Vom ‚Dekameron‘ zur ‚Italian Theory‘

Der Essayband „Pandemie und Literatur“ von Angela Oster und Jan-Henrik Witthaus demonstriert die Pandemie-Kompetenz der romanischen Literaturen

Von Chiara SartorRSS-Newsfeed neuer Artikel von Chiara Sartor

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was haben Giovanni Boccacio, Alessandro Manzoni, Albert Camus, Yuri Herrera und Giorgio Agamben gemein? Vor allem wohl, dass ihre Schriften aktuell aus den Untiefen verstaubter Regalwände von Literatur- und Kulturwissenschaftler_innen hervorzogen werden, um als Vergleichsfolien oder Zeitdiagnosen für unsere pandemische Gegenwart herzuhalten. Mit ihrem schlanken Essayband Pandemie und Literatur knüpfen die Romanist_innen Angela Oster und Jan-Henrik Witthaus an diese bereits etablierte Tradition der Re-Lektüre einschlägiger Seuchentexte der Weltliteratur an. Passend zum Titel lädt die dezente Einbandillustration von Martin Goppelsröder – ein skizzenhaft umrissener Totenschädel, dem eine Art Lichtkegel aus den Augenhöhlen scheint – zum Sinnieren über das Verhältnis von Tod und Lektüre ein.

Etwas zu leicht machen