„Hard country“

Bob Dylans Album „Tempest“

Von Heinrich DeteringRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heinrich Detering

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„This is hard country to stay alive in/ Blades are everywhere, and they’re breaking my skin“. Das Land, von dem Dylans 2012 erschienenes Album Tempest erzählt, ist von Anfang bis Ende zerfurcht und zerrissen von Gewalt; seine Figuren sind Rächer und Verletzte, Mörder oder Mord­opfer oder beides, sie kämpfen gegeneinander, gegen äußeres und inneres Elend, gegen wirtschaftliche und seelische Depressionen. Sie müssen froh sein, wenn sie am Leben bleiben, und manche scheinen von einem Ort aus zu sprechen, der jenseits dieses Lebens liegt.

Aus der ruinösen Gegenwart der USA blicken die zehn Songs, in expliziten Hinweisen und in intertextuellen Bezügen, immer wieder zurück auf eine Geschichte, die nicht vergangen ist: auf die amerikanische Urkatastrophe der Sklaverei, auf den Bürgerkrieg, auf die Great Depression. Und sie blicken auf geschichtliche Epochen, an denen sich das Selbstbild der USA von Beginn an ausrichten sollte: die klassische Antike und die Zeit Shakespeares. Zwei Daten ragen aus den vielen Zeiten und Stimmen dieses düsteren polyphonen Konzerts heraus. Die titelgebende Ballade „Tempest“ spinnt den Untergang der Titanic 1912 aus; mehrfach erscheint der Britisch-Amerikanische Krieg von 1812: „Ever since the British burned the White House down/ There’s a bleeding wound in the heart of town“. Hundert Jahre vor der Veröffentlichung des Albums 2012 ist das Schiff versunken; seit zweihundert Jahren blutet die offene Wunde im Herzen der Hauptstadt. Tempest ist ein düsteres Jubiläumsalbum. Es betrauert das Scheitern eines weltgeschichtlichen Projekts namens „Amerika“.

Dabei müssen die Figuren, wie so oft in Dylans Spätwerk, mitsamt ihrer Vorgeschichte erst aus ihren eigenen Mitteilungen rekonstruiert werden. Die Songs von Tempest haben, wie schon die von Love And Theft und Modern Times, manchmal etwas von dramatischen Monologen. Zwar hat Dylan, 2009 von Bill Flanagan danach gefragt, energisch erklärt, er sei kein Dramatiker – „I am not a playwright“ –, und die Leute in seinen Songs seien alle er: „The people in the songs are all me.“ Aber eben, er ist viele; he contains multitudes.

Tempest ist unter Dylans späten Alben sicher das dunkelste. Vielleicht ist es auch das am strengsten durchkomponierte; eine Suite der Verfinsterung. Der erste Song bricht, als jazzgetönte Western-Swing-Nummer und im Folksong-Motiv der Zugfahrt, in das zu erkundende Land auf. Der letzte feiert in einem getragenen, von Dylan am Flügel begleiteten Lamento und in einer melodisch immerzu fallenden Bewegung, das Gedächtnis eines Toten, mit dessen Schlaf das Album endet: „Cover him over and let him sleep“. Dazwischen liegt das „hard country“.

Jeder der acht so eingerahmten Songs hat in den amerikanischen Idiomen von Swing und Balladen, Gospel und Blues, in der fiktiven Redesituation und in der jeweiligen Erzählung seinen eigenen Charakter. Dylan inszeniert seine kunstvoll gebrochenen Performances zwischen sanfter Melancholie und fauchender Aggression, zwischen Jimmy Rogers, Nick Cave und Tom Waits. Jeder Song variiert dabei dieselben Grundthemen, in fortwährender Verschränkung intimer Nahsicht und zeitgeschichtlicher Panoramen: einerseits den amerikanischen Niedergang, andererseits enttäuschte Liebeshoffnungen, und hier wie dort Klage und Rache, Mord und Totschlag, Raserei des Untergangs. Über dem Schlachtfeld der scheiternden Aufbrüche aber leuchten immer wieder Lichtpunkte einer Hoffnung auf, die nicht mehr von dieser Welt ist: Fragmente biblischer Worte und Visionen, flüchtig und vielleicht nur illusionär. Die Songs von Tempest sind durchsetzt von Liebesträumen, die ins Leere gehen, und von trümmerhaften religiösen Referenzen, deren Erlösungsperspektive offenbleibt. Immer bleibt beides beziehbar auf die sozialen Krisen: als entspreche die Desillusionierung der himmlischen und der irdischen Liebeshoffnungen dem Scheitern des kollektiven Traums.

