Widersprüche, die auszuhalten sind

Eine Sammlung von Gesprächen und ein Bildband erinnern an Christoph Schlingensief

Von Thomas WortmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Wortmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alles war von Anfang an da. Dieser Eindruck stellt sich ein, liest man die Gespräche mit Christoph Schlingensief, die von seiner Witwe und Nachlassverwalterin Aino Laberenz unter dem Titel Kein falsches Wort jetzt zum zehnten Todestag des Regisseurs herausgegeben worden sind. Das erste dieser Gespräche stammt aus dem Jahr 1984. Ein junger Filmemacher stellt seine neueste Regiearbeit mit dem Titel Tunguska – Die Kisten sind da vor. Die Rolle des komplizierten Künstlers beherrscht der Vierundzwanzigjährige bereits perfekt: „Die Fragen müssen korrekt gestellt sein“, erklärt Schlingensief seinem Gesprächspartner gleich zu Beginn, um fortzufahren: „Ich verrate nichts“. Verraten wird dann doch einiges: Schlingensief berichtet von gleich mehreren Neurosen, die er habe, er distanziert sich wortreich von anderen „Jungfilmern“ und den Regisseuren des Neuen Deutschen Films, die ihm zufolge monatelang „im Kämmerlein“ hocken, um „an einer Geschichte, einer Theorie oder einer Sozialkritik zu basteln“, die sie der Öffentlichkeit dann als große Idee präsentieren. Als der Reporter zu Wort kommt und durchscheinen lässt, dass er es eher anstrengend fand, Tunguska zu schauen, entgegnet der Regisseur: „Ja, also, ich erwarte mehr vom Zuschauer. Ich lasse ihn nicht etwas sehen und spüren, was er dann als Ergebnis mit nach Hause nimmt“. Spannend sei Tunguska für einen Zuschauer, der sich trainieren und prüfen wolle, ob er als Zuschauer überhaupt noch gefordert werden kann. 

Blickt man heute, nach fast vierzig Jahren, auf das Interview zur Premiere von Schlingensiefs erstem Langfilm, so zeigt sich, dass auf diesen knapp drei Seiten schon alles angelegt ist, was den Künstler in den folgenden Jahren umtreiben wird: Von der Selbstdarstellung als eigensinniger Künstler mit Lust an der Konfrontation, über den kritischen Umgang mit Traditionslinien bis hin zur Vorliebe dafür, das Publikum zu fordern, seine Zuschauer*innen zu strapazieren. Das trieb ihn an, als er 1990 die Wiedervereinigung als Horrorstreifen verfilmte und 1997 auf der documenta zur Ermordung Helmut Kohls aufrief, es trieb ihn an, als er im Jahr 2000 in der Wiener Innenstadt Container mit Asylbewerber*innen aufstellte und in den Jahren 2008 und 2009 seine Krankheit und schließlich sein Sterben zum Ausgangspunkt mehrerer ergreifender Theaterabende machte. 

Der Wunsch nach einer (Über-)Forderung des Publikums ist allerding nicht die einzige thematische Konstante, die in den Interviews, die einen Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren umfassen, formuliert wird. So kommt etwa die katholisch-bürgerliche Herkunft – Schlingensiefs Selbstetikettierung als „Apothekersohn aus Oberhausen“ – immer wieder zur Sprache, ebenso wie Schlingensiefs produktive Auseinandersetzung mit Genrekonventionen, sein Abarbeiten an ästhetischen Traditionslinien und künstlerischen Vorbildern. Es ist aber nicht zuletzt die Auseinandersetzung mit dem Medium selbst, um die Schlingensiefs Aussagen kreisen: „75 Minuten mit der Faust auf die Wand“, so fasst er in einem im Band dokumentierten Gespräch aus dem Jahr 1993 die Agenda seines Films Terror 2000 zusammen – und diese Agenda ließe sich ohne Weiteres auf Schlingensiefs künstlerisches Engagement in anderen Medien übertragen. Stets ging es dabei nicht nur um die Herausforderung des Publikums, sondern auch der eigenen Person. Das zeigen Gespräche, in denen immer wieder – ebenso beiläufig wie eindrücklich – zur Sprache kommt, wie anstrengend, wie erschöpfend es für Schlingensief war, sich selbst in das Zentrum der Aktionen (und nicht selten auch bloß) zu stellen, die Differenzen von Person und „persona“ einzuebnen und sich der nicht selten harschen, ja auch persönlich ausfallenden Kritik auszusetzen. Überraschend zahlreich sind in den Gesprächen die Berichte von Selbstzweifeln und depressiven Phasen, von Krankheitsängsten und Erschöpfung, von Momenten der Angst, von dem Hadern mit der eigenen Arbeit und der Rezeption derselben durch das Publikum und die Kritik. In diesen Passagen lernt man einen anderen Christoph Schlingensief kennen, der mit dem „enfant terrible“, als das der Theatermacher in den Medien immer bezeichnet wurde, nur wenig zu tun hat. Wer die Gespräche liest, wird Zeug*in von Schlingensiefs Ringen mit dem jeweiligen Medium, das in vielen Fällen, beispielsweise im Zusammenhang mit seinem Engagement in Bayreuth, auch ein Ringen mit den öffentlichen Institutionen der jeweiligen Medien ist. In der Retrospektive zeigt sich: Die Etikettierung als Provokateur, die Schlingensief in den Gesprächen übrigens durchgehend ablehnt, hat den Blick auf die Ernsthaftigkeit des Werkes oft verstellt.

