Ein Text, der alle Kategorien sprengt
Michael Lentz versucht in „Innehaben“, der Komplexität seines eigenen Romans Herr zu werden
Von Mario Wiesmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer poeta doctus, der gelehrte Dichter, hat einen umstrittenen Ruf. Seine kenntnis- und anspielungsreichen Texte reizen zu intensiver Lektüre, aber man sagt ihm auch nach, verkopft zu schreiben, überladene Texte zu produzieren. Ein poeta doctus ist auch der Autor, Musiker und Literaturwissenschaftler Michael Lentz. Das hat er zuletzt mit Schattenfroh bewiesen, einem Roman wie einer literaturtheoretischen Versuchsanordnung, gespickt mit Zitaten und Anspielungen auf die europäische Kunst- und Geistesgeschichte.
Zu den Besonderheiten von Schattenfroh gehört, dass die Handlung des Romans auf einer ganzen Reihe klassischer Kunstwerke basiert, die nicht nur als Bilder in ihm beschrieben werden, sondern kleine Universen im Text darstellen, in die die Hauptfigur eintaucht. Insbesondere diese Text-Bild-Beziehung hat Michael Lentz zum Anlass genommen, seinen Roman in der 2020 bei Fischer erschienenen Monografie Innehaben. Schattenfroh und die Bilder selbst zu analysieren.
Im Fokus der Studie steht das Verhältnis des Romans Schattenfroh zu den Bildern, die in ihm vorkommen. (Zu den zahlreichen realen Gemälden der europäischen Kunstgeschichte, die in den Text eingeflossen sind, kommen einige Werke anderer Kunstformen wie Skulptur, Architektur und Film sowie einige fiktive Kunstwerke, die die realen Präbilder ergänzen.) Lentz beginnt mit einer theoretischen Verortung dieser Beziehung von Text und Bild sowie einem Abriss der Ekphrase, der Bildbeschreibung. Dabei beruft er sich unter anderem auf Lessing, Husserl und Gottfried Boehm, greift aber auch poststrukturalistische Thesen auf. In diese Richtung weist bereits die Feststellung, dass Text und Bild immer schon ineinander verstrickt seien: Zum einen beruhe das Denken auf Vorstellungsbildern, zum anderen sei jedes Bild Text.
Der Fokus der Arbeit liegt jedoch auf der Bildbeschreibung, genauer gesagt auf der narrativen Ekphrase, die das leitende Verfahren des Romans darstellt. Lentz’ Ekphrasen sind weniger Bildbeschreibungen als Bilderzählungen. Die Bilder, die er in seinem Roman verarbeitet, werden dort nicht (nur) als Bilder behandelt, sondern stellen (gleichzeitig) Welten dar, durch die sich die Figuren bewegen, eine „ekphrastische Psychogeographie“, mit der Lentz gleichzeitig die eigene Erinnerung durchwandert. Wenn der Roman über sich hinausweist, auf andere Kunstwerke und andere Medien, schlägt sich das deshalb auch in seiner eigenen Struktur nieder: Seine Bezüge eröffnen gleichzeitig neue Erzählebenen.
Auch diesem Phänomen schenkt Lentz besondere Beachtung. Denn die ekphrastischen Binnenerzählungen in Schattenfroh zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich nicht immer der Rahmenerzählung des Romans unterordnen lassen. Das Ergebnis ist die paradoxe Konstellation der mise en abyme: Die Bilderzählungen, eigentlich nur begrenzte Abschnitte innerhalb der Geschichte, eröffnen Welten, die die Rahmengeschichte ganz in sich zu enthalten scheinen. Hierin liegt eine Pointe des Romans: Im erzählerischen Kunstgriff der mise en abyme bewahrheitet sich die von Lentz behauptete wechselseitige Abhängigkeit von Text und Bild.
Zur Mise-en-abyme-Struktur kommen weitere rein literarische Eigenheiten des Romans, die in Innehaben beleuchtet werden. Lentz geht es darum, darzustellen, wie sein Roman die eigene Fiktionalität und Textualität thematisiert. Schattenfroh sei als Text konzipiert, der seine eigene Entstehung erzähle. Was damit gemeint ist, wird mit Blick auf die Ekphrasen klar: In ihnen entfaltet sich einerseits die Geschichte des Romans. Andererseits sind sie deutlich als Akte der Immersion in andere Kunstwerke markiert und lassen so den Schaffensprozess des Autors durchscheinen. Indem Lentz erzählt, wie seine Hauptfigur in die Bilder schlüpft, legt er seine Quellen offen und gibt dem Prozess der künstlerischen Inspiration und Adaption eine literarische Entsprechung im Text selbst.
Seinen theoretischen Überlegungen lässt Lentz eine über 150 Seiten lange Analyse einzelner Ekphrasen im Roman folgen. Aufschlussreich legt er dort die Bezugspunkte des Textes dar, wodurch subtilere Anspielungen (nicht nur auf Details der Präbilder, sondern auch auf Prätexte) aufgehellt werden. Außerdem arbeitet er überzeugend heraus, wie die Ekphrasen die Wirklichkeit der Geschichte und die Hierarchie der Erzählebenen in Frage stellen. Ein Aspekt des Romans, auf den Lentz in diesem Zuge immer wieder eingeht, ist die Unzuverlässigkeit seines Erzählers. Dessen Bilderzählungen sind durchzogen von Unstimmigkeiten, die am Beschriebenen zweifeln lassen und gleichzeitig die Vermutung nahelegen, das in den Bildern ‚Erlebte‘ könnte seiner Imagination entsprungen sein.
