Vier von Millionen

Tima Kurdi erzählt in „Der Junge am Strand“ die Geschichte hinter der Fotografie ihres toten Neffen Alan

Von Nora WeineltRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nora Weinelt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den frühen Morgenstunden des 2. September 2015 spült das Meer eine Kinderleiche an den Strand vor der türkischen Hafenstadt Bodrum. Es ist die Leiche des zweijährigen syrischen Jungen Alan Kurdi, ertrunken bei dem Versuch seiner Familie, auf einem überfüllten Flüchtlingsboot die Küste der nahegelegenen griechischen Insel Kos zu erreichen. Noch bevor Rettungskräfte und Behörden von dem toten Kind erfahren, fotografiert eine türkische Journalistin den kleinen Körper im Sand: Das Bild, das innerhalb weniger Stunden zum Symbol für die Skrupellosigkeit der europäischen Flüchtlingspolitik avancieren wird, zeigt einen Jungen, der beinahe aussieht, als schliefe er, wären seine Arme nicht verdreht, sein Gesicht nicht aufgedunsen, seine Haut nicht schon fahl. Es versinnbildlicht die Schutz- und Schuldlosigkeit der Geflüchteten, und es verändert, zumindest für einen kurzen Moment, den medialen Diskurs über Grenzöffnungen und Seenotrettung. Alle großen westlichen Zeitungen kommentieren betroffen die Wirkmächtigkeit des Fotos; es sei seine Unzweideutigkeit, schreibt Stefan Plöchinger in der Süddeutschen Zeitung, die dem Bild eine solche Kraft verleihe: Aus ihm spricht schierer Horror.

Doch gerade die Tatsache, dass die Aufnahme des toten Alan Kurdi zu einer Fotoikone geworden ist, dass sie sich in das kollektive Bildgedächtnis des 21. Jahrhunderts eingeschrieben hat und über das Einzelschicksal eines toten Jungen hinausweist, erschwert einen tatsächlich respektvollen Blick auf die Ereignisse, der auch die individuelle Dimension nicht aus den Augen verliert. So zumindest ließe sich die Wahrnehmung beschreiben, die sich bei Alans in Vancouver lebender Tante Tima in den Tagen und Wochen nach der verhängnisvollen Überfahrt zunehmend verfestigt. In unzähligen Interviews versucht die gelernte Friseurin, der Öffentlichkeit nahezubringen, warum ihr Bruder Abdullah sich entschloss, sich selbst, seine Frau Rehanne und die beiden Söhne Alan und Ghalib der Gefahr einer Flucht über das Mittelmeer auszusetzen. Sie wird, auch aufgrund ihrer Sprachkenntnisse, gegenüber den internationalen Medien zur Fürsprecherin ihrer toten Neffen, ihrer toten Schwägerin und ihres Bruders, der die Katastrophe traumatisiert überlebt – und muss dennoch zusehen, wie ihr allmählich jegliche Möglichkeit der Einflussnahme auf die sich verselbständigende Berichterstattung entgleitet.

Das Anliegen ihres Buches Der Junge am Strand, das 2018 zunächst auf Englisch erschienen ist und nun in deutscher Übersetzung vorliegt, ist deshalb nicht zuletzt eine Korrektur. Denn neben dem Unglück selbst und der Veröffentlichung des Bildes, das in den sozialen Netzwerken bereits millionenfach geteilt worden ist, bevor überhaupt alle Familienmitglieder vom Tod des kleinen Alan erfahren haben, sind es auch die vielen in der Presse kursierenden Falschinformationen, die sie und ihren Bruder belasten. Obwohl Abdullah in seinen Verhandlungen mit dem Schleuser etwa immer wieder darauf insistiert, unter keinen Umständen mit einem Schlauchboot nach Kos übersetzen zu wollen, und sich schließlich für die deutlich teurere Option eines Holzboots entscheidet, ist in den Medien schließlich allenthalben von einem gekenterten Schlauchboot die Rede. Und obwohl Tima in den Tagen nach der Katastrophe immer wieder darauf hinweist, dass ihre Neffen nicht Aylan und Galip, sondern Alan und Ghalib heißen, findet sie kein Gehör: „In einem Gespräch nannte eine Reporterin Alan immer wieder ‚Aylan‘. ‚Er heißt Alan‘, sagte ich. ‚Mag sein, aber die Welt kennt ihn unter dem Namen ‚Aylan‘. Das können wir jetzt nicht mehr ändern‘, antwortete sie.“

Es gibt zahlreiche solcher Passagen in Der Junge am Strand, die die von der öffentlichen Berichterstattung noch verstärkte Hilflosigkeit der Familie Kurdi in den Tagen und Wochen nach der tödlichen Überfahrt eindringlich deutlich machen. Tima Kurdis Pochen auf die akkurate Wiedergabe von Fakten, und sei sie bloß nachträglich, stellt deshalb auch einen Versuch dar, die Deutungshoheit über das Geschehen zurückzugewinnen und das Foto der Kinderleiche zu de-symbolisieren.