Weil der Tempest des Albumtitels nur metaphorisch bleibt (ein Sturm wird nirgends erwähnt), liegt es nahe, an The Tempest zu denken, Shakespeares spätes Drama über die Reise in eine „brave new world“, deren märchenhafte Züge schon Zeitgenossen an die Berichte der ersten Amerikareisenden erinnerte. Zwar hat Dylan in einem Interview mit dem „Rolling Stone“ jeden Bezug abgestritten und betont, es handle sich schließlich um „two different titles“. Aber Drama und Album scheinen sich in mancher Hinsicht nicht viel weiter zu unterscheiden als eben Tempest und The Tempest. Tempest bildet, wie seine Vorgängeralben, ein Palimpsest der Epochen und Texte.

Die genaue Komposition des Albums lässt es sinnvoll erscheinen, einen nach Themen gruppierenden Durchgang durch die Songs zu unternehmen – diese Fragmente einer amerikanischen Tragödie.

 

Prolog

Schon der musikalische Auftakt des (mit Robert Hunter geschriebenen) Songs „Duquesne Whistle“ zeigt die Desillusionierung als Strukturprinzip. Die spieluhrhaft beschwingte Eröffnungsmelodie – Dylans Version eines alten Jazztitels von Jelly Roll Morton – endet nach 41 Sekunden abrupt; dann setzt ein von Standup-Bass und Drums angetriebener Song mit einer nicht ganz geheuren Energie ein, im Rhythmus der titelgebenden Eisenbahn auf ihrer rasenden, reißenden Fahrt durch die verfallenden Industriegebiete Pennsylvanias.

„Listen to that Duquesne whistle blowin’“, beginnt jede der fünf Strophen. Immer wenn der Sänger den Signalpfiff hört, den einer realen Eisenbahnlinie im Mittleren Westen, geht ihm durch den Sinn, was der Zug wohl mit sich bringen mag, der durch „my native land“ nach Osten rast (also entgegen der historischen Expansionsrichtung der USA), zurück an den Ort einer Kindheit, der des Sängers und der des Landes: „I wonder if that old oak tree’s still standing/ The old oak tree, the one we used to climb“. Das Kindheitsparadies ist verloren; der Zug durchquert ein Land, das auf den Hund gekommen ist. Die Strecke führt durch die Elendsgebiete der Wirtschaftskrise des Jahres 2012, von Carbondale in Illinois bis nach Duquesne bei Pittsburgh, durch Landschaften der Arbeitslosigkeit, der Obdachlosigkeit, der Drogentoten, immer wieder durch „another no-good town“, zwischen Rotlicht und Blaulicht: „Blue light blinkin’, red light glowin’“.

Der „Duquesne Train“ erinnert an den „Gospel Train“ aus Gospelsongs, von denen Dylan manche selber geschrieben hat (Slow Train Coming). Nicht verwunderlich also, dass sein Signal hier wie eine apokalyptische Warnung klingt; „like it’s on the final run […] like the sky’s gonna blow apart“. Absehbar aber scheint eine solche Zeitenwende nicht. Zwar reimt sich auf die ersehnte Geliebte – „Blowin’ like my woman’s on board“ – die Gottesmutter: „I can hear a sweet voice gently calling/ Must be the Mother of our Lord“. Vorerst aber ist auch die Liebe nur eine Waffe, die zum Tod führt: „You’re like a time bomb in my heart“. Und so tönt auch das Pfeifen des Zuges selbst, „like it’s gonna kill me dead“. – Ende des Prologs, willkommen in Tempest!

