Kein einfacher Jubilar

Volker Riedel und Peter Stein regen an, Heinrich Mann differenziert zu würdigen

Von Michael StarkRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Stark

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im ,Vorfeld‘ zum 150. Geburtstag Heinrich Manns verdienen zwei Publikationen besonderes Interesse. Zum einen sind namhafte Experten – Volker Riedel, bis 2009 Professor für Klassische Philologie an der Universität Jena, und Peter Stein, bis 2004 Professor für Sprache und Kommunikation an der Universität Lüneburg – die Verfasser. Beiden Autoren verdankt man grundlegende Editionen im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe der Essays und Publizistik Heinrich Manns sowie ausgreifende Studien zu Person, Werk und Wirkung des Jubilars. Nach wie vor ist Peter Steins 2002 erschienene Heinrich Mann-Monografie die wissenschaftlich maßgebliche Einführung, und Volker Riedels 2011 veröffentlichtes Buch Konservatismus, Autorität, Diktatur. Der „geistige Adel“ im Demokratieverständnis des Skeptikers Heinrich Mann hat auf fortwirkende konservative und rechtsbürgerliche Prägungen des zur prototypischen Gestalt des literarischen Linksintellektuellen erklärten Schriftstellers aufmerksam gemacht. Zum anderen geht es um „den ‚ganzen‘ Heinrich Mann“ (Stein), und „der ‚ganze Mensch‘“ (Riedel) steht auch im Fokus des Beitrags zur neuen Schriftenreihe der Humanistischen Porträts. Anspruchsvolles also, doch durchaus Verschiedenes ist gemeint: hier der Auftrag, Heinrich Mann als Humanisten und diesen auch in „Irrweg, Missbrauch, Scheitern und Fehlentwicklung“ möglichst kondensiert zu erfassen, dort die Absicht, eine ästhetisch-politische Matrix für Heinrich Manns Gesamtwerk zu finden.

Das reich bebilderte und luzide formulierte Bändchen Volker Riedels ergänzt den Überblick zu Heinrich Manns Humanismuskonzeption und humanitärer Rhetorik durch einen kompakten Abriss zu Leben, Werk und Wirkung des Autors. Die wichtigsten Artikel aus der Zeit des Kaiserreichs von Geist und Tat bis zum Essayband Macht und Mensch, Manifestationen aus Zeit der Weimarer Republik, aus der des Exils in Frankreich und in den USA werden bis hin zum Memoirenbuch Ein Zeitalter wird besichtigt mit Seitenblicken auf Madame Legros und Henri Quatre nach ihrer humanistischen Substanz befragt und historisch versiert eingeordnet. Steins Text-Kollektion ist werk- bzw. zeitgeschichtlich angelegt, durch ein Personenregister erschlossen und mit einer aktualisierenden Einleitung versehen. Enthalten sind seine überarbeiteten Beiträge zum Herkommen des Autors, zu dessen literarischen Anfängen, zu dessen Freundschaft mit Ludwig Ewers, über den Antisemitismus in den 1890er Jahren, zur Interpretation des berüchtigten Artikels Zur Psychologie des Juden, zum „latenten“ Künstler Heinrich Mann und der Dreyfus-Affäre, zum Kunstprinzip ,Satirische Theatralität‘, ferner über Heinrich Manns Karl Kraus-Kritik und den Rückblick auf das miterlebte Zeitalter. Beide Schriften ziehen ein Fazit je eigener Perspektiven, das ein kritisches, von politisch-ideologischer Inanspruchnahme befreites und hermeneutisch abgerundetes Bild des berühmten Schriftsteller-Intellektuellen vermitteln möchte. Dem sozusagen „letzten Grund“ (Stein) auf der Spur zu sein, aus dem sich sowohl Heinrich Manns Kunstschaffen als auch seine operativen politischen Interventionen im öffentlichen Leben verstehen lassen, versetzt in Spannung. Wer sein Lebenswerk als ‚Einheit‘ betrachten will, bleibt herausgefordert, es einerseits für „zutiefst von humanistischen Impulsen“ (Riedel) geleitet und zugleich von „den ästhetisch-politischen Anfängen her geprägt“ (Stein) zu halten, die zweifellos reaktionär und antihumanistisch kontaminiert waren.

