Ein schwieriges Frauenleben
Mit „Die Dicke“ bricht Isabela Figueiredo mit manchem Tabu
Von Martin Gaiser
2021 hätte Portugal das Gastland der Leipziger Buchmesse sein sollen. Pandemiebedingt wurde die Messe als Präsenzveranstaltung abgesagt, die Bücher, die zu diesem Anlass geplant waren und für die Zuschüsse für Übersetzungen aus unterschiedlichen Töpfen bewilligt werden, sind längst gedruckt. Aus vielen dieser Bücher wird im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Leipzig liest extra“ trotzdem gelesen, vom 27. bis 30. Mai werden insgesamt 21 Lesungen gestreamt, organisiert von der Leipziger Buchmesse und der Kurt Wolff-Stiftung. So wird es am 28. Mai die Veranstaltung „Portugal liest in Leipzig – Ein Ausblick auf das Gastland 2022“ geben, an der u. a. Isabela Figueiredo teilnehmen wird.
Ihr Roman Die Dicke ist im März im Weidle Verlag erschienen (als eBook bei Culturbooks). Wie schon in ihrem Buch Roter Staub. Mosambik am Ende der Kolonialzeit (Weidle Verlag, 2019) verarbeitet die 1963 in Lourenço Marques (dem heutigen Maputo) geborene Autorin darin viele Aspekte ihres Lebens. Als Kind portugiesischer Eltern, die in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts in die damalige Kolonie Mosambik ausgewandert sind, wurde sie von ihrem Vater als Zwölfjährige nach Portugal geschickt. Die Eltern blieben erst noch in Afrika, kamen später nach. So wuchs die Romanfigur Maria Luísa bei Verwandten auf (vergleichbar dem Lebensweg der Autorin), ging lange Jahre in ein Kolleg, wo sie eine gute Schülerin war. Doch das Mädchen ist ungewöhnlich dick, ein Umstand, der ihr viel Spott einträgt und sie immer wieder abseitsstehen lässt. Was für ein Glück für sie, dass sie im Kolleg eine Freundin findet, Tony aus Angola. Diese Person lädt Isabela Figueiredo dermaßen mit superlativen Attributen auf, lässt sie auf völlig übertriebene Weise angeben, dass dem Leser schnell klar wird, hier soll der frappierende Unterschied zwischen den beiden jungen Frauen ausgestellt werden. Als Maria Luísa sich Tony intim zu nähern versucht, da sie deren so ganz anderen Körper reizvoll findet, weist diese sie brüsk ab, der Bruch ist da.
Überhaupt die Liebe, explizit auch die körperliche Liebe, der Sex sind in Die Dicke ein wichtiges Thema und Motiv. Als Frau von Anfang 20 lernt die Protagonistin den jungen Dichter David kennen, schnell kommen sie sich in Gesprächen und mit ihren Körpern näher, die Autorin schildert ihre intimen Begegnungen intensiv. Die Beziehung verändert die junge Frau, sie fühlt sich sicherer. Doch David schämt sich ihrer, bittet sie, die Treffen zu reduzieren, bis auch dieser Kontakt endet. Ein Schock für Maria Luísa, die sonst kaum Sozialkontakte hat, bei ihren aus Mosambik heimgekehrten Eltern wohnt, sich einerseits in die familiären Abläufe einfügt, andererseits aber auch ein selbst bestimmtes Leben leben möchte. An David wird sie noch lange leiden, wird ihn Jahre später, er ist längst verheiratet, wieder treffen, da sie mittlerweile an der gleichen Schule unterrichten.
Die Dicke ist ein starkes Buch, das sich auf sehr eigenwillige literarische Weise mutig an tabuisierte Themen heranschreibt. Da ist natürlich die Körperfülle, die in Zeiten von Schönheitsidealen und schnellem Abscannen ein klares Zeichen setzt gegen ungerechtfertigte Vorurteile und Ausgrenzung. Durch ihre Beschreibungen der sexuellen Aktivitäten ihrer Heldin macht Figueiredo auch deutlich, wie relevant Themen wie Körper, Geschlecht, Diversität sind (das Original ist 2016 in Portugal erschienen). Außerdem bezieht sie sich in ihrem Roman immer wieder auf politische Entwicklungen, auf die Rolle ihres Vaters als Weißer in Mosambik, auf das nicht wirklich aufgearbeitete Kapitel der portugiesischen Kolonialzeit. Der Aufbau des Buches erinnert an Georges Perecs Das Leben. Gebrauchsanweisung, Isabela Figueiredo lässt ihre Protagonistin durch die Eingangstür die Wohnung der Eltern betreten und sie nach und nach durch alle Räume gehen. So erinnert sie sich an ihr Leben, an ihre Eltern, an Episoden und Alltägliches, an Umwälzungen und Veränderungen, an Liebe und Trauer, Verlust und Glück. Dieses zerrissene, nicht immer glückliche Leben, verwoben mit der Geschichte des Landes, ist keine leichte Unterhaltung. Die Dicke fordert seine Leserschaft, und das ist gut so.
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