 

Liebestode

„Soon After Midnight“, der zweite Song des Albums, beginnt als betörender Country Waltz, untermalt von den tuckernden Triolen eines Fats-Domino-Songs und gesungen in einem romantisch aufgerauhten crooner-Ton. Unverdrossen reimen sich „honey“ auf „money“ und „more than ever“ auf „now or never“; in genregemäßer Sehnsucht erwartet der Sänger ein nächtliches Rendezvous. Der Bruch ereignet sich hier in der zweiten Strophe. Unverhofft legt Dylans Phrasierung eine Pause ein; und von da an kippt das Liebeslied ins makabre Gegenteil. Während wir in seinen Augen das Mondlicht aufblitzen sehen („It’s soon after midnight, and the moon is in my eyes“), singt der Liebende: „A gal named Honey took my money/ She was passing – – by“. In der Atempause ist das Unaussprechliche zu denken.

„My heart is cheerful“, setzt der Sänger fort, „it’s never fearful/ I been down on the killing floors/ I’m in no great hurry, I’m not afraid of your fury/ I’ve faced stronger walls than yours“. Vorfreudig ist er, weil es sich als furchtloser Killer bewährt hat; energisch will er die Schutzwälle der Begehrten einreißen, deren Gegenwehr er gelassen einkalkuliert. Nostalgisch lässt er die Bilder früherer Mädchen an sich vorüberziehen: „Charlet’s a harlot/ Dresses in scarlet/ Mary –  – dresses in green“ (die zweite mörderische Kunstpause); dann sieht er vor sich, wie es mit ihnen endete:

They chirp and they chatter, what does it matter?
They’re lyin’ and they’re dyin’ in their blood
Two-timin’ Slim, who’s ever heard of him?
I’ll drag his corpse through the mud.

Sterbende, die im eigenen Blut zappeln; die Leiche eines Nebenbuhlers, die bald durch den Dreck gezogen wird. Tot wie die Mädchen, die jetzt noch „zirpen und plappern“, ist bald auch die Erwartete, die aus Shakespeares Midsummer Night’s Dream und Spensers gleichnamigem Gedicht herbeigeschwebte „Faerie Queene“ („I got a date with the fairy queen“). In altmodischen Reimen erwartet der Serienkiller sein nächstes Opfer; der Lovesong endet als murder ballad. Die Liebesträume im Mondlicht sind der Anfang des Schrecklichen.

Wo immer in Tempest von Liebe die Rede ist, erweist sie sich früher oder später als nur eine weitere Form der allgegenwärtigen Vernichtung. Im durch keinen Refrain unterbrochenen, szenischen Sprechgesang von „Long And Wasted Years“ blickt der Sänger mit leergeweinten Augen zurück auf eine gescheiterte Ehe. In schnellen Schnitten wechseln Erinnerungsfetzen und Anspielungen auf Tennessee-Williams-Szenen, die einen Zusammenhang von privatem und wirtschaftlichem Unglück andeuten: Der Sänger hat seine Familie verloren, weil sie – metaphorisch oder so buchstäblich wie viele Farmer im Heartland – ihr Land verloren hat: „They may be dead by now/ I lost track of them after they lost their land“. Sie münden in Phantasien einer Rache an „my enemy“, wer immer das sein mag. Das fremde Nebeneinander der Eheleute erscheint wieder im eindringlichen Bild der ostwärts rasenden Eisenbahn: „Two trains running side by side/ Forty miles wide down the Eastern line“.

Am Ende steht die Erinnerung an vergangene Tränen: „We cried on a cold and frosty morn/ We cried because our souls were torn“. Je nachdem, wie dieser Satz zu verstehen ist, entscheidet sich, von welchem Ort aus dieser Monolog gesprochen wird. Womöglich ist es der Limbus der zerrissenen Seelen. Immerhin war schon die Trennung selbst beleuchtet vom Feuerschein eines Weltuntergangs: „I think when my back was turned/ The whole world behind me burned“.

