Vom Erzähler hinters Licht geführt

Harald Martenstein geht in seinem Roman „Wut“ der Frage nach, ob unser Leben von den sozialen Umständen vorherbestimmt ist

Von Julia SteinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Steinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Frank hat früh gelernt stark zu sein und sich seiner Mutter zu widersetzen, die ihn regelmäßig verprügelt – grundlos. Doch ist er auch stark genug, sich der eigenen Wut zu stellen, die ihn seit seiner frühesten Kindheit begleitet? Kann er den regelrechten Teufelskreis aus Gewalt und Wut durchbrechen? Oder ist sein Weg eigentlich längst vorherbestimmt durch das emotionale Erbe seiner Mutter? Das sind nur einige der Fragen, die Martensteins Roman Wut (2021) aufwirft. Schon jetzt sei gesagt: Nicht auf alle liefert er eine Antwort.

Bereits im Prolog wird deutlich, dass sich Parallelen zu Martensteins eigener Kindheit und Jugend ziehen lassen dürften; dennoch sei Wut

ein Roman, keine Biographie und keine Reportage. […] Für manche Personen gibt es Vorbilder, aber in diesem Roman leben sie alle ihr eigenes Leben, keine reale Person ist gemeint. […] Ich beschreibe nur Zustände. Wenn aber die vielen etwas wiedererkennen, die unter ähnlichen Bedingungen aufgewachsen sind, habe ich mein Ziel erreicht.

Harald Martenstein, 1953 in Mainz geboren, ist Redakteur des Tagesspiegel und schreibt die wöchentliche Kolumne Martenstein im Zeitmagazin. Er wurde unter anderem 2004 zum Journalisten des Jahres im Bereich Unterhaltung gekürt und 2013 mit dem Georg-K.-Glaser-Preis des rheinland-pfälzischen Kultusministeriums ausgezeichnet, der herausragende und überregional wahrgenommene literarische Leistungen würdigt.

Auch Frank, der Ich-Erzähler des Romans, ist schreibend tätig: als Autor für den aus der Zeit gefallenen Comedian Holger Schön. Doch nicht diese biografischen Tendenzen machen den Roman so besonders. Vielmehr überzeugt Wut durch die zahlreichen Zeitsprünge und damit verbundenen wechselnden Blickwinkel der Erzählerfigur, die sich innerhalb weniger Sätze vollziehen. Mal erzählt Frank aus seiner Sicht als Kind, dann wieder als Erwachsener und wenig später berichtet er von den erzählten Erinnerungen seiner Mutter Maria:

Ich bin nicht in den Kindergarten gegangen, das habe ich später erfahren. Maria sagte, dass ich Angst hatte, am ersten Tag im Kindergarten hätte ich geschrien und gewinselt, stundenlang, wie ein Tier, die ganze Zeit, und als Maria mich abholen kam, sei ich zu ihr gerannt und hätte ihre Beine umklammert. Die Kindergärtnerin sagte, das geht nicht, mit diesem Kind ist das nicht möglich. Er nässt auch ständig ein. Da hat sie mich mitgenommen und ist nie wieder hingegangen. Es ist vorbei. Später als Erwachsener, habe ich oft diesen Satz gedacht: Es ist vorbei. Sicher haben viele Ähnliches erlebt, jeden Tag begegne ich wahrscheinlich solchen Menschen.

An diesem Beispiel zeigt sich, dass der Satz „Es ist vorbei“ für Frank als Kind eine verpasste Chance bedeutet, während der erwachsene Frank ihn als eine Art Mantra nutzt, um sich selbst von der Befreiung aus der Spirale häuslicher Gewalt zu überzeugen.

Die schonungslosen Beschreibungen der Wutausbrüche der Mutter fesseln die Lesenden, die beinahe von der beklemmenden Atmosphäre erdrückt werden und sich so in einer Mischung aus Schockstarre und stillem Protest gegen die Ungerechtigkeit und Brutalität wiederfinden.