Indem Lentz Zweifel an seinem Erzähler sät, verschafft er poststrukturalistischen Thesen Raum. Sein Ich-Erzähler mit dem passenden Namen „Niemand“ befindet sich zu Beginn des Romans an einem Tisch, in dessen Oberfläche unzählige Texte geritzt wurden. Was sich im Verlauf des Romans als Geschichte entfaltet, könnte sich in Wirklichkeit der Versenkung des Erzählers in diese Prätexte verdanken. Das Motiv des bekritzelten Tischs erinnert an Genettes Metapher des Palimpsests, ruft aber in der Konstellation im Roman das entgrenzte Intertextualitätsverständnis Julia Kristevas und Roland Barthes’ wach. Denn die Abhängigkeit des Erzählten von den eingeritzten Texten wird von Lentz durchgängig als geheimnisvoll, unbewusst und ausufernd dargestellt.
Mehr noch als seine Entstehung erzählt Schattenfroh deshalb seine Dekonstruktion. Womöglich ist selbst der Tisch nicht real und die Halluzination der Geschichte mitsamt den erzählten Bildern in Wahrheit von einem Kästchen verursacht, durch das der Ich-Erzähler zu Beginn des Romans blickt, „und eine frühe Stelle in Schattenfroh belegt die Version, dass es sich bei dem auch ‚Brille‘ genannte [sic] Kästchen, das der Ich-Erzähler auf seiner Stirn hat, um ein Tefillin, eine Gebetskapsel handelt.“ Schattenfroh prägt eine „spielerische Freude am Verschachtelten“: Alles wird verkompliziert, wo möglich, wird die einmal erzeugte Komplexität noch weiter gesteigert, etwa indem Lentz innerhalb einer Ekphrase eine weitere beginnen lässt. Diese potenzierte Komplexität aufzudecken oder zumindest anzudeuten, ist Lentz’ ständiges Anliegen in Innehaben.
Dabei bewegt sich seine Arbeit auf der Schwelle zwischen auktorialer Selbstauskunft und wissenschaftlicher Analyse. Lentz bemüht sich um eine anschauliche Beschreibung der Strukturen seines Romans und liefert zuverlässig die passenden (teils aufgrund der Komplexität des Textes neugebildeten) literaturwissenschaftlichen Begriffe, um sie zu beschreiben. Gegenüber einer literaturwissenschaftlichen Deutung verzichtet er aber oft auf die Interpretation des Beschriebenen. So wird man auf komplexe Konstellationen von Erzählebenen und Text-Bild-Beziehungen wie eine „metahypodiegetische Ekphrasis“ aufmerksam gemacht, muss sich ihre Funktion aber selbst mithilfe des Theorieteils erschließen.
Nun wird man es einem Autor nicht ankreiden, wenn er sich nicht klar zur Deutung seines eigenen Textes äußert. Da Lentz sein Buch jedoch als wissenschaftliche Studie angelegt und in seinem Theorieteil Thesen aufgestellt hat, die eine Klärung durch die anschließende Analyse erwarten lassen, stellt sich beim Lesen eine gewisse Enttäuschung ein. Umso mehr, da die Kapitel zu einzelnen Ekphrasen zum größeren Teil aus Zitaten der entsprechenden Textstellen bestehen, oft noch ergänzt um Beschreibungen des Inhalts. Die eigentlichen Kommentare sind sehr gedrängte Abschnitte dazwischen und lesen sich stellenweise auch so.
Letztlich ist die Intertextualität seines Romans für Lentz genauso wichtig wie seine Ekphrastik: Das ekphrastische Erzählen begreift er „als Appropriation der eigenen Heilsgeschichte“, die sich aus dem reichen Fundus der europäischen Kultur bedient. Durch die Ekphrase eignet sich der Erzähler von Schattenfroh Texte an, projiziert sich in sie hinein und wandelt sie in einen eigenen Text um. Dem Roman ist damit zum einen die Lentzsche Poetik eingeschrieben. Zum anderen lässt er sich als Allegorie auf die Suche nach sinnvollen Weltbezügen lesen – Weltbezügen, die für Lentz immer vorläufigen Charakter haben.
Lentz’ Studie kann nicht nur helfen, die Struktur und die zahlreichen Bezüge in Schattenfroh zu verstehen, sondern wirft auch literaturtheoretische Fragen auf, indem sie literarische Verfahren und literaturwissenschaftliche Modelle an ihre Grenzen bringt. Lentz bemüht eine Vielzahl von Theorien und Konzepten, um ebenso viele Facetten seines Romans zu beschreiben. Innehaben bietet jedoch weder die Kohärenz eines Lektüreschlüssels noch die einer literaturwissenschaftlichen Arbeit. Viele interessante Gedanken hat Lentz nur in Ansätzen entwickelt; sie fordern zu einer weiteren Auseinandersetzung auf. Wer mit der Komplexität des Romans umzugehen weiß und mit den Grundbegriffen der Literaturwissenschaft vertraut ist, kann beiden Qualitäten des Buchs etwas abgewinnen. Dass der Roman die intensive Auseinandersetzung lohnt, kann Innehaben aber nur zum Teil belegen.
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