„Tin Angel“ (der Titel verweist vermutlich auf Odettas klassisches Folk-Balladenalbum The Tin Angel von 1954) spielt das Liebesthema ein drittes Mal durch, in einem abermals ganz anderen Genre und Ton. In achtundzwanzig Strophen, die einen einzigen, pentatonisch gefärbten Akkord variieren, und in archaisierendem Englisch erinnert er an schottische Volksballaden, wie sie zu den Quellen von Shakespeares Königsdramen gehört haben könnten. Der König nimmt da blutige Rache am Clanführer, mit dem die Königin fortgeritten ist, und wird selbst ermordet. Am Ende liegen „all three lovers together in a heap“, blutig ineinander verknäult. „I’ve been trying for years to come up with songs that have the feeling of a Shakespearean drama“, hat Dylan 2015 bemerkt – dieser Song ist der erste Versuch des Albums; der zweite wird der Titelsong sein.

Auch die archaische Königsballade aber trägt verwirrend moderne Züge. Der Shakespeare’sche Held heißt durchweg „the boss“, seine Königin und ihr Geliebter verbergen sich hinter Burgmauern und einem „electric wire“; der feudale wird zum Bandenkrieg und der Historien- zum Mafiafilm.

 

Blut und Wunden

Die grausamen Pastiches der Liebeslieder wechseln ab mit Songs, die den Glutkern des Albums markieren. Dass das Land hart sei und von Klingen zerfetzt: das singt in „Narrow Way“ ein einsam monologisierender Wanderer. Diesem Land entkommt niemand ohne Narben: „You won’t get out of here unscarred“. Die alten Wunden von 1812, als die Briten das Weiße Haus niederbrannten, bluten noch immer; und die imperialistischen Beutezüge haben die Armen nicht reicher gemacht: „We looted and we plundered on distant shores/ Why is my share not equal to yours?“ Auch der Wanderer gehört zu denen, die nichts mehr zu verlieren haben: „Nothin’ back there anyway, I can call my own“.

Von den ersten Versen an werden diese historischen Bilder überblendet mit biblischen. In der Wüste („I’m gonna walk across the desert“) sucht der Wanderer den schmalen Weg, der dem Evangelium zufolge ins Himmelreich führt; und die Stimme der Versuchung weist er zurück wie Christus in der Wüste den Versucher: „Go back home, leave me alone“. Wie Christus am Ölberg der Trost der Engel zuteilwird, so betet der Einsame hier: „Look down angel from the skies/ Help my weary soul to rise“.

Aber auf dem Weg durch die elf Strophen, die Charlie Sextons Bluesgitarre mit einem schneidenden Riff vorantreibt, verwirren sich die irdischen und die himmlischen Spuren. Gospel- gehen in sexuelle Bluesmotive über; nach seiner Geliebten verlangt es den Wüstenwanderer, zwischen ihre Brüste will er sich betten, als begrübe er seinen abgeschlagenen Kopf: „I’m gonna have to take my head and bury it between your breasts“. Ihre allzu vielen Liebhaber will auch er töten, nur fehlt ihm die Kraft dazu. So gerät die Anspielung auf das Abendmahl, auf Brot und Wein, zur zynischen Anklage („You went and lost your lovely head/ For a drink of wine and a crust of bread“); und mit der Verschränkung erotischer und religiöser Motive rücken auch die Rollen von Sprechendem und Angesprochener ins Zwielicht. Wer ist er, der bekennt: „I kissed your cheek, I dragged your plow“ – Judas oder der Jünger, der die Pflugschar des Himmelreichs zieht, den Gospel Plow? Und wenn er angewidert ausruft: „Even death has washed his hands of you“ – spricht er dann die Geliebte an oder doch wieder den satanischen Versucher?

