Es offenbarten sich immer neue Schätze

Ein Gespräch mit Frank Boldewin, Co-Autor der EUROPA-Chronik

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

EUROPA ist ohne Frage das berühmteste und erfolgreichste Hörspiellabel Deutschlands, und bei einem Großteil der heute Erwachsenen mit angehmen Kindheitserinnerungen an Serien wie Die Drei ???, TKKG oder die Gruselserie verknüpft. So wurde es Zeit für ein Buch, das die Geschichte der Firma ausführlich nacherzählt. Die im November 2020 von Frank Boldewin und Wolfram Damerius verfasste EUROPA-Chronik tut dies detailgenau in Wort und vor allem Bild: Ein voluminöses, schweres Coffee-Table-Book, das viele Erinnerungen weckt, aber auch zahlreiche Geschichten erzählt, die den meisten Hörern bis heute mit Sicherheit nicht bekannt waren. Wir sprachen mit Frank Boldewin über die Geschichten hinter der EUROPA-Chronik

 

literaturkritik.de: Wie ist die Idee zur EUROPA-Chronik entstanden?

Frank Boldewin: Entstanden ist die Idee aus dem Wunsch heraus im Rahmen einer Jubiläumsausgabe unseres Hörspielmagazins PLAYtaste (playtaste.de) das Label EUROPA zum 50. Geburtstag angemessen zu würdigen. Schon in vorherigen Ausgaben haben mein Kollege Wolfram Damerius und ich Fokusartikel rund um das Thema EUROPA und die Macher dahinter vorgestellt. In Ausgabe 4 hatten wir die Ehre, die bekannte Regisseurin und Hörspielkönigin Heikedine Körting einmal persönlich in ihrem Studio in der Hamburger Rothenbaumchausee zu besuchen und mit ihr ein ausführliches Interview zu führen. Der Kontakt entstand damals über den „Die drei ???“-Autor André Minninger, der seit 1983 auch die rechte Hand von Heikedine Körting ist. Im Februar 2015 waren wir dann abermals zu einem Interview-Termin geladen. Besonderes Highlight auf unserem Besuch war die Möglichkeit auch den Mitbegründer des Labels EUROPA, Dr. Andreas Beurmann, über die Entstehungsgeschichte und deren Hintergründe zu befragen. Nach mehreren Stunden Interview, der Sichtung von unzähligen alten Dokumenten, Werbematerialen und Fotos kamen wir schnell zu dem Schluss, dass selbst eine hundertseitige Ausgabe unseres Magazins nicht ausreichen würde, die Geschichte, inklusive des umfangreichen Materials, angemessen zu präsentieren. Daraufhin schlug Frau Körting vor, ob wir nicht ein Buch schreiben wollten, dass die Firmenchronik des Labels EUROPA erzählt. Das war für uns eine große Ehre und wir nahmen die Arbeit an dem Werk auf. Aus dem Vorhaben wurden insgesamt 5 ½ Jahre Freizeitarbeit, die sich in den insgesamt 420 Seiten des Buchs widerspiegeln.

literaturkritik.de: Der Reiz bei EUROPA besteht ja nicht nur in den Hörspielen an sich, sondern auch darin, dass diese mit unseren Kindheitserinnerungen verknüpft sind. Was das betrifft, ist das Buch eine wahre Fundgrube: Man liest von Serien, an die man sich gar nicht mehr bewusst erinnert hat. Waren Sie bei der Arbeit überrascht, was da alles zu finden war?