Natürlich werden Ambivalentes und Problematisches in Heinrich Manns späterem humanistischen Engagement nicht verschwiegen, die fragwürdigen Seiten aber, wie sein „wechselvolles und widersprüchliches Verhältnis zur Sowjetunion“ und zu Stalin, bald mit positiv Gewichtigerem konfrontiert: seiner berechtigten und triftigen „Kritik an einer vom Großkapital dominierten Ordnung, an dem wilhelminischen Obrigkeits- und Untertanenstaat, an den mannigfachen Gebrechen der Weimarer Republik und dann vor allem an dem geist- und menschenfeindlichen Nationalsozialismus“ (Riedel), auf den er mit kämpferisch radikalisiertem Humanismus reagierte. Die Charakterisierung der Essayistik und Publizistik von 1910 bis in die Exilzeit als zwischen Beschwörung der „Macht der Güte“ und Forderung nach einer „Diktatur der Vernunft“ gespreizte Botschaft, der eine Veränderung der Gesellschaft von oben und die Idee einer zwar vernunftgeleiteten, gleichwohl autoritären Demokratie nicht ganz fremd war, rückt von allzu plakativer und eindimensionaler Rezeption des ‚großen Humanisten‘ ab. Bekanntlich teilte Heinrich Mann die optimistische Einschätzung menschlichen Vermögens, zu humaneren Existenzformen zu gelangen, nur bedingt und war geistesaristokratischen oder bildungselitären Ansprüchen auf Führung nicht abgeneigt. Verwiesen wird, wenn auch leider nur beiläufig, auf den strategisch forcierten Idealismus vieler Essays und öffentlicher Kundgebungen, die in privater Korrespondenz wirkungsskeptisch relativiert und sozusagen ‚doppelter Buchführung‘ kommentiert werden. Schließlich: Dass Berufung auf humanistische Werte mit moralisch defizitärem Verhalten einhergehen kann, Humanismus aber nicht ohne Humanität zu haben ist, bleibt erkenntnisleitend eingeräumt und ebenso, dass Heinrich Manns Haltung zum europäischen Kolonialismus aus heutiger Sicht sehr befremdlich wirkt. Im vorgegebenen Rahmen darüber hinaus auch noch postmoderne Humanismus-Kritik aufzugreifen, wäre zu viel verlangt gewesen. So steht die Debatte über die Macht des guten Willens als bemäntelter guter Wille zur Macht weiter an.

Zur Beantwortung der Frage nach latenten, prägenden oder dominanten Kontinuitäten auf Heinrich Manns Weg in die Moderne, empfiehlt uns Stein, weder Konservatismus noch Skeptizismus als fortwirkende Werkkonstanten zu betrachten, und ferner, sich den tatsächlichen Wechsel von dem der Öffentlichkeit fernstehenden Ästhetizismus zu einem auf eben diese angewiesenen Aktivismus nicht als eine abrupte Umpolung vorzustellen: „Nicht durch eine Wende, sondern in einem lebenslangen Lernprozess von Identitätsfindung, zeitgenössischer ästhetischer und politischer Differenzerfahrung konnte sich die für Heinrich Mann charakteristische Figur des engagierten Dichter-Intellektuellen herausbilden.“ Festzuhalten sei, dass die artistisch-ästhetizistische wie die intellektuell-aktivistische Orientierung Heinrich Manns gemeinsame und weiterwirkende Voraussetzungen haben. Offen bleibe jedoch, „ob die frühen Prägungen primär durch intellektuelle Grundüberzeugungen mit spezifischen Folgen für das literarische Werk oder durch ästhetische Grunderfahrungen bestimmt sind, die ihrerseits die politische Positionierung formten.“ Was Heinrich Manns ursprünglichen Antisemitismus anlangt, scheint dem Interpreten die intellektuelle Prägung der ästhetischen vorgeordnet gewesen zu sein, da er diesen lediglich in einen Anti-Antisemitismus habe transformieren können. Ob man wegen seiner frühen Kapitalismuskritik von rechts das spätere ‚Faible‘ für Sozialismus analog als Anti-Antikommunismus auffassen müsste, wird allerdings nicht deutlich. Letzten Endes sei ein künstlerisch-oppositionelles Selbstbewusstsein sui generis grundlegend für Heinrich Mann, das „ihn von der Notwendigkeit seiner gesellschaftskritischen Wirksamkeit überzeugt sein lässt, auch dann noch, wenn der Erfolg ausbleibt“.