Die Zertrümmerung der Glücks- und Hoffnungsmotive aber kann die Aussicht auf ein in immer weitere Ferne rückendes Heil nicht ganz verdecken. Elfmal bittet der Refrain des Erschöpften um Entgegenkommen auf dem schmalen Weg: „If I can’t work up to you/ You’ll have to work down to me someday“. Und über dem wüsten Land glaubt er am Ende eine Stimme zu hören, die der „soft voice gently calling“ aus „Duquesne Whistle“ ähnelt: „I heard a voice at the break of day/ Saying, ‚Be gentle brother, be gentle and pray‘“.

Von Sanftmut und Gebet weiß der Sänger von „Pay In Blood“ nichts. Ausgebeutet („I’m grinding my life away, steady and sure“, „survived so many blows“, „been through hell“) und ohne Hoffnung („Night after night, day after day/ They strip your useless hopes away“) will er es seinen Peinigern nun heimzahlen – und zwar buchstäblich; es geht um die Abzahlung fälliger Schulden. „I’ll give you justice, I’ll fatten your purse“, höhnt er, denn, so der Refrain: „I pay in blood, but not my own“. Die zynische Anspielung auf die Bibel ist gewollt; der Andere, dessen Blut für die eigenen Schulden bezahlt, ist nicht der Gekreuzigte, sondern der getötete Feind. Ihn will der Sänger steinigen, in Ketten legen, durch seine Hunde zerfleischen lassen und schließlich totschlagen.

Dieser Rächer führt seine Klage im Namen der Nation: „Our nation must be saved and freed/ You been accused of murder, how do you plead?“ Dabei verachtet er Politiker, die Rettung versprechen, als „another politician pumping out the piss“. Fraglich bleibt nur, um welche Nation es da geht. Der vulgäre Fluch stammt nämlich wörtlich aus Peter Greens Neuübersetzung der lateinischen Satiren, die Juvenal um das Jahr 100 gegen die Dekadenz der römischen Herrschaftsschichten schrieb. Die letzte Drohung des Songs wiederum, „I came to bury not to praise“, stammt aus Shakespeares Julius Caesar: Marc Anton kündigt den Tyrannenmord an. Aber wer spricht hier dann, welche Stimmen vereinen sich im Hass auf die Herrschenden? „Pay In Blood“ klingt wie der Soundtrack zum Sturm der Trump-Milizen auf das Kapitol im Januar 2021. Und es variiert einen Shakespeare-Monolog über das antike Rom, in nervös synkopierten Blues-Rhythmen.

Ähnlich „Early Roman Kings“.Roman Kings nannte sich eine New Yorker Streetgang in den 1960er und 1970er Jahren – und mit dem Ende der etruskischen Königsherrschaft über die Stadt Rom, also tatsächlich der „early Roman kings“, begann um 510 v. Chr. der Aufstieg des antiken Rom. Dylans Song aber spannt den zeitlichen Bogen noch weiter. Muddy Waters’ oft variiertes Blues-Riff von „Mannish Boy (1955) gibt den sechs Strophen das musikalische Rückgrat. Während die ersten drei die „Early Roman Kings“ als drogenkonsumierende, protzende Akteure des Raubtierkapitalismus darstellen, als Blutsauger, die in Särgen schlafen („nailed in their coffins in top hats and tails“) und das Land verkommen lassen, ist der Betrachter in den letzten drei Strophen Zeitgenosse der Belagerung von Detroit – zugleich einem Hauptschauplatz der gegenwärtigen Wirtschaftskrise – im Jahr 1812: „I was up on black mountain the day Detroit fell“. Amerika und die Antike verschmelzen auch in den finalen Drohungen. Der Todesfluch „I’ll strip you of life, strip you of breath/ Ship you down to the house of death“ zitiert wörtlich Robert Fagles’ moderne Prosaübersetzung von Homers Odyssee. Da ist es der befreite Odysseus, der diese Drohung Polyphem nachruft; beide werden im letzten Song noch einmal auftreten. Der „Sicilian court“ also, vor dem die Kings verurteilt werden sollen, ist in Rom ebenso zu denken wie in einem Mafiafilm von Martin Scorsese.

