Gibt es ein richtiges Lesen im Falschen?

Klaus Beneschs Essay „Mythos Lesen“ regt zum Nachdenken an – und zum Widerspruch

Von Julian IngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Ingelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ohne geisteswissenschaftliche Beschäftigung mit sprachlichen Kunstwerken wären diese wohl kaum am Markt durchzusetzen, gäbe es weder kompetente Rezensentinnen und Leserinnen.“ So formuliert Klaus Benesch den „Mythos, der seit den Anfängen der Geisteswissenschaften im frühen 19. Jahrhundert sich dort um das Buch und seine sittlich-moralische Kraft gebildet hat.“ Nun möchte er, „am Beginn einer neuen Epoche – dem digitalen Informationszeitalter – eine kritische Bestandsaufnahme dieses Mythos und seiner Bedeutung für die Geisteswissenschaften […] unternehmen.“

Das Vorhaben, das Benesch in seinem Essay Mythos Lesen verfolgt, ist also klar. Ebenso klar sind jedoch die Grenzen, mit denen er seine Vorstellung vom Lesen gegenüber neueren, weniger traditionellen Formen dieser Kulturtechnik abgrenzt. Und damit leistet er sich einen Bärendienst.

Mythos Lesen erscheint als zweites Buch der Reihe Wie wir lesen: Zur Geschichte, Praxis und Zukunft einer Kulturtechnik. Sie ist auf zehn Bände angelegt und wird vom Autor in Zusammenarbeit mit Cathrin Klingsöhr-Leroy herausgegeben. Die Reihe beruht auf einer gleichnamigen Tagung, die Benesch 2018 mit Manlio Della Marca organisiert hat. Die Texte sollen sich, in der Vorstellung der Herausgeber*innen, „jeweils mit unterschiedlichen Aspekten des Themas in prägnant formulierten, auf ein breiteres Publikum zielenden ‚Positionsessays‘ auseinandersetzen“.

Was sich als spannendes und erfreulich weltoffenes Vorhaben ausgibt, entpuppt sich gerade zu Beginn der Argumentation als ermüdend pessimistisch. Denn Benesch diagnostiziert überall Krisen: Er spricht von einer Krise des Lesens, die eigentlich eine Krise des Buchs und gleichzeitig eine Krise der Germanistik sei. Letztere wird ausgeweitet in eine Krise der Geisteswissenschaften und schließlich eine Krise der humanistischen Bildung im Allgemeinen.

Die Schuldigen für diese katastrophalen Entwicklungen sind schnell identifiziert: „[N]icht wenige sehen eine der Hauptursachen [für den Prestigeverlust des Buches] in der schwindenden Lesekompetenz der digital natives.“ Laut Benesch leben wir in einer „zunehmend lesefeindlichen gesellschaftlichen Wirklichkeit“, in der „die digitalen Medien“ dominieren, „von denen man heute mutmaßt, sie seien die eigentlich Schuldigen am Verlust unserer Lesekompetenz.“

Seine These belegt Benesch – etwas dünn – mit der Feststellung, dass „[k]aum eine Mitteilung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels oder der Stiftung Lesen [erscheine], die nicht auf die zunehmend kleiner werdende Schar kompetenter Leserinnen hinweisen würde“. Es fehlt die Einordnung, dass diese durch Lobbygruppen veröffentlichten Studien durchaus von bestimmten Interessen geleitet sind und häufig eine klare Agenda verfolgen.

Weder seine Zitatgeber*innen noch Benesch selbst unternehmen die Anstrengung, nach neuen Formen der Lesekompetenz zu suchen. Denn natürlich entwickelt sich längst eine neuartige, digitale (Lese-)Kompetenz. Die muss man keineswegs für das non plus ultra der Welterschließung halten, um zu erkennen, dass sie existiert. Sich aber in der reinen Darstellung des Niedergangs zu erschöpfen, ohne danach zu suchen, was den alten Tugenden und Kompetenzen nachfolgt, ist mindestens fahrlässig. Denn mit der Diversifizierung gedruckter wie digitaler Textformate vom Tweet über den Blogeintrag bis hin zur kollaborativen Endlosgeschichte entstehen unter unseren Augen ganz neue Lese- und Schreibkompetenzen. Diese lassen sich nicht zwangsläufig mit alten Lupen finden oder mit alten Werkzeugen messen. Aber die Suche nach Neuem wäre zweifellos interessanter als die hundertste Betonung von Generations-, Medien- und Kompetenzbrüchen.