Boldewin: Schon in frühster Kindheit, in den 1970er Jahren, begann ich meine Leidenschaft für das Hörspiel zu entdecken. Vor allem EUROPA-Hörspiele auf Schallplatte, später auch auf Kassette zählten zu meinem damaligen Fundus. Im Alter von 11 Jahren verließ mich das Interesse an Hörspielen für einige Jahre. Meine Sammlung reichte ich an jüngere Freunde und Verwandte weiter. Mit Anfang 20 steckte ich in diversen Prüfungen und hatte oftmals Schwierigkeiten abends in den Schlaf zu kommen. In dieser Zeit entdeckte ich das Hörspiel für mich neu, da sie eine hervorragende Einschlafhilfe boten. Ich begann daraufhin meine alten Hörspiele auf Flohmärkten wiederzufinden. Schnell wuchs sich das Thema aus und nicht selten schleppte ich an Wochenenden Säckeweise alte Hörspiele heim. So hatte ich nach einigen Jahren hunderte von EUROPA-Produktionen zusammen und kannte so den Umfang des Gesamtrepertoires recht gut. Bei unserer Recherche am Buch haben wir dennoch im Rahmen unserer Interviews sehr viel Neues erfahren und seltene Stücke gesichtet, die selbst dem hartgesottenen Sammler bis Dato verborgen geblieben waren.

literaturkritik.de: Was ich auch interessant fand, war das alte Promotion-Material, die Werbeanzeigen und Pappsteller, die mit abgedruckt sind.

Boldewin: Während der Arbeit an dem Buch offenbarten sich uns immer neue Schätze. Schon während des ersten Interviews konnten wir sehr viel Werbematerial sichten, das zuvor noch nie im Sammlerkreisen aufgetaucht war. Vieles davon ging damals nur an die Händler und erreichte selten den Endverbraucher. Dr. Beurmann hatte glücklicherweise sehr viele schöne Programmfolder, Kataloge und anderes Promotionmaterial in Aktenordnern aufbewahrt. Dennoch machten wir uns Sorgen, ob wir genug Informationen und Bildmaterial aus den frühen Jahren zusammentragen konnten, denn im Buch erzählen wir zunächst die Vorgeschichte des Labels, die ihren Ursprung in der Nachkriegszeit findet, also 20 Jahre vor Gründung des Labels EUROPA. Dies erschien uns erzählenswert, um gewisse Zusammenhänge besser zu verstehen. In diesem Zuge trugen wir auch zahlreiches altes Material aus alten Billboard-Archiven zusammen, kauften Schallplatten und Revox-Bänder aus den USA usw. Überdies befragten wir auch alte Weggefährten der ersten Stunde, wie Dr. Wilhelm Wille oder Harald A. Kirsten, die schöne Anekdoten beitragen konnten, um Wissenslücken zu schließen. Ein weiteres Highlight waren auch die vielen Bilder der Messe- und Propagandastände aus den früheren Jahren des Labels, die uns der ehemalige Vertriebsmitarbeiter Rudolf von Krüger zur Verfügung stellte. Alles exklusives Material, von dem wir niemals dachten, dass es irgendjemand aufbewahrt hat über all die Jahre. Um auch den Fortlauf der Geschichte in den Jahren nach dem Verkauf des Labels EUROPA an BMG besser zu verstehen, führten wir weitere zahlreiche Interviews mit Produktmanagern, Vertriebsleuten und Hörspielsprechern, die uns auch tatkräftig mit Material versorgten. Vor allem über den Chronikverlauf ab 1990 war uns nur wenig bekannt. Hier war es besonders spannend zu erfahren, wie sich das Medium, die Konsumenten und damit auch das Labels über die Jahrzehnte weiterentwickelt hat. Eine Marke über einen so langen Zeitraum zu prägen und dabei auf Erfolgskurs zu bleiben ist schon eine besondere Herausforderung.

literaturkritik.de: Das Buch ist aber trotzdem ohne Verlag entstanden, oder?

Boldewin: Eine ganz bewusste Entscheidung, denn unser Buch gehört der Kategorie „Special Interest“ an und war von vorherein nicht für den Mainstream-Markt angedacht. Gleichzeitig wollten wir das Buch auch zu einem sehr attraktiven Preis anbieten, denn es galt die Devise „Von Fans, für Fans“. Mit einem Verlag im Hintergrund wäre ein derartiger Preis im Verhältnis zur geringen Auflage wohl nicht gelungen. Frau Körting gab uns dann den Tipp, den Buchdruck bei Dräger & Wullenwever in Lübeck in Auftrag zu geben, weil sie bereits in der Vergangenheit gute Erfahrungen mit dem Verlag gemacht hatte. Andreas Wilken von POP.DE, Inhaber des größten Hörspielhandels in Deutschland, bot an die Kosten für den Buchdruck zu tragen und den Vertrieb zu übernehmen. Das war eine tolle Zusammenarbeit.

literaturkritik.de: Die zweite Auflage ist sogar auch schon vergriffen. Das Buch hat sich erstaunlich schnell verkauft, oder?

Boldewin: Ja, wir waren auch verwundert. Wir hatten im Vorfeld ein wenig Werbung über die sozialen Medien geschaltet, bei der uns auch SONY, heutiger Inhaber des Labels EUROPA, tatkräftig unterstützt hat. Zum offiziellen Verkaufsstart am 2. November 2020 war die Erstauflage quasi schon ausverkauft. Im Dezember folgte dann nochmal eine weitere Auflage, die ebenfalls schnell vergriffen war.

literaturkritik.de: Kommt noch eine Auflage?

Boldewin: Momentan ist keine weitere Auflage in Planung. Ausschließen möchten wir es aber nicht. Aktuell entsteht auf Gut Hasselburg gerade Deutschlands erstes Hörspielmuseum, mit Heikedine Körting als Schirmherrin des Projekts. Ich kann mir vorstellen, dass im Rahmen dieser Ausstellung ggf. nochmal eine neue Auflage entsteht.

literaturkritik.de: Wie stehen Sie zur Format-Frage? Kann man die EUROPA-Hörspiele auch gut auf CD oder als Stream hören oder meinen Sie, dass Kassetten das eigentlich Wahre gewesen sind?

Boldewin: Auf Reisen ist die digitale Form des Hörspiels sicherlich die praktischste. Nostalgisch gesprochen ist und bleibt die Schallplatte mein Favorit. Zum einen wirkt das Cover einer LP deutlich schöner, zum anderen liegt die Langlebigkeit dieses Mediums, bei guter Pflege, deutlich über den Alternativen MC oder CD.

literaturkritik.de: Was machtfür Sie den besonderen Reiz der  EUROPA-Hörspiele aus?

Boldewin: Schon in meiner Kindheit fand ich EUROPA-Hörspiele immer besser gemacht als die Produktionen anderer Anbieter. Bereits in den frühen Jahren des Labels waren die Abenteuer-Hörspiele rund um Karl May sensationell in Szene gesetzt. Spannend erzählt, mit tollen Sprechern und einer musikalischen Untermalung, wie man sie sonst nur in großen Hollywood-Produktionen zu hören bekommt. Ende der 1970er Jahre folgten dann Hörspielserien aus den Genres Jugendkrimis, Science-Fiction und Horror. Auch bei der Auswahl der Stoffe hatte man im Hause EUROPA ein gutes Händchen bewiesen. Serien wie Die drei ???, TKKG und Fünf Freunde sind bis heute und über Generationen hinweg erfolgreich und mittlerweile auch Kult. Das spricht für sich.

literaturkritik.de: Meine letzte Frage: Was war Ihr Favorit?

Boldewin: Die Favoriten haben sich im Laufe der Jahre immer mal wieder abgewechselt. Als kleines Kind habe ich zunächst nur Märchen gehört und war fasziniert von den Hörspiel-Adaptionen, die Konrad Halver für EUROPA damals geschaffen hat. Da zog man sich teilweise schon die Decke über den Kopf, in manchen Momenten des Geschehens. Bis heute liebe ich die bereits genannten Kultklassiker und darüber hinaus auch die EUROPA Bestseller-Reihe.