 

Panoramen und Mysterienspiele

Zwei episch erzählende Songs entfalten die Angst- und Hoffnungsbilder des Albums in weiten Panoramen. Das kontemplative „Scarlet Town“ transformiert die Anblicke eines verwundeten und doch von seinen Träumen nicht ablassenden Amerika in die Topographie einer allegorischen Stadt. Sie ist Heimat wie das „native land“ zu Beginn, doch sie liegt scharlachrot im Licht einer erstarrten Apokalypse: „In Scarlet Town where I was born […] in Scarlet Town, the end is near“. Nah ist das Ende, und es kommt doch nie.

Denn Scarlet Town trägt Züge des Hades, einer Unterwelt der lebenden Toten. Der Vers „Scarlet Town is under the hill“ deutet zugleich einen Ort unter der Erde an, „the underworld“, und verweist auf jenen biblischen Berg, von dem aus Martin Luther King 1963 ins Gelobte Land der Freiheit blickte und ausrief „I have a dream“. In „Scarlet Town“ hat sich der Traum nie erfüllt: „Uncle Tom still working for Uncle Bill/ Scarlet Town is under the hill“, und am Ende: „The black and the white, the yellow and the brown/ It’s all right there for you in Scarlet Town“. Noch immer liegt, wie in der Bürgerkriegsballade „Barbara Allen“, der tapfere „Sweet William on his deathbed“, beweint von „Mistress Mary“. Noch immer führen die Söhne den Krieg der Väter: „In Scarlet Town you fight your father’s foes“ – wenn auch nur noch im Kampf gegen das Erinnern: „You fight ’em on high and you fight ’em down in/ You fight with ’em with whisky, morphine and gin“.

Mit den Alptraumvisionen aber treten in „Scarlet Town“ auch die Gegenbilder markant hervor, von Tanz und Fest, Palmenschatten und blühenden Pflanzen, von Liebe und Erlösung. Sie steigen hier aus Versen des Quäker-Dichters und Abolitionisten John Greenleaf Whittier auf: „Scarlet Town in the hot noon hours/ There’s palm leaf shadows and scattered flowers/ Beggars crouching at the gate/ Help comes but it comes too late“. Wer in Scarlet Town nach Liebe sucht, findet sie nur am Sterbebett des Bürgerkriegssoldaten – oder in der Preisgabe an jeden, der zubeißen will: „Put your heart on a platter and see who’ll bite/ See who will hold you and kiss you good night“. Und wenn am Ende der Sänger das Lächeln des Himmels auf sich herabkommen sieht („I’m staying up late and I’m making amends/ While the smile of Heav­en descends“), dann tut er das, während ihm Schnaps nachgeschenkt wird, neben einer drogensüchtigen Hure an der Theke, „my flat-chested junkie whore“.

Im vorletzten Song endlich erscheint der Albumtitel wieder: „Tempest“, fünfundvierzig monotone, vierzeilige Strophen in sparsamer Instrumentierung, in immer derselben schlichten Melodie im 6/8-Takt, ohne Refrain. Es beginnt mit einem Song der Carter Family auf den Untergang der Titanic, den Dylan in Text und Melodie etwas abwandelt. Daraus geht ein moritatenhafter, Szenen aus James Camerons Titanic-Film einbeziehender Bilderbogen hervor, der einzelne Figuren und Gruppen aus dem dramatischen Geschehen herausgreift und an ihnen unterschiedliche Verhaltensweisen angesichts des sicheren Todes vorführt („brother rose up against brother“); am Ende ist das Schiff versunken. Zum Panorama der vorüberziehenden Figuren gehören historische Passagiere wie „the rich man Mr. Astor“, aber auch „Calvin, Blake and Wilson“, also wohl die Präsidenten Calvin Coolidge und Woodrow Wilson und der Dichter William Blake, ein Bordellbesitzer mitsamt seinen Huren wiederum aus Juvenals Satiren, und „Leo“, der Schauspieler Leonardo DiCaprio aus Camerons Film. Neben ihnen erscheinen aber auch ganz andersartige Gestalten: „Jim Dandy“, eine Figur der rassistischen minstrel shows, mythologische Akteure wie „the Angels“ und „Cupid“, Allegorien wie „Love“, „Pity“, „the Reaper“, „the Rich Man“ und „the Bishop“ aus der Tradition der Morality und Mystery Plays. „These songs of mine“, hat Dylan in einer Rede 2015 gesagt, „I think of them as mystery plays, the kind Shakespeare saw when he was growing up.“