Für ein solches Ernstnehmen des Künstlers Christoph Schlingensief plädiert auch Diedrich Diederichsen, der für den Band ein exzellentes Nachwort geschrieben hat. Darin berichtet er von einer Podiumsdiskussion, die er in den 1990ern mit Schlingensief geführt hat, und von der Herausforderung, der Argumentation seines Diskussionspartners zu folgen. Als er den Moderator nach der Veranstaltung darauf ansprach, habe dieser erklärt, dass sich vier sorgsam komponierte Argumentationsstränge in Schlingensiefs Rede erkennen ließen, wenn man die einzelnen Gesprächsteile voneinander löse und korrekt sortiere. Ob diese Beobachtung zutrifft, ließe sich in Frage stellen. Mehr noch: Die Anekdote verkennt die mäandernde, suchende, sich teils auch verirrende Gesprächsführung Schlingensiefs, in der überzeugende, brillante Ideen neben Gemeinplätzen und Phrasen stehen. Diese argumentativen Widersprüche, die Niveausprünge in den Gesprächen sind vom Publikum auszuhalten, da unterscheiden sich Schlingensiefs Interviews nicht von seinen Arbeiten. Auch hier standen geniale Momente neben solchen, die zum Quatsch tendierten. Schlingensiefs Œuvre plädiert für das Prinzip des Chaos und zeigt Mut zum Scheitern. In Proben und Aufführungen spielte der Zufall eine große Rolle, seine Projekte, die mit der Entgrenzung des theatralen Raums operierten, die Bühne in die Stadt verlegten, Passant*innen zu Zuschauer*innen und Akteur*innen machten, waren im besten Sinne konfus, weil sie nicht planbar waren und/oder weil das zuvor Geplante im Moment der Aufführung vom Regisseur konsequent durchkreuzt wurde. Das heißt aber nicht, dass diese Arbeiten ohne Plan waren. Vielmehr setzten sie auf die Ereignishaftigkeit und die Interaktion mit allen Beteiligten, auch dem Publikum – auf der Bühne ebenso wie im TV-Studio. Dann blitzten die genialen Momente auf, und das tun sie auch in zahlreichen der hier zusammengestellten Gespräche. Wenn Diederichsen sein Nachwort mit der Begriffstrias „Kommunikation, Komposition, Kollektiv“ überschreibt, fasst er diesen Zusammenhang präzise. Und er verweist ganz nebenbei darauf, dass ein Aspekt von Schlingensiefs Schaffen, die Arbeit im Kollektiv nämlich, bisher nicht konsequent genug in den Blick gekommen ist. Daran ändert auch der vorliegende Band leider wenig, denn über diese Arbeit im Kollektiv, die die Grundlage praktisch aller Schlingensief-Projekte bildet, wird zwar ab und an gesprochen, andere Mitglieder des Kollektivwesens „Schlingensief“ jedoch wie Carl Hegemann, Stefanie Carp oder Matthias Lilienthal kommen nicht zu Wort. 