Viel Raum nimmt dabei die Schilderung des Lebens der Familie Kurdi vor dem Krieg ein, angefangen mit Timas und Abdullahs Kindheit im Damaskus der 1970er Jahre. Die insgesamt sechs Geschwister wachsen in einem liberalen Haushalt auf, sie leiden weder wirtschaftlich noch politisch Not, feiern ausgelassene Feste. Nichts deutet darauf hin, dass die Kinder einmal ihr Heimatland werden verlassen müssen, dass ein Krieg die Familie über die ganze Welt zerstreuen wird. Und auch wenn Tima Kurdi dazu tendiert, Ereignisse ihrer Jugend als Vorausweisungen in die Zukunft zu interpretieren: Niemand könnte ahnen, dass ausgerechnet ein Sohn dieser ganz normalen syrischen Familie einmal die verfehlte internationale Flüchtlingspolitik versinnbildlichen würde. Abdullah und seine Geschwister, das sollen diese ersten Kapitel des Buches betonen, werden nicht als Bittsteller geboren; Geflüchtete sind sie nicht qua Identität, sondern qua Zufall.

In der Ohnmacht der Familie in der Zeit nach der Katastrophe schreibt sich eine Hilflosigkeit fort, die insbesondere die Autorin schon in den Jahren zuvor schmerzlich empfunden hat und deren Schilderung ihr Buch in quälender Wiederholung durchzieht. Denn Tima Kurdi, die bereits in den 1990er Jahren nach Kanada ausgewandert ist, verfolgt das Schicksal ihrer Familie während des Krieges und die sich anbahnende Tragödie selbst nur aus der Distanz; ihr Bericht flimmert deshalb stets zwischen ihrer eigenen Perspektive und der Wiedergabe von Erzählungen ihrer Verwandten, die sie ausschmückt und fiktionalisiert. Die Kommunikation mit ihren Angehörigen gestaltet sich oft schwierig, die Zustände in ihrer Heimat kann sie nur erahnen, Handlungsoptionen bleiben ihr kaum. Sämtliche Versuche, für Abdullah und ihren ältesten Bruder Mohammad in Kanada Asyl zu beantragen, schlagen fehl; die schier unerfüllbaren staatlichen Auflagen lassen Tima resignieren. Um dem Leid ihrer Geschwister dennoch nicht tatenlos zusehen zu müssen, entschließt sie sich in ihrer Ernüchterung zu unbürokratischeren Schritten: Sie ist es schließlich, die Abdullahs Familie, die nach der Flucht aus Syrien unter katastrophalen Bedingungen in Istanbul lebt, auf dessen Drängen hin Geld für einen Schleuser schickt. Und sie ist es auch, die Abdullah, dem angesichts der übervollen und offensichtlich nicht seetüchtigen Schlauchboote allmählich Zweifel an seinem Vorhaben kommen, immer wieder zur geplanten Überfahrt ermutigt.

Die Schuld, die Tima Kurdi deshalb am Tod ihrer Neffen und ihrer Schwägerin empfindet, prägt jede Zeile ihres Textes. Sie geht hart mit sich selbst ins Gericht, und sollte es nach dem 2. September 2015 für sie überhaupt je eine Möglichkeit gegeben haben, in ihr normales Leben zurückzukehren, so scheint diese spätestens mit der weltweiten Verbreitung des Bildes für immer dahin. „Wir wussten, dass Alan tot war, doch zu unserer unleugbaren Verantwortung wurde sein Tod erst durch sein Bild“, heißt es einmal, und weiter: „Für mich war das Bild nicht nur der endgültige Beweis, dass alle meine Versuche, Rehannas, Ghalibs und Alans Leben zu retten, vergebens gewesen waren, sondern es bezeugte, dass ich den Wind geschickt hatte, der sie ins Meer trieb.“

Der Junge am Strand changiert zwischen der Darstellung von Trauer, Verzweiflung und Schuldgefühlen, die man stellenweise fast ungefiltert zu lesen meint, und der Reflexion dessen, was Alans Tod für die Flüchtlingsdebatte bedeuten könnte. Gerade weil Tima Kurdi die Geschichte ihrer Familie immer wieder in einen größeren historischen Kontext einbettet, hätte man sich auch im Hinblick auf den Konflikt in Syrien stellenweise mehr Informationen gewünscht. Kurdi spart diese innenpolitische Dimension weitestgehend aus, sie versucht erst gar nicht, den Krieg und die Folter, die etwa Alans Vater Abdullah erleben musste, zu begründen. So hilfreich Hintergrundinformationen in solchen Fällen vielleicht gewesen wären, so konsequent ist zugleich ihr Fehlen: Tima Kurdis Perspektive ist eine radikal subjektive, und es ist genau diese Subjektivität, die ihre – sprachlich bisweilen etwas unbeholfene – Schilderung so bewegend, phasenweise sogar spannend macht.

Der Junge am Strand ist kein literarisches Meisterwerk und erhebt nicht den Anspruch, ein solches zu sein. Tima Kurdis Buch, mit dessen Niederschrift sie ein Jahr nach dem Unglück begann, versteht sich vielmehr als Nachruf und als Anklage, die immer auch durchzogen ist von der Hoffnung, dass Alans Tod ein nachhaltiges Umdenken in der internationalen Flüchtlingspolitik bewirkt haben könnte. Angesichts der Situation an den europäischen Außengrenzen bei Erscheinen der deutschen Übersetzung darf jedoch bezweifelt werden, dass diese Hoffnung sich bewahrheitet hat.

Titelbild

Tima Kurdi: Der Junge am Strand. Die Geschichte einer Familie auf der Flucht.
Mit einem Vorwort von Gorden Isler (Sea-Eye).
Aus dem Englischen von Lilian-Astrid Geese.
Assoziation A, Berlin 2020.
256 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783862414772

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