Ambitioniert abgefahren und abgefahren ambitioniert

Charlie Kaufman schickt den Leser in seinem maßlosen Debüt „Ameisig“ auf eine wilde Achterbahnfahrt aus schallendem Lachen, Begeisterung, Irritation und Ärger

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kaufmans Ich-Erzähler und Protagonist B. Rosenberg ist ein alter weißer Mann mit einem unmodisch langen, fusseligen Bart, Drahtgestellbrille und Habichtsnase. Er ist ein Filmkritiker und Buchautor, der sich mit allen Aspekten von Gender in zumeist völlig unbekannten Filmen befasst und seinen Namen nur mit „B.“ angibt, um sein Geschlecht nicht preiszugeben. Dieser schräge Vogel und Stadtneurotiker hat eine attraktive afroamerikanische Freundin und legt darauf Wert, trotz seines Namens kein Jude zu sein. Immer wieder unterstreicht er „Ich bin kein Rassist. Nicht im Geringsten“, um im gleichen Atemzuge doch immer wieder darüber nachzudenken, ob er mit einem Wort oder einer Geste nicht vielleicht doch rassistisch sein könnte.

Charlie Kaufman, der ein arrivierter Drehbuchautor und Filmregisseur in den USA ist und zum Beispiel durch Being John Malkovich bekannt wurde, mischt schon auf den ersten Seiten seines Romans mit viel Witz, Sarkasmus und politischen Unkorrektheiten den hochaktuellen Diskurs um Rassismus und geschlechtliche bzw. sexuelle Identität auf. Und so muss sein Protagonist, der seinen kleinen Finger rot lackiert hat – als Zeichen der „Solidarität mit der australischen Polishad-Man-Bewegung“, aber auch um einen Fingernagelfehlbildung zu kaschieren – feststellen: „Es ist kompliziert, ein Mann zu sein, vor allem ein weißer Mann.“

In einem zweiten und dominierenden Erzählstrang des Romans geht es aber um den mit drei Monaten längsten Film aller Zeiten, den Rosenberg bei einem Studienaufenthalt in Florida durch Zufall entdeckt: 90 Jahre hat sein dortiger Nachbar, der Schwarze 120jährige Ingo Cutbirth, daran zuhause gearbeitet und eine selbst gebastelte Welt aus Menschen, Städten, Autos und allen anderen erdenklichen Requisiten geschaffen. Rosenberg macht es sich zur Lebensaufgabe diesen Film entgegen des Willens des bald sterbenden Regisseurs zu verbreiten und bekannt zu machen. Doch beim Transport des Films und der tausenden von Kartons mit Staffage nach New York gibt es einen Brandunfall, bei dem er schwer verletzt wird und ins Koma fällt.

Bis zu diesem Zeitpunkt ist Ameisig ein Roman, der mit seinem sprühenden intellektuellen Witz und anarchischen Formexperimenten für Begeisterung und schallendes Gelächter sorgt – ein Roman, der mit avantgardistischem Furor ganz vorne auf der Zeitgeistwelle-Welle surft.

Doch nach dem Aufwachen von Rosenberg aus dem Koma überdreht Charlie Kaufman: Sein Protagonist versucht sich durch Psychoanalyse und Hypnose an jede Szene des Drei-Monats-Films zu erinnern und springt dabei träumend, halluzinierend und imaginierend wie ein Flummi durch verschiedenste (Ir-)Realitäten und nebenbei auch noch durch die Filmgeschichte – wo auch ein gewisser Charlie Kaufman in Variationen als „ein Poseur der widerwärtigsten Art“ verunglimpft wird.

Hunderte von Seiten schickt Charlie Kaufman den Leser so durch ein wortwüstes Szenario zwischen Non- und Highsense, in dem sein Protagonist zunehmend runterkommt und durch aberwitzige Episoden und demütigende Obsessionen taumelt. Er nächtigt in der Sockenschublade seines Therapeuten, begegnet Hitler und Trump und dessen vervielfachten „Trunk-Klonen“ und schließlich auch seinem eigenen Doppelgänger, der mit einem Buch über Ingo Cutbirths Monumentalfilm zu Berühmtheit gelangt ist. Und dann wären da noch eine apokalyptische Feuersbrunst, Jona der Wal und die melancholische Ameise Calcium zu erwähnen und und und…

Charlie Kaufmans Ameisig ist ein Buch, das seinesgleichen sucht und zwischen frappierender Genialität und verstörendem Wahnsinn oszilliert. Es führt den Leser mit unzähligen intertextuellen und geistesgeschichtlichen Bezügen durch ein Spiegellabyrinth der Räume und Zeiten und fragt im Kern danach, wie wirklich die Wirklichkeit und unsere Erinnerung daran ist: „Was ist real? Existierte ich überhaupt? Bin ich die Fiktion eines anderen? Bin ich meine eigene Fiktion?“

Titelbild

Charly Kaufman: Ameisig.
Aus dem Englischen von Stephan Kleiner.
Carl Hanser Verlag, München 2021.
864 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783446268333

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