So erscheint denn die Tragödie am Ende als Totentanz („a deadly dance“), und der Schiffsuntergang gewinnt apokalyptische Ausmaße: Da liest der Kapitän „the Book of Revelation“ – „And he filled his cup with tears“, wie der Sänger des 80. Psalms. Die Klage gilt einem Deus absconditus: „For there is no understanding/ For the Judgment of God’s hand“.

Bis ins Detail erweist sich diese Ballade als eine makabre Kontrafaktur von Shakespeares amerikanischem Schauspiel. Im ersten Akt von The Tempest inszeniert der königliche Zauberer Prospero, als gefahrlosen, ohne jedes Opfer abgehenden Beginn seiner Intrige, einen Schiffbruch und holt so die einstigen Feinde auf die Insel seiner Verbannung – diese Insel voller Klänge („the isle is full of noises, sounds and sweet airs, that give delight, and hurt not“). Bei Dylan erscheint der Schiffsuntergang beiläufig als das Werk eines ungenannten wizard: „the wizard’s curse played on“. Nicht nur die Katastrophe also löst der Fluch des Zauberers aus, sondern auch „a play“. Nur geht es anders aus als erwartet. Nicht in die „brave new world“ von The Tempest führt sie, nicht ins von Dylans Passagieren erwartete „golden age foretold“, sondern in „the underworld“. Die Vision von Amerika versinkt als Schauplatz eines apokalyptischen Mysterienspiels im Hades. Und die Stimmen, von denen die Luft hier erfüllt ist, sind die Angstschreie der Sterbenden: „There was blackness in the air/ He saw every kind of sorrow/ Heard voices everywhere“.

Viermal erscheint in diesem Song der „watchman“, eine Figur aus dem Carter-Song. Er sieht den Untergang des Schiffes voraus, wie der Prophet, dessen Wächteramt in der Bibel mit demselben Wort benannt wird („watchman“, Ez 33,1-9). Dylans Prophet aber träumt das Unglück noch, wenn es sich bereits vollzieht; ja, er träumt es noch am Ende der letzten Strophe: „The watchman he lay dreaming/ Of all things that can be/ He dreamed the Titanic was sinking/ Into the deep blue sea“ – als habe die Katastrophe sich gar nicht ereignet.

Dieser watchman träumt nicht nur die Vorzeichen, sondern das gesamte Geschehen. Er ist keine Figur der Handlung, sondern die Handlung ist sein Traum. Und das heißt: Alle Passagiere auf Dylans Titanic sind Geträumte, sie sind, mit Prosperos Worten, „Spirits, which by mine art/ I have from their confines called“. Wie Prospero für Shakespeare, so wird für Dylan der watchman zur Figur der Selbstreflexion. In ihm sieht sich das Album selber an.

 

Epilog

Nach dem Ende der Epilog: Das langsame Begräbnislied (Dirge) „Roll On John“ trägt mit dem refrainhaft angeredeten John Lennon die amerikanischen Träume von Dylans eigener Generation zu Grabe – und gibt sie doch nicht auf. Der paradoxe Sprechakt, einen Toten zum Weitermachen aufzufordern, zielt über diese Welt hinaus. In ihr war „John“ der letzte der Reisenden und Wanderer dieses Albums. Anders als die Schiffspassagiere vor ihm ist er in Amerika angekommen, dort aber wird er hinterrücks ermordet. Anspielungen auf Beatles-Songs markieren seine Lebensstationen; an Beginn und Ende aber steht die eben erst vernommene Nachricht von seiner Ermordung in New York: „I heard the news today, oh boy“. Mit der gospelhaften, Dylans Bekehrungs-Hymne „Precious Angel“ von 1979 zitierenden Aufforderung „Shine your light“ beginnt der Refrain. Was dort allerdings Glaubensgewissheit war, wird hier zum Bild einer Selbstverbrennung entstellt: „You burned so bright“.

