Von Alice im Wunderland bis zum Zappelphilipp

Wie literarische Figuren zu Syndromen werden, beleuchtet der Sammelband „Syndrome. Fiktionen und Pathologien“ von Rupert Gaderer und Wim Peeters

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Syndrom, gemeinhin die Bündelung von Symptomen in einem Krankheitsbild, wird recht häufig mit dem Namen einer realen lebenden oder verstorbenen Person benannt, etwa der/dem Mediziner*in, der/die das Syndrom als Erste*r diagnostiziert hat. Daneben fungieren aber auch fiktive Charaktere aus literarischen und/oder mythologischen Texten als Namensgeber*innen. Eponyme dieser Art sind nicht nur Gegenstand medizinhistorischer Studien, sondern, dies beweist der vorliegende Band, können gewinnbringend aus kultur-, literatur- und medienwissenschaftlicher Perspektive aufgeschlüsselt werden. Während in der Medizingeschichte die Taufpat*innen aus der Literatur nicht selten auf eine passive Rolle reduziert werden, dominiert aus geisteswissenschaftlichem Blickwinkel die Frage nach der „Übersetzung“ des literarischen Stoffs in das medizinische Wissen.

Diese erfolge oftmals auf Umwegen, so die Herausgeber Rupert Gaderer und Wim Peeters in ihrer Einleitung zu Syndrome. Fiktionen und Pathologien. Der Transfer von der einen in die andere Disziplin erfolge „an einem dritten Ort, einem Raum der Verknüpfung und Verbindung“. Darauf legen die Beiträge zu den einzelnen Syndromen den Fokus, auf die „Passage“ nämlich, die zu Recht als „epistemologisches Modell“ begriffen wird. Im Prozess des Benennens der Syndrome habe man „mit Abzweigungen, Zickzack-Linien, Extensionen und Verknappungen“ zu rechnen „und nicht unbedingt mit einer Trennung oder einem Spalt zwischen einer naturwissenschaftlich-technischen und einer geisteswissenschaftlich-künstlerischen Welt“.

Dass die Eigendynamik der Narrative im Verlauf der Namensgebung als dezisiv eingestuft wird, kann nur begrüßt werden. Diese fassen Gaderer und Peeters mit dem weiten Begriff der Literarizität und meinen damit all das, was von der Literatur in die medizinische Nomenklatur eingeht und sich bei gleichzeitiger Rückkoppelung an die Quellen dennoch eigenständig entfaltet.

Viele Autor*innen des Sammelbands folgen bei der Präsentation der insgesamt 23 alphabetisch geordneten Syndrome dem folgenden Schema: 1. Literarische und/oder filmische Modelle, 2. Eponym, 3. Literarizität, 4. Medium und Kulturtechnik, 5. Passagen. Wie die einzelnen Punkte aufeinander folgen, wird dabei flexibel gehandhabt.

Nicht verwunderlich ist es, dass sich die einzelnen Studien zu einem sehr farbenfrohen Bild, so bunt wie die Syndrome, die man Revue passieren lässt, zusammenfügen. Bemerkenswert bleibt dennoch die quantitative und vor allem qualitative Heterogenität der Texte zu den Syndromen, deren Benennungen mehrheitlich auf Protagonist*innen literarischer Werke rekurrieren: Alice im Wunderland, König Blaubart, der Juwelier Cardillac aus E.T.A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi, Diogenes, Don Quijote, Dornröschen, Felix Krull, Hannibal Lecter, Hiob, Dr. Jekyll and Mr. Hyde, Madame Bovary, Michael Kohlhaas, Münchhausen, Oblomow, Rapunzel, Rotkäppchen, Shandy, Truman, Undine, Walter Mitty aus James Thurbers Kurzgeschichte The Secret Life of Walter Mitty und last but not least der Zappelphilipp aus dem Struwwelpeter. Eine Ausnahme bildet der in den Abecedarium-Reigen eingegliederte amerikanische Präsidentschaftskandidat Barry Goldwater, der durch sein politisches Programm und die sogenannte „Goldwater-Rule“ Verbindungen zur Literatur aufweist.