Kein falsches Wort ist eine Werkschau in Gesprächen, eine Retrospektive in Interviews und damit einer der schönsten Erinnerungstexte, die im Schlingensief-Jahr 2020 erschienen sind. Mit seinem künstlerischen Nachleben, mit der Frage also, was von seinem Werk bleibt, wie es in der Rückschau verstanden werden kann, setzte sich auch Schlingensief selbst auseinander. Sein Bestseller So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein ist dafür der prominenteste Beleg. Den Endpunkt der dort angestellten Überlegungen über das, was bleibt, bildet die Idee des Operndorfs Afrika, dessen Grundsteinlegung dreißig Kilometer außerhalb der Hauptstadt Burkina Fasos der bereits schwer von seiner Krankheit Gezeichnete noch erleben konnte. 2020 jährte sich also nicht nur der Todestag des Künstlers, sondern auch die Gründung des Operndorfs. Aus diesem Anlass erschien im Herbst des Jahres im Leipziger Verlag Spector Books ein optisch und haptisch beeindruckend geratener Band, der den aktuellen Stand des Projektes zeigt, die Arbeit vorstellt, die in Ouagadougou in der Schule, der Krankenstation und in den Ateliers geleistet wird, und einen Blick in den Alltag von Schüler*innen, Lehrer*innen, Ärzt*innen und Künstler*innen ermöglicht. 

Als eines der letzten, explizit auf die Zeit nach dem Tod ausgerichteten Projekte ist das Operndorf besonders interessant: Während Schlingensiefs Theaterarbeiten von der Ereignishaftigkeit und Flüchtigkeit der Aufführung lebten, ging es beim Operndorf um Dauer und Nachhaltigkeit: Das Projekt setzt auf Ausbildung, auf Fortführung und Tradierung. Im Gegensatz zu einer Operninszenierung oder einem Theaterabend war das Operndorf Afrika nicht innerhalb eines halben Jahres umzusetzen. Es war, darüber war sich auch Schlingensief klar, in der Zeit, die ihm noch blieb, nicht zu einem Ende zu bringen. Wenn Schlingensief das Operndorf im Tagebuch als eine Zukunftsvision bezeichnet, beschreibt dies den Reiz des Projektes präzise: Das Operndorf ist ein Scheherazade-Projekt: Arbeit, Kunstproduktion ist das, was Schlingensief der Krankheit und dem Sterben entgegenstellt. Was könnte besser sein als ein Projekt, dessen Fertigstellung weit in der Zukunft liegt? 

Auf geradezu intime Weise ist das Operndorf also mit seinem Initiator verbunden. Das zeigt sich auch bei der Lektüre des Bandes, in dem sich neben Plänen zum Projekt und Bildern, die die Entwicklung des Ortes dokumentieren, auch Erinnerungen von Weggefährt*innen wie dem Architekten Francis Kéré finden, der von Schlingensiefs unbedingtem Engagement und seiner mitreißenden Begeisterung erzählt. Neben der Geschichte ist es die Gegenwart des Operndorfes, die in den Blick rückt. Vermittelt wird die Stimmung des Ortes, an dem Kunst und Bildung auf so spezifische Art zusammenkommen. Neben umfangreichem Bildmaterial versammelt der Band dazu ganz unterschiedliche Stimmen: Stimmen der Künstler*innen, deren Arbeiten er zeigt, Stimmen von prominenten Weggefährt*innen wie Elfriede Jelinek. Gleichberechtigt mit ihnen kommen aber vor allem jene Menschen zu Wort, die im Operndorf arbeiten, die dort lehren, lernen, heilen und künstlerisch tätig sind; vorgestellt werden Schüler*innen und Lehrer*innen ebenso wie die Köchin des Operndorfs und der Hausmeister, um nur einige zu nennen. Der Band transportiert auf diese Weise die Lebendigkeit des Ortes und die Energie des Projektes. Man blättert gerne durch die Seiten, man liest die Texte mit Vergnügen. Ein wenig bedauerlich ist nur, dass neben der Erfolgsgeschichte, die hier präsentiert wird, nicht auf die Kritik, die aus postkolonialer Perspektive am Operndorf geübt wurde, eingegangen wird – und sei es in Form einer Entgegnung. Denn dass Schlingensiefs Werk gerade aus Widersprüchen seine besondere Wirkung entwickelt, das zeigen die Gespräche wie auch der Bildband zum Operndorf auf eindrückliche Weise.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Diedrich Diederichsen (Hg.): Christoph Schlingensief – Kein falsches Wort jetzt. Gespräche.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
336 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783462055085

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Christoph Schlingensief / Aino Laberenz: Operndorf Afrika.
Spector Books, Leipzig 2020.
300 Seiten, 32 EUR.
ISBN-13: 9783959053631

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch