Gestörte Beobachtung

Yishai Sarids Gegenwartsroman „Siegerin“ erschließt differenzierte Reflexionspotenziale entlang unterschiedlicher Beobachtungsinstanzen

Von Wolfgang JohannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Johann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gegenwartsromane sind Zeitgeistdokumente. Wenn sie gegenwärtige Gesellschaften zum Gegenstand haben, können sie einen Ausschnitt sozialer Debatten und gesellschaftlicher Interaktion beobachtbar machen: Eine Gesellschaft braucht Kunst als Reflexionsmedium, um sich selbst beobachten zu können. Yishai Sarids Roman Siegerin bietet sich als eine solche Instanz an.

Sarids Roman handelt von einer israelischen Militärpsychologin, die sich affirmativ um die Probleme einer Gesellschaft im Belagerungszustand und permanentem Verteidigungsmodus kümmert. Sie behandelt traumatisierte Soldat:innen, die durch ihren Militärdienst schwerwiegende psychische Traumata erlitten haben und dadurch zum Fall für die Psychotherapie wurden. Davon ausgehend arbeitet die Ich-Erzählerin, die ‚Siegerin‘ des Romantitels, an Möglichkeiten, die Soldaten an der Front mit Mitteln der Psychoanalyse zu effektiven, skrupellosen Tötungsmaschinen auszubilden.

Es geht ihr dabei um eine „Psychologie des Tötens“, ihr gesamtes berufliches und privates Leben stellt die Ich-Erzählerin darauf ab. Im Laufe des Romans entgleiten der Ich-Erzählerin dabei zunehmend jegliche moralische Kategorien. In der Interaktion mit prototypischen Repräsentant:innen einer Gesellschaft – (über-)mächtige Vaterfigur, Liebhaber:innen, Künstler:innen, Manager:innen, Vorgesetzte, Psychopath:innen – entwirft der Roman eine beklemmende Weltinterpretation: Die einzige Beobachtungsinstanz ist die Perspektive der Ich-Erzählerin, deren Wahrnehmung der Gesellschaft zunehmend verzerrt und selbst ins Psychopathische abdriftet.

Dabei ist der Ansatz des Romans klar erkennbar: Es geht in erster Linie um die Verwerfungen und psychopathologischen Verletzungen des Individuums, die, so die Textlogik, drohen, in der Summe zu gesellschaftlichen Pathologien heranzuwachsen. Im Zentrum steht so etwas wie eine ‚Gegenwartsbewältigung‘ in dem Sinne, dass die Beobachterposition des Romans in der gesellschaftlichen Kommunikation jene folgenschweren Konsequenzen für die israelische Gesellschaft der gegenwärtigen und jüngsten Politik des Landes widerspiegelt.

Dies wird entlang von Aushandlungsprozessen zwischen Individuum und Gesellschaft thematisiert, die sich in den verschiedenen Stationen des Romans manifestieren. Allerdings ist diese Beobachtung gestört, denn die Erzählinstanz wird zunehmend zu einer unzuverlässigen Ich-Erzählerin, da sie selbst zentraler Kristallisationspunkt des paranoid-psychotischen Systems wird, welches sie beschreibt. Dies wiederum versinnbildlicht in dem engen Ausschnitt, den die Textlogik entwirft, die gesellschaftliche Wahrnehmung einer Gesellschaft, die sich in einem permanenten Kriegs- und Ausnahmezustand befindet. Der Roman bietet sich damit als Reflexionsmedium an, um diesen Zirkel zu beobachten.

Der Roman zeichnet eine Gesellschaft in Therapie: Das Militär dient dabei als gesellschaftliches Brennglas, die militärische Ausbildung als Allegorie des Erwachsenwerdens; der Generationenkonflikt wird entlang der übermächtigen Vaterfigur, dem „Fels in der Brandung“, diskutiert; traumatisierte Figuren chirurgisch präzise psychoanalytisch analysiert und darauf verwiesen, dass sich Trauma vererbt. Die Erzählinstanz suggeriert eine Kontrolle über die einzelnen Figuren und die Situationen, mit denen sie interagiert; Korrekturvorschläge, Perspektivenwechsel und Einwände werden von der Ich-Erzählerin kaum berücksichtigt und beiseite geschoben.

In einer subtilen Ansprache des Lesers wird zwar deutlich, dass die Erzählinstanz über sich selbst reflektieren möchte, es gelingt ihr aber nicht. Sie kann die eigenen Handlungen nur in einem engen selbstreferentiellen System hinterfragen, wie die inszenierte Folterszene zu Beginn des Romans zeigt. Das Ergebnis ist eine zunehmende Verzerrung der Weltwahrnehmung und eine unzuverlässige Beurteilung einzelner Situationen, in denen die Protagonistin mit anderen Figuren interagiert und sich die Erzählinstanz in ihrer entworfenen Logik für intellektuell überlegen hält. Damit ist eine (selbst-)therapeutische Korrektur blockiert, die Möglichkeit einer positiven Entwicklung entgleist. Man fragt sich, weshalb keine Supervision der Psychotherapeutin stattfindet (oder ausgeblendet wird), die zu den Standards dieses Berufsfeldes gehört – allerdings muss diese Instanz fehlen, damit die sich selbstverstärkende Abwärtsspirale der Ich-Erzählerin ‚funktioniert‘.

Immer wieder finden sich Hinweise auf Kunst und Kunstwerke, die in die Wahrnehmungsschwelle der Ich-Erzählerin treten. Diese Hinweise verweisen subtil auf das fehlende Reflexionsvermögen und die gestörte Beobachtung der Erzählinstanz: Gleich zu Beginn wird auf die Leistung von Kunst verwiesen, welche Verletzungen heilen könne, wenn man sich auf sie einlässt; auf die Unvereinbarkeit von Kunst und Gewalt verweist Schauli, der Sohn der Ich-Erzählerin; künstlerische Tätigkeit wird als therapeutische Bewältigungsstrategie diskutiert und die Oberflächlichkeit des privilegierten Kunstgenusses kritisiert. Somit werden Kunst und die Reflexion über Kunstwerke zu einem roten Faden, der sich durch den Roman zieht, letztlich aber ohne Einfluss auf die Ich-Erzählerin bleibt.

Sarids Hauptfigur verweist auf die Notwendigkeit einer reflexionsspendenden Instanz, die durch korrigierende Beobachtungspotenziale dem Individuum Handlungsalternativen anbietet. Austragungsort dieses Prozesses ist die Literatur selbst. Ähnlich wie Sarids früherer Roman Monster aus dem Jahr 2019, spielt Siegerin in einer sehr gelungenen Weise mit dem Rezipienten als eine eigene, separate Beobachtungsinstanz: Die Notwendigkeit, über die eigene Beobachtungsposition nachzudenken, verweist auf eben jene korrigierenden Prozesse, die der Ich-Erzählerin des Romans nicht zur Verfügung stehen.

Titelbild

Yishai Sarid: Siegerin.
Aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2021.
240 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958408

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