Während einige Autor*innen die Syndrome anekdotisch-kursorisch reduzieren, gelingen anderen regelrechte Leuchttürme interdisziplinärer Erkenntnis, einhergehend mit breiter und profunder Reflexion und Perspektivierung. Nichtsdestoweniger punkten auch viele Kurzdarstellungen mit einem informativen Problemaufriss – beispielsweise bei dem in unterschiedlichen Disziplinen sehr konträr akzentuierten „Rotkäppchen-Syndrom“ oder dem „Rapunzel-Syndrom“, das in einen medizinischen Notfall kulminieren kann, der auf einer mitunter langjährigen psychiatrischen Problematik, der Trichotillomanie, basiert. Andere Texte hingegen sind lückenhaft, der zu Blaubart, in dem Amélie Nothombs Barbe bleue zumindest hätte gestreift werden können. Wiederum andere resümieren langjährig und hinreichend Bekanntes – so etwa derjenige zu Madame Bovary.

Von den längeren und differenzierteren Studien sollen jene zu Cardillac, Don Quijote, Felix Krull, Hiob, Münchhausen und Undine sowie die mit ihnen konnektierten Syndrome paradigmatisch einer etwas genaueren Betrachtung unterzogen werden. Es scheint, dass diese Syndrome die Übersetzung von Literatur in Medizin und die nachfolgende Eigendynamik der Narrative besonders gut widerspiegeln.

Bevor sie sich mit dem „Cardillac-Syndrom“ im engeren Sinne befassen, skizzieren Armin Schäfer und Philipp Weber drei Regeln eines „protopsychiatrischen Diskurses im frühen 19. Jahrhundert und des psychiatrischen Diskurses“. Regel eins besage, dass der Psychiater immer das Subjekt des Diskurses sei, „der Patient“ hingegen das „Objekt“, obgleich auch dieses spreche und schreibe. Laut Regel zwei sei in den psychopathologischen Fällen jeweils von den individuellen Merkmalen zu abstrahieren. Im Falle des Goldschmieds Cardillac sei dies die „fixe Idee“, sich nicht von seinen Werken trennen zu können. Regel drei beinhalte die Forderung nach einer ätiologischen Diskussion, wobei anzumerken sei, dass die Verwissenschaftlichung der Psychiatrie zunächst über diese geschehe.

Das „Cardillac-Syndrom“ konstituiere insofern einen Sonderfall eines Eponyms, als es „ein originär literaturwissenschaftlicher Topos sei“, der in der Psychiatrie nicht als Begriff benannt werde, wohl aber viele Wissensdiskurse durchdringe. Am „Cardillac-Syndrom“ sei ein „symptomatologischer Akt“ zu exemplifizieren, der die Koexistenz mehrerer Aspekte umfasse und den man in Literatur und Psychiatrie beobachten könne. Bei Cardillac seien es „das Objekt der Juwelen, die Psychodynamik des Sehens und die Logik des Begehrens“, die interagierten.

Im Rahmen einer psychoanalytisch orientierten Literaturwissenschaft, gründend auf Jacques Lacan, könne das in Fräulein von Scuderi zu einem Syndrom verdichtete „Gefüge von Auge, Blick und Schmuck […] jenseits der Symptomatologie“ aufgeklärt werden. Mit ihrem narrativen Gefüge und dem „symbolischen Zwischen von Schmuck, Begehren und Besitz“ münde die Erzählung in eine „Verwerfung der Signifikanten“ und eröffne selbst eine analytische Perspektive.

Obschon man mit dem „Don-Quijote-Syndrom“ bzw. Quixotismus in erster Linie die Diagnose Wahnsinn durch literarische Identifikation (Michel Foucault) assoziiere, seien bei der Transposition in andere Diskurse zum einen die Humoralpathologie des 16. Jahrhunderts und zum anderen die Integration des Syndroms „in den klinischen Diskurs der Monomanie“ zu berücksichtigen. Jan-Henrik Witthaus geht vor dieser Prämisse der Frage nach, wann „die medizinische Diskursivierung“ begonnen habe.

Die Figur des Don Quijote jedenfalls sei in vielen medizinisch-psychologischen Traktaten des 19. und 20. Jahrhunderts präsent, so etwa werde ihm zunächst Monomanie, ein „Partialwahn“ attestiert. Das zur Figur gehörende Syndrom, der „Quijotismo“, trete sowohl im Abseits jeglicher Pathologisierung auf als auch als Berufskrankheit von Psychiatern. Das Erscheinen Don Quijotes im klinischen Diskurs des 19. Jahrhunderts lege nahe, dass kaum zwischen Literatur und außerliterarischer Realität unterschieden werde, sich also exakt das im Roman beschriebene Problem auf einer Metaebene ergebe.