Der Autor – und die vielen, die er als Schwestern und Brüder im Geiste argumentativ ins Feld führt – müssen sich fragen lassen, ob nicht vielmehr ihr rückwärtsgewandtes Gatekeeping zur (vermeintlichen) Abkehr vom Lesen führt. So meint Benesch: „Bücher, oder präziser: wirklich gute Bücher, d. h. solche, die den Aufwand ihrer Lektüre tatsächlich lohnen, werden von wenigen für wenige geschrieben. Sie sind naturgemäß schwierig und erfordern erhebliche Ausdauer und Leseanstrengung.“

Wer das schreibt, muss sich nicht wundern, wenn er das Lesepublikum abschreckt. Solche Aussagen wecken kein Interesse, sondern bauen eine künstliche Distanz zu den vermeintlich lesenswerten Büchern auf.

Das gilt insbesondere dann, wenn die Verteidigung der Hochliteratur argumentativ mit einer Absage an „Online-Dienste und Streaming-Plattformen“ kurzgeschlossen wird. „[D]ie ohnehin hohe, anhaltende Dauerpräsenz im Netz, der schnelle, unkomplizierte Zugang zu Online-Medien oder ganz allgemein die hohe Attraktivität digitaler, interaktiver Kommunikationsstrukturen“ sorgten gleichzeitig für eine Abkehr vom Buch wie den Untergang des Abendlandes. Als hätten es nicht gerade die Streaming-Dienste geschafft, hochkomplexe, anspruchsvolle und ästhetisch gelungene Erzählwerke in das kulturelle Bewusstsein ganzer Generationen zu hieven; als sei es kein Verdienst, mit der modernen Serie die zeitgenössische Version des Romans auf die Bildschirme und in die Wohnzimmer gänzlich neuer Publikumsschichten gebracht zu haben.

Ebenso rückwärtsgewandt erscheint Benesch, wenn er die „Krise der Germanistik“ dadurch erklärt, dass „die Germanistik das Lesen von Texten um- und neukodiert hat. Statt Literatur wird jetzt alles mögliche gelesen, und die tendenzielle Offenheit der Textauswahl begünstigt wiederum den Modus der ‚leichten‘ Lektüre bzw. der Hinwendung zu visuellen Formen wie Literaturverfilmungen oder graphic novels.“ Es kommt Benesch offensichtlich nicht in den Sinn, nach den fraglos vielen Vorteilen dieser Entwicklung zu fragen. Vielmehr unterstellt er, dass die Öffnung für neue Werke und Formen abseits der fünf bekannten Klassiker mit einer vollständigen Abwendung vom Kanon einhergeht. Schon ein kurzer Blick in die Kerncurricula und Vorlesungsverzeichnisse entlarvt diese Ansicht als falsch.

Immerhin: Benesch zeichnet nicht alle Untergangsszenarien nach, die seine Kolleg*innen immer wieder beschwören. So betont er beispielsweise die positiven Effekte der coronabedingten Digitalisierung der Hochschullehre und den pädagogischen Wert des Einsatzes ‚neuer‘ Medien in der Didaktik. Insbesondere gegen Ende seiner Argumentation ist er merklich um Kompromisse bemüht, was dann auch prompt zu interessanteren Erkenntnissen führt.

Man fragt sich, warum Benesch sich nicht stärker auf das Entzaubern verschiedener Lesemythen konzentriert, gehören diese Passagen doch zu den spannendsten in seinem Essay. So ist es hochinteressant, wenn er die vermeintlich moralisierende Wirkung der Lektüre kritisch hinterfragt. Oder wenn er zeigt, „dass die Literatur niemals ein ‚unschuldiges‘ Medium war, jenseits von Ideologieverdacht und wirtschaftlichem Interesse; dass sie immer schon auf ein ganz bestimmtes, nämlich bürgerliches und gut ausgebildetes Publikum gezielt hat und daher kaum Wirkung auf breite Schichten der Bevölkerung entfalten konnte“.

Ob Mythos Lesen selbst auf breite Schichten der Bevölkerung wirken können wird, ist fraglich. Fraglich ist aber auch, ob man es diesem Buch überhaupt wünschen soll. Dabei ist der Essay für einen deutschsprachigen, akademischen Text erfreulich bissig geschrieben. Benesch formuliert ebenso ansprechend wie anspruchsvoll und argumentiert stringent. Er liefert in der Regel die notwendigen Erläuterungen zu seinen Referenzen, ohne unnötig zu simplifizieren oder sich in kryptischen Anspielungen zu verlieren. Insofern wäre dem Bändchen fast der intendierte Erfolg bei der breiteren Leseöffentlichkeit zu wünschen – wenn er denn inhaltlich etwas aufgeschlossener wäre.

Titelbild

Klaus Benesch: Mythos Lesen. Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter.
Transcript Verlag, Bielefeld 2021.
96 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783837656558

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