

Und weiter: Sind die WhatsApp-Dialoge, die Mariella mit Stan führt, nicht nur ein ins Elektronische verlagertes Gefasel und demzufolge nur ein jämmerlich schlechter Ersatz für die sprachliche Kommunikation von Mensch zu Mensch? Auch darauf kann Popes Mariella etwas erwidern. So widerspreche das WhatsApp-„Geschwätz“ mit einem Gehörlosen dem Schweigegelübde nur teilweise, da dieses für Stan praktisch nicht existent sei. Man könne einen Blinden ja auch nicht dadurch beeindrucken, dass man die Augen schlösse.

Und noch eine weiteres, sozusagen ontologisches Fragezeichen stellt sich auf: Schafft konsequentes Schweigen mit dem Lärm nicht auch die Stille ab? Denn ohne Lärm lässt sich die Stille nicht hören.

Die erste Antwort, die Popes Buch darauf gibt, findet sich in einem Exkurs über den estnischen Komponisten Arvo Pärt. Die Musik dieses „Meister[s] der vertonten Stille“ wird von Mariella als „Soundtrack meines Schweigens“ reklamiert. Stille wird erst zugänglich durch Töne und Geräusch, nicht im akustischen Nichts.

Die zweite Antwort liegt im Fortgang der Geschichte selbst: Der Konflikt zwischen Mariella und ihren beiden Kontrahenten Torben und Isabell spitzt sich zu. Auf der Plattform eines Aussichtsturms kommt es bei nächtlicher Dunkelheit zu einem Gerangel, durch das die wortkarge Frida – die, wie sich herausstellt, die Schwester von Stan ist – in den Tod stürzt. Auf der Trauerfeier hält Mariella eine kurze Ansprache, mit der sie ihr Schweigen aufgibt. Eine Inkonsequenz? Nein. Auf die Frage, ob sie jetzt wieder spricht wie alle anderen, antwortet Mariella mit einem doppeldeutigen „Vielleicht“. Schweigen, so die dialektische Pointe des Romans, ist nur eingebettet in ein Reden möglich.

Hätte Frida ohne Mariellas Schweigen überlebt? Hätte eine Warnung sie abgehalten, die Stufen des Turms zu erklimmen? Das lässt Pope bewusst offen. Auch den beiden Mobbern kurzerhand die Schuld in die Schuhe zu schieben, ist ihm zu einfach. Der IfaS-Interviewer spricht folgerichtig die Integrität des Einzelnen an: „Bleiben Sie doch zunächst einmal bei sich und überlegen Sie, was Sie anders hätten machen können.“

Das Ende fällt versöhnlich aus. Die Geräusche, findet Mariella, seien gegenseitigem Respekt und einem freundlichen Miteinander gewichen. Und im finalen WhatsApp-Dialog mit Stan wünscht sie sich, ihrer Berührungsangst zum Trotz, vom Freund umarmt zu werden. Damit beschreibt der Roman eine Resozialisierung, die nicht auf Kosten des Eigensinns seiner Heldin geht, sondern auf Basis einer Annäherung geschieht.

Pope ist ein verflixt kluges Jugendbuch gelungen, das sein Sujet außerordentlich differenziert beleuchtet, voller spannender Wendungen, geschrieben mit unbändiger Lust an der Sprache. Der Autor untersucht die innere Befindlichkeit und Entwicklung Mariellas, ohne falsche Patentrezepte an die Hand zu geben oder einfache Antworten zu präsentieren. Gekonnt verwebt Pope unterschiedliche Textsorten wie inneren Monolog, Interview, Chat, Listicle, Aphorismus und sogar kurze ,Kochrezepte‘ miteinander – eine Montage, die erstaunlich gut funktioniert und den Flow der Geschichte unterstützt.

Manchmal scheint es, als luge hinter der Geschichte der Sport- und Deutschlehrer Pope selbst hervor. Mal greift der ins Repertoire der Schuldidaktik, mal nimmt er sich selbst auf die Schippe. So lässt er seine Heldin darüber sinnieren, dass Sportlehrer „keine richtigen Lehrer“ sind: „Ich glaube, die meisten Menschen, die dieses seltsame Fach unterrichten, tun es nur, weil sie einen Ausgleich für das brauchen, was ihnen an Grobheiten in anderen Fächern untersagt ist.“

Ein geräuschloses Innehalten, das Betätigen der persönlichen Stummschalttaste – das verordnet Pope übrigens auch seinen Lesern. Denn anders ist es nicht zu erklären, dass uns Mariella auf dem Titelcover entgegenblickt, einen Zeigefinger auf die geschlossenen Lippen gelegt. Still! ist auch ein Imperativ.

Titelbild

Dirk Pope: Still!
Carl Hanser Verlag, München 2020.
192 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783446268166

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