In Thomas Manns Roman Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull wirke „die notorische Trias aus Genialität, Kriminalität und Krankheit“. Obwohl der Roman sehr schnell nach seiner vollständigen Publikation in den Blickpunkt psychiatrischer Diskurse rückte, war erst zu Beginn der 1990er Jahre die Rede vom „Felix-Krull-Syndrom“, dessen Implikationen Rupert Gaderer nachgeht.

Felix Krull präsentiere ein epistemisches Problem, denn die Grenze zwischen Lügen und Wahrsprechen sei fließend. Außerdem könne ein Arzt kaum exakt sagen, ob ein pathologischer Lügner vorsätzlich lüge und/oder seine Geschichten überhaupt als unwahr identifiziere. Felix Krull simuliere, denn er eigne sich Symptome des Wahnsinns an, er spiele diesen, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Seine Symptome bestünden im geradezu perfekten Nachahmen von Symptomen, was der „lesende Psychiater“ nicht imstande sei zu erkennen. Der Protagonist kompiliere anormales Verhalten, die Problematik der Diagnose und die Melange „zwischen Realem, Imaginärem und Fiktivem“.

Aus mehreren Gründen sei die Literarizität im „Felix-Krull-Syndrom“ von besonderem Interesse, denn seit den 1950er Jahren sehe man „textuelles Fabulieren“ im psychiatrischen Diskurs als „ein Darstellungsmedium des Wahnsinns“ an. Mittels „kunstvollem Hochstapeln des Geschriebenen“ werde über die Hochstapelei berichtet, damit nehme der homodiegetische Erzähler den Stil des autobiographischen Schreibens auf, um diesen gleichermaßen zu parodieren. Ein Psychiater laufe Gefahr, die fabulierende Erzählung nicht als solche zu erkennen. Darüber hinaus simuliere Krull die Krankheitssymptome nicht nur, sondern er lasse sie in einem dynamischen und kreativen Akt entstehen.

Der Prophet Hiob, mit dem die Frage nach der Rechtfertigung gottgesandten unverschuldeten Leidens gestellt werde, sei Namensgeber eines Syndroms, das mit der Skepsis und Rebellion, die man der biblischen Figur in der Romantik zuschreibe, vordergründig nichts mehr zu tun habe. Hiob leihe seinen assoziationsstarken Namen einer Hautkrankheit, die in der Bibel nur knapp erwähnt werde. Diese minimiere die komplexe Hiobsgeschichte auf eine körperliche Erkrankung, bei der jedoch die „lange literarische Karriere der Figur“ mitschwinge. In ihrem Beitrag analysiert Christine Weder die wechselseitigen Effekte zwischen medizinischer Reduktion auf das Physische im „Hiob-Syndrom“ und einem literarischen Diskurs, der die metaphysische Komponente der Figur akzentuiert.

Dem „Lügenbaron“, Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen, sind gleich zwei Syndrome gewidmet, von denen das erste, das „Münchhausen-Syndrom“ als solches, weniger für die Betroffenen selbst als für ihr Umfeld belastend sei, denn vor ihnen müsse das Gesundheitssystem geschützt werden. Es gehe hier um eine „Pseudologia fantastica“, so legt Michael Niehaus detailliert dar, um ein derart fantastisches homodiegetisches Fabulieren, oft einhergehend mit ausgeprägter Reiselust, dass eine Faktualität der Ereignisse a priori ausgeschlossen sei. Im Zuge der Narration hypostasiere sich das Subjekt zum großartigen Problemlöser, was das Syndrom in Richtung Megalomanie steigere.

Patient*innen mit dem „Münchhausen-Syndrom“ verfügten nicht nur über die Fähigkeit, gut und mit Poetizitätsanspruch lügen zu können, sondern sie seien, und darauf habe sich der Akzent des Syndroms verschoben, anankastische Lügner*innen. Da die Bezeichnung schnell als problematisch etikettiert worden sei, subsumiere man das „Münchhausen-Syndrom“ seit den 1990er Jahren unter dem Header der „Artifiziellen Störung“.

Für das zweite Krankheitsbild im Umkreis des Lügenbarons, das „Münchhausenstellvertretersyndrom“ bzw. „Münchhausen-by-poxy-Syndrom“, gebe es keine explizite Text- oder Filmgrundlage. Eine besondere Form der Kindeswohlgefährdung stehe im Zentrum, so Irina Gradinari. Diskutiert werde das sehr bekannte und schwer zu diagnostizierende Syndrom in mehr als 500 medizinischen Artikeln und Büchern. Es beruhe darauf, dass Bezugspersonen, oftmals Mütter, Krankheitssymptome ihrer Kinder erfinden. Kindern füge man Schmerzen zu oder täusche diese vor, damit Ärzt*innen konsultiert werden könnten. Bei Abwesenheit der Bezugspersonen bildeten sich die Symptome zurück.