Eben als das in Flammen stehende Opfer aber ist John hier der Tyger, tyger aus dem Gedicht des (soeben mit der Titanic versunkenen) William Blake. Die letzte Strophe verbindet das Gedichtzitat mit demjenigen eines frommen alten Kinderreims: „Tyger, tyger burning bright/ I pray the Lord my soul to keep/ In the forest of the night/ Cover him over and let him sleep“.

Auch „John“ ist ein Bewohner zweier Zeitalter. Der Sänger aus Liverpool und „the redlight Hamburg streets“ trägt hier „rags on your back just like any other slave“, ist eingesperrt in „that deep, dark cave“ und dann „cooped up on an island far too long“; auch nach seiner Ankunft ist es doch immer „too late now to sail back home“. Dylan bezieht diese Wendungen wieder wörtlich aus Robert Fagles’ Prosaübersetzung von Homers Odyssee. So liegt am Ende dieses Albums John Lennon ermordet in New York City: ein Ulysses der Popkultur, für den es keine Heimkehr mehr gibt, „no direction home“.

 

„This is hard country to stay alive in“, singt Dylan in „Narrow Way“, hundert Jahre nach dem Untergang der Titanic und zweihundert nach der Zerstörung Washingtons. Das Amerika dieses Albums ist No Country For Old Men: kein Land für Arbeiter und Wanderer, romantische Liebende und alte Ehepaare, kein Land für Schiffsreisende auf der Suche nach dem verheißenen Goldenen Zeitalter. Es ist zum Land der Kämpfer geworden, der Mörder und der Ermordeten „down on the killing floors“, der heruntergekommenen „no-good towns“, der verlorenen Farmen und der Bettler am Tor, der nicht abzahlbaren Schulden, zerschnitten von den Klingen eines Bürgerkriegs, der nicht endet, ein Land der zerstörten Hoffnungen und gescheiterten Beziehungen, der zugrundegegangenen Träumer, endlich der eintausendsechshundert Toten, die mit dem allegorischen Schiff im Titelsong versinken, ein Land im Blaulicht der Krankenwagen, der Fackeln auf dem Weg zum Königsgrab, im Feuerschein der sich verbrennenden Künstler und im Rotlicht der Apokalypse wie „Scarlet Town“.

Die Ichs, deren Stimmen sich in Dylans Stimme versammeln, durchwandern dieses Amerika, das so viele andere Zeiten in sich aufgenommen hat, „armed to the hilt“ und „struggling hard“, sie stoßen ihre Feinde in den Dreck, zerren ihre Leichen durch den Schlamm und bezahlen mit dem Blut ihrer Opfer. Sie alle sind, wie Shakespeares Marc Anton, gekommen „to bury, not to praise“. Aber sie alle erinnern sich auch an „that old oak tree“ der Kindheit und an Zeiten, als „our hearts were true“; und sie alle hoffen auf ein Ende, an dem „the smile of Heaven descends“. Sie hören „a sweet voice gently calling“ und Stimmen, die sie auffordern: „be gentle and pray“. Sie alle sind auf dem „Narrow Way“ unterwegs, auf dem ihnen eines Tages, wer weiß, vielleicht doch noch jemand entgegenkommen wird. Und mitten unter ihnen steht, schwankend und doch noch immer aufrecht, ein Sänger, der ausruft: „I ain’t dead yet, my bell still rings/ I keep my fingers crossed like the early Roman Kings“.

 

Dieser Beitrag wurde dem von Dieter Lamping und Sascha Seiler herausgegebenen Sammelband May your songs always be sung. Bob Dylans große Studioalben entnommen:

Titelbild

Dieter Lamping / Sascha Seiler (Hg.): May your songs always be sung. Bob Dylans große Studioalben.
Verlag LiteraturWissenschaft.de, Marburg 2021.
160 Seiten , 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783936134803

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