Warum es dem Autor nicht immer gelang, dem dichterischen Anspruch und zugleich dem der beanspruchten Intellektuellenrolle unter sich ändernden historischen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen gerecht zu werden, wäre auf neuem Niveau zu diskutieren: „Ist das Politische als Chance oder als Hypothek für das schriftstellerische Werk (z.B. Aktivismus vs. Tendenzliteratur) zu sehen – oder ist das Ästhetische als Chance oder Hypothek für das politische Wirkenwollen (z.B. Engagement vs. Skeptizismus) zu betrachten?“ (Stein) Zu Differenzierung gibt gleichfalls die Genese des Intellektuellenbegriffs Anlass, der bei Heinrich Mann nicht allein von Zola und der Dreyfus-Affäre her zu bestimmen ist, sondern an das überkommene Prestige der Dichtergestalt als einer im Bildungsbürgertum anerkannten Leitfigur unter den kommunikativen Bedingungen der fortgeschrittenen Moderne anknüpft. Gut möglich, dass er zum bürgerlichen ‚Linksintellektuellen‘ wurde, ohne zunächst eine klare Vorstellung davon zu haben; schwer jedoch zu glauben, dass in den Jahren zwischen ca. 1899 und 1909 keine Art Konversion erfolgte. Nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich Heinrich Mann lange nicht als „Dreyfusard“ verstand. Forciert hat ihn in seinen gewandelten Überzeugungen vermutlich endgültig, dass Alfred Dreyfus am 12. Juli 1906 freigesprochen und rehabilitiert, ja feierlich wieder in die Armee aufgenommen, befördert und zum Ritter der Ehrenlegion ernannt worden war. Dass damals die junge Generation literarischer Intellektueller des Expressionismus ihn Karl Kraus und Alfred Kerr als Vorbild und Autorität vorzog und geradezu adorierte, dürfte Heinrich Mann nicht weniger bestärkt haben.

Trotz redaktioneller Revision fehlt in Steins Argumentation nach wie vor einer der ,klassischen‘ Texte zur Wirkungsgeschichte des Intellektuellen in Deutschland, nämlich Otto Flakes Artikel Von der jüngsten Literatur (in: Die neue Rundschau, Jg. 26, 1915, Heft 9, September, S. 1276-1287), der übrigens Thomas Mann maßgeblich inspiriert hat, seinen Bruder samt expressionistischer Entourage als „Zivilisationsliteraten“ zu schelten. In polemischer Absicht wurde Heinrich Mann dort u.a. wegen des bis Kriegsbeginn aus dem Roman Der Untertan Abgedruckten zum „Vater der intellektuellen Literatur“ in Deutschland erklärt und dieses Werk als die angeblich zur hasserfüllten Systemkritik entgleiste Reaktion eines an sich faszinierend modernen Autors abgelehnt, der unter dem Mangel an gesellschaftlicher Anerkennung oder gar dem unerfüllten Wunsch nach offizieller Nobilitierung leide. Vielleicht wäre es im Sinne differenzierter Betrachtung, noch einmal Heinrich Manns Verhältnis zur exzentrischen Moderne zu überdenken, dem gewöhnlich emotionale Affinität bei eigentlich großer weltanschaulicher Distanz nachgesagt wurde.

Peter Stein hat für das Cover seines Buchs die frühe Heinrich Mann-Karikatur von Olaf Gulbransson aus Albert Langens Verlags-Katalog von 1904 ausgewählt, nicht nur um den methodischen Perspektivwechsel zu fortwirkenden Ausgangs-Dispositionen zu signalisieren. Sie kommuniziert in überzeichnet steifer Pose „die Haltung eines indigniert-mokanten Ästheten (Dandys)“, als den man sich den damals über Dreißigjährigen tatsächlich vorstellen kann. Im Bild erscheine vor allem die „markante Diskrepanz zwischen Leben und Kunst im Habitus des Schriftstellers“ als die eigentliche autorenspezifische Kontinuität. Ein Gleiches mag Max Herrmann-Neiße wahrgenommen haben, der Heinrich Mann zum „Klassiker des Expressionismus“ erhob. Der Geliebten Leni Gebek berichtete er am 25. Juni 1914 nach einem Tauentzienbummel u.a.: „[…] Oppenheimer mit Heinrich Mann, denk Dir!, wundervoll, noch feiner wie auf dem Bild, dieser lange, bis ins Groteske vergeistigte Schädel. Ich bin so froh, daß ich den einmal sah!“ (In: Briefe, Ausgabe in zwei Bänden, hg. von Klaus Völker und Michael Prinz, Berlin 2012, Band 1, 1906-1928, S. 183f.) Bald nach dieser zufälligen Begegnung gab er seiner Verehrung im Brief an Leni Gebek vom 29. Juni 1914 unter der Titelzeile „Als ich Heinrich Mann sah“ zusätzlich lyrischen Ausdruck, der jene apostrophierte Diskrepanz zwischen Kunst und Leben nicht als Habitus, sondern eben als Schicksal des nonkonformistischen Künstlers, Außenseiters und freischwebenden Intellektuellen assoziiert: „Und plötzlich sah ich einen Dichter, dessen Namen / Ich betend stehts in keuscher Demut nannte […] // Gleichgiltig gleitet er, als Gleicher unter Vielen / Ganz unbekannt auf der belebten Bahn. […] – irritiert – Daß dort ein Werk wuchs und ein Gott, der es erschaffen – / und hier: ein Herr wie andre im Cilinder / Hintreibend zwischen Henkern, Opfern, Gauklern, Affen […].“ (Ebd., S. 196) Es müsste das für die Zeitschrift Die Aktion gezeichnete und auch als Aktions-Postkarte verbreitete Heinrich Mann-Porträt von Max Oppenheimer aus dem Jahr 1912 gewesen sein, das Herrmann-Neiße seinerzeit vor Augen hatte.

Volker Riedels und Peter Steins Angebote zur differenzierten Rezeption zeugen von intimer Kenntnis und von reflektierter Sympathie für einen der bedeutendsten Schriftsteller der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Sie provozieren, das Bild des kämpferischen Humanisten und streitbaren öffentlichen Intellektuellen Heinrich Mann weiter von klischeehaften Zügen zu befreien. Sie halten sich weder lange mit literaturkritisch veralteten Bewertungen des Autors auf, noch versuchen sie, das Publikum von dessen ungebrochener Aktualität zu überzeugen. Heiligenbilder hat der Jubilar nicht nötig, wohl aber immer möglichst viele neue Leserinnen und Leser.

Anmerkung der Redaktion: Michael Stark ist fortführender Herausgeber der „Heinrich Mann Studienausgabe in Einzelbänden“. Als vorletzter Band dieser Edition wird  Ende 2021 der Exilroman „Lidice“ (1943) erscheinen. Die hier veröffentlichte Rezension ist eine gekürzte Fassung seiner ebenfalls im März 2021 erschienenen Buchbesprechung im Heinrich Mann-Jahrbuch 38/2020.

Titelbild

Volker Riedel: Heinrich Mann. Zwischen „Macht der Güte“ und „Diktatur der Vernunft“.
(Humanistische Porträts, hg. von Hubert Cancik, Richard Faber, Ralf Schöppner, Band 2).
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
80 Seiten , 9,80 EUR.
ISBN-13: 9783826068850

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Titelbild

Peter Stein: Literatur und öffentliches Leben. Heinrich Manns Weg in die Moderne.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2020.
258 Seiten , 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783826069697

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