Am Anfang war das Wort

Zur verzerrenden Darstellung des antiken Judentums im Neuen Testament und seiner Rezeption

Von Lukas BormannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Bormann

Viele der Wurzeln antijüdischer Stereotype liegen in der Schriftensammlung, die grundlegend für das Christentum ist: dem Neuen Testament. Die zentrale gute Botschaft, die dort als Evangelium verkündet wird, ist durchweg belgeitet von Aussagen, die diese Botschaft zu jüdischen Menschen und Grundüberzeugungen des antiken Judentums in Beziehung setzen. Diese Inbeziehungsetzungen sind in vielen Fällen unfair, polemisch, verzerrend. So werden z.B. die Pharisäer, die besten Kenner der jüdischen Schriften und ihrer hilfreichen Auslegung, häufig als Gegner Jesu dargestellt und polemisch verzeichnet. Sie sind in der westlichen Welt zu Unrecht sprichwörtlich für negative Eigenschaften wie z.B. „Heuchelei“ geworden und die Polemik gegen sie wirkt bis heute auch dort weiter, wo das Neue Testament selbst gar nicht mehr bekannt ist. Es wären viele weitere Beispiele wie Geldgier, Lüge, Tötungsabsicht oder Mordlust zu nennen – Eigenschaften, die im Neuen Testament mit jüdischen Menschen verbunden werden und die zu den Wurzeln antijüdischer Stereotype gehören.

Die historische Interpretation des Neuen Testaments versteht diese Polemiken als Ausdruck innerjüdischer Gegensätze. Die Texte des Neuen Testaments sind demnach überwiegend von Menschen geschrieben, von der die heutige Forschung annimmt, dass sie sich nicht grundsätzlich vom Judentum gelöst, sondern vielmehr eine Sondergruppe innerhalb des Judentums gebildet hätten. So ist es erst die Interpretation des Neuen Testaments, die diese für Christen so wichtige Schriftensammlung zu einem antijüdischen Buch gemacht hat. Ein Professor für Neues Testament, zu dem wir an der Philipps-Universität Marburg intensiv forschen, Gerhard Kittel (1888–1948), nannte es mit einem Stolz, der heute fassungslos macht, sogar das „antijüdischste Buch der Welt“ und interpretierte es so.[1]

Wenn man nach antijüdischen Stereotypen im Neuen Testament fragt, kann man diese Schriftensammlung nicht von seiner Auslegung, Erforschung und Rezeption trennen. Die Deutungen dieser Texte sind zu einem Teil des kulturellen und religiösen Phänomens Bibel geworden und sind tief in die kulturell-christlich geprägten Gesellschaften eingedrungen. Der Fokus der neutestamentlichen Wissenschaft hat sich deswegen schon seit einiger Zeit von der einfachen historischen Interpretation dieser Texte, die nach deren Bedeutung in einer bestimmten, aber schon lange vergangenen Zeit fragt, gelöst und sich der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte zugewendet.

Das wichtigste langfristige Publikationsunternehmen unseres Faches nennt sich deswegen The Encyclopedia of the Bible and Its Reception (EBR). Für diese Enzyklopädie habe ich unter anderem den Artikel „Holocaust Christianity“ abgefasst.[2] Als ich die Anfrage erhielt, wusste ich erst gar nicht so recht, wie sie gemeint war. Ich hatte zwar Jacob Katz’ Buch Vom Vorurteil bis zur Vernichtung gelesen und wusste, dass die Erforschung des Antisemitismus zu dem Ergebnis geführt hat, dass das Christentum und die Kirche ein über Jahrhunderte kontinuierlicher und wirkmächtiger Träger antijüdischer Stereotype gewesen ist.[3]

Die Aufgabe, den Artikel abzufassen, ließ mich nun fragen, wie sehr neutestamentliche Wissenschaftler in den Holocaust als historisches Geschehen eingebunden waren. Das Ergebnis war eindeutig. Es waren vor allem Neutestamentler, die als Kenner des Judentums und seiner Sprachen, als wissenschaftliche Fachleute an der Abwertung, aber auch Ausplünderung und Enteignung jüdischen Kulturgutes beteiligt waren.[4]

Es gilt demnach nicht nur die antijüdische und menschenfeindliche Polemik des Neuen Testaments in den Blick zu nehmen, sondern ebenso diejenige seiner Ausleger – und das bis in die Gegenwart. Die Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments gehört deswegen zu den Forschungsgebieten der „Marburger Forschungen zum Neuen Testament“, die in nationalen und internationalen Netzwerken aus christlichen, jüdischen und muslimischen Wissenschaftlern arbeiten, um das kulturelle und religiöse Phänomen der Bibel im Christentum in quellensprachlichen Fachstudien mehrperspektivisch und dialogisch zu analysieren.[5] Die „direkte und latente wechselseitige Präsenz des Judentums und des Christentums ineinander“ (Y. Shavit) erfordert eine religionsübergreifende Erforschung der Rezeptionsgeschichte des Neuen Testaments.[6]

Das Thema dieses Themenschwerpunkts bei literaturkritik.de ist für uns von besonderem Interesse, weil wir durch ihn einen Einblick in die literaturwissenschaftliche Erforschung von Stereotypen und deren emotionaler Wirkkraft bieten können. Vermutlich unterschätzen historisch-philologisch arbeitende Exegetinnen und Exegeten die Wirkungen, die durch Texte transportierte Emotionen entfalten können und denen das sinnerfassende und rationale Textverständnis hilflos gegenüber steht.

[1] Matthias Morgenstern / Alon Segev: Gerhard Kittels Verteidigung. Die Rechtfertigungsschrift eines Tübinger Theologen und „Judentumsforschers“ vom Dezember 1946, Berlin 2019. Lukas Bormann: Auf dem Weg zu einer Biographie Gerhard Kittels (1888–1948) – Towards a Biography of Gerhard Kittel (1888–1948), 19.1.2021 <https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8855>.

[2] Lukas Bormann: Holocaust II Christianity: 1. The Jewish Question and Christian Exegesis until the Holocaust, in: Encyclopedia of the Bible and its Reception 12 (2016), 87–89.

[3] Jacob Katz: Vom Vorurteil bis zur Vernichtung. Der Antisemitismus 1700-1933, München 1989.

[4] Otto Merk: „Viele waren Neutestamentler“. Zur Lage neutestamentlicher Wissenschaft 1933-1945 und ihrem zeitlichen Umfeld, ThLZ 130 (2005), 106-120

[5] Marburger Forschungen zum Neuen Testament, <https://marburgerforschungenzumnt.jimdofree.com/>.

[6] Yaacov Shavit: An Imaginary Trio. King Solomon, Jesus, and Aristotle, Berlin 2020, 2.