Sie holt den Besen, mit dem Besen schlägt und stochert sie unter dem Bett nach mir. Dabei schreit sie: ‚Komm raus, Drecksau, verkriech dich nicht, du Stück Scheiße.‘ […] Als ich hinausgekrochen bin, packt sie meine Haare und reißt den Kopf hin und her, ungefähr wie man eine Fahne schwenkt. Dann nimmt sie mir vorsichtig die Brille ab. Jetzt geht das Ohrfeigen los.

Die ablehnende Einstellung der Lesenden gegenüber der Mutterfigur entwickelt sich zu einer enormen emotionalen Zerrissenheit zwischen Abneigung und Mitleid, als Marias Kindheit aus ihrer personalen Erzählperspektive geschildert wird. Sie wächst zum Großteil im Bordell der Tante auf und kann ihren Träumen, als Ärztin oder Anwältin zu arbeiten, trotz ihrer hohen Intelligenz nicht nachgehen. Dabei steht nicht nur ihre Wut, sondern auch die patriarchale Nachkriegsgesellschaft im Weg: Bereits als Vierzehnjährige wird Maria „im Vollrausch“ für fünf Mark von einem Soldaten entjungfert. Später führt sie eine minder glückliche Ehe mit Richie, Franks Vater, und lässt zahlreiche Abtreibungen über sich ergehen, weil sie sich der Mutterrolle nicht gewachsen fühlt. Doch bei Frank entscheidet sie sich anders – nicht aus Liebe zu ihrem Kind, sondern vielmehr, um sich die Tortur der Abtreibung zu ersparen. Doch seit sie sich wenig später erneut für ihr Kind selbst aufgeben muss und von ihrer großen Liebe Said verlassen wird, macht sie ihrem Sohn diese Opfer zum Vorwurf und wird nicht müde zu betonen, wie gut er es im Vergleich zu ihr als Kind hat.

Ohne Frank wäre alles einfacher gewesen, das war nun mal eine Tatsache. Ohne ihn wäre sie mutiger gewesen. Zwei, drei Mal war sie bei Frank ausgerastet, ja das stimmte. Nachdem Said weggegangen war, hatten sie und Frank eine schlimme Phase. Aber sie wusste, dass sie nicht das Monster war, als das er sie sah. Verglichen mit dem, was sie erlebt hatte, ging es ihm immer gut.

Diese zwei ersten Kapitel sind sowohl inhaltlich als auch erzählerisch das Beste, was der Roman zu bieten hat. Sie erinnern an Aufstiegsromane wie Deniz Ohdes Streulicht (2020), in dem die Protagonistin versucht, sich von Alltagsrassismus und familiären Missständen zu befreien, oder Christian Barons Ein Mann seiner Klasse (2020). Letzterer ist autobiographisch und erzählt von einem Jungen, der sowohl die Probleme der Unterschicht als auch die seiner Familie hinter sich zu lassen versucht. Aber Wut geht über eine – wenig innovative, dennoch stilistisch sowie emotional beeindruckende –, literarische Offenlegung des gesellschaftlichen Missstandes im Kontext häuslicher Gewalt gegen Kinder hinaus. Damit bricht Martenstein mit dem Erzählmodell der Aufstiegsgeschichte eines/einer Jugendlichen, der/die gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeit und für ein besseres Leben kämpft. Denn es folgen vier weitere Kapitel, in denen nach und nach die Grenze zwischen erinnerter Realität und einer Vorstellung, wie das Leben der einzelnen Figuren hätte verlaufen können, verschwimmt. Die Charakterisierung der Figuren erfolgt vermehrt durch Klischees, sodass zunächst die mangelnde erzählerische Finesse und die zunehmend oberflächliche Figurenzeichnung enttäuscht. Corzaon Castenada, die eigentlich Cornelia Hackenbusch heißt, möchte beispielsweise mit einem Anschlag auf Holger Schön in die Geschichte eingehen und sich von den Zwängen der Gesellschaft befreien. Sie wird als gepiercte, tätowierte Frau mit langen, schwarzen Haaren und einer einzigen roten Strähne beschrieben. Damit bedient sie das Klischee der Gothic-Bewegung.

Dass nicht alles, was Frank in den letzten Kapiteln erzählt, einen Realitätsanspruch hat, wird erst sehr spät im Roman deutlich, sodass die Lesenden den Bruch, der den Roman in zwei Hälften teilt, eher als ein langsames Bröckeln wahrnehmen und ihm zunächst keine große Bedeutung zuschreiben. Dann jedoch beginnen sich die immer absurderen, nahezu kontextlosen Ereignisse förmlich zu überschlagen: Frank erfährt von seinem Sohn, ermordet dessen Mutter, wird in die Psychiatrie eingewiesen und flieht schließlich gemeinsam mit seiner ersten Freundin Monika. Spätestens als er dann seinen Sohn, der in der Zwischenzeit bei einer Pflegefamilie gewohnt hat, entführt und alle Figuren zu Besuch kommen – auch Richie, dessen Beerdigung zuvor ausgiebig beschreiben wurde – bricht die bröckelnde Fassade endgültig in sich zusammen. Es zeigt sich, dass Frank sein Leben von einem gewissen Punkt an anhand einzelner Prämissen weitergesponnen hat. Diesen Punkt in der Erzählung im Nachhinein zu identifizieren, das macht letztendlich die besondere Spannung des Romans aus und hinterlässt nachhaltig Eindruck. Denn dadurch, dass die Glaubwürdigkeit des Erzählers nach und nach in Zweifel gezogen wird, geraten die Lesenden automatisch in die Position, alles bisher Gelesene in Frage zu stellen. Dieses Spiel mit den Konventionen der Autofiktion sorgt dafür, dass sich die Lesenden regelrecht hinters Licht geführt fühlen. Das Ende rückt den so eindrucksvollen ersten Teil des Romans damit in ein noch helleres Licht. Denn dieser scheint der einzige Teil zu sein, der den Anspruch hat, eine Wirklichkeit abzubilden und so auf reale gesellschaftliche Missstände hinzuweisen.

Eins zieht sich dennoch wie ein roter Faden durch den gesamten Roman: die Frage nach der Selbstbestimmtheit des eigenen Lebens. Als Erzähler hat man jederzeit die Möglichkeit, seiner Geschichte eine andere Wendung zu geben – so wie Frank: Um seiner schrecklichen, wenig Hoffnung spendenden Realität zu entfliehen, begibt er sich im Verlauf des Romans in eine Gedankenwelt, in der alles möglich scheint: „Ich wollte ausprobieren, wie es wäre, ein anderer zu sein, einer von den vielen, die ich hätte sein können. Kein Besserer, nur ein anderer. Dazu habe ich Corazon erschaffen. Ich bestimme hier die Regeln. Wenn ich Lust habe, eine Tür zu verschließen, dann tue ich es.“ Doch wie sieht es in der Realität aus? Ist es möglich, das Leben selbst in die Hand zu nehmen oder geben die Lebensumstände einen einzigen Weg vor, den man lediglich abläuft? Auch wenn diese Frage nicht endgültig beantwortet wird, entlässt Martenstein die Lesenden im Epilog mit positiven Erinnerungen, vermutlich aus seiner eigenen Kindheit, die zeigen, dass die Auswahl der Erinnerungen entscheidend für die Bewertung des eigenen Lebens ist. Zumindest in dieser Hinsicht besteht also die Möglichkeit der Selbstbestimmtheit.

Obwohl die letzten vier Kapitel des Romans zunächst Enttäuschung hervorrufen, da sie gegenüber den eindrucksvollen und erzählerisch raffinierten ersten zwei Kapiteln zu wünschen übriglassen, verleiht das Ende diesem Bruch in der Stilistik einen Sinn. Der unerwartete und schleichende Übergang einer fast schon dokumentarisch anmutenden Familiengeschichte zu einer fiktiven Geschichte, in der sich die immer absurder werdenden Ereignisse zu überschlagen scheinen, zwingt die Lesenden in eine erneute Beschäftigung mit dem Erzählten und eröffnet so zahlreiche neue Perspektiven und Anknüpfungspunkte. Die Lektüre lohnt sich also doppelt und dreifach.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Harald Martenstein: Wut.
Ullstein Verlag, Berlin 2021.
272 Seiten, 22 EUR.
ISBN-13: 9783550201202

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