Die Täter*innen seien in die drei Gruppen „Help seekers“, selbst Opfer von häuslicher Gewalt, „Doc addictsund „Active inducerseinzuteilen. Das „MbpS“ kontrastiere aufs schärfste mit dem Mutterbild der bürgerlichen Gesellschaft, wobei diese Skandalösität jedoch eine sprudelnde Quelle für künstlerische Imaginationen sei. Nachweisen lasse sich das „MbpS“ nur durch ein Geständnis der Täter*innen, das Leugnen der Tat gehöre aber zu den Symptomen. Nach dem Aufdecken dieses aporetischen Dilemmas betont Gradinari, dass das „MbpS“ die Diskurse pathologischer Weiblichkeit aus dem frühen 19. Jahrhundert kontinuiere.

Undine gehört zu den mythologischen Figuren, zu denen eine Myriade von literarischen Bearbeitungen existieren. Das „Undine-Syndrom“ umfasst das „kongenitale zentrale Hypoventilationssyndrom (CCHS)“, bei dem eine gestörte Atemregulation zu beobachten ist. In ihrem Beitrag dazu setzt Linda Waack bei Texten der Romantik an, in denen Undine, so wie später auch bei Ingeborg Bachmann, als „Allegorie des poetischen Prinzips“ gewürdigt werde.

Fallgeschichten im Umkreis des „Undine-Syndroms“, so fährt die Autorin fort, seien Mediengeschichten. Im medizinischen Diskurs werde „das Medium zum Supplement für die Atmung“; im filmwissenschaftlichen Diskurs verhalte es sich genau umgekehrt, denn die Atmung stelle ein Modell für das Medium dar. Der literarisch-medizinische Diskurs erzeuge Undine als technisch-mythologische Doppelfigur, nicht nur im Film Undine aus dem Jahr 2020, sondern auch in Wanda (2013), mit dem Waack diese Dopplung exemplifiziert und analysiert.

Für die Beiträge in ihrer Gesamtheit lässt sich bilanzieren, dass die interne Ordnung, der einige Autor*innen mit ihren Texten folgen, vielleicht zu Beginn nachdrücklicher hätte formuliert werden können. Eine rigidere Uniformität im Außen hätte möglicherweise inhaltliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten in noch prononcierterem Maße hervortreten lassen. Querverweise auf jeweils andere Syndrome kommen vor, werden allerdings sehr ökonomisch und tendenziell unsystematisch eingestreut. Eine thematische und nicht alphabetische Ordnung hätte eventuell eine kohärentere Form der Präsentation fördern können.

Als sehr divers lässt sich der Bezug auf medizinische Diskurse klassifizieren. Beim „Quijote“- oder dem „Münchhausenstellvertretersyndrom“ werden diese exzellent funktionalisiert, bei anderen, so etwa beim „Cardillac-Syndrom“, hätte die Referenz auf das medizinische Raster im Hintergrund vertieft werden können. Ein weiteres Desiderat besteht im Verweis auf ähnliche Syndrome mit nicht literarischem Hintergrund und das Modellieren der Differenzen, die sich dazu ergeben, z.B. beim „Felix-Krull-Syndrom“ und „Impostor-Syndrom“, bei denen die Hochstapelei auf ganz unterschiedliche Weise fokussiert wird. Gleichwohl ist all das aber nicht mehr als das sprichwörtliche „Jammern auf hohem Niveau“.

Sehr zugute zu halten ist der Publikation, dass sich die Herausgeber gegen die inzwischen auch im kultur- und medienwissenschaftlichen Bereich großflächig anzutreffende und nicht selten die Lesbarkeit mindernde amerikanische Zitation entschieden haben.

Syndrome. Fiktionen und Pathologien versammelt eine beachtliche Anzahl faszinierender Crossover-Beiträge, die den Kreislauf dynamischer und bereichernder Interdisziplinarität verdeutlichen. Zu hoffen ist, dass sie nicht nur in kulturwissenschaftlichen, sondern auch in medizinisch-psychiatrischen Diskursen rezipiert werden.

Kein Bild

Rupert Gaderer (Hg.) / Wim Peeters: Syndrome. Fiktionen und Pathologien.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2020.
288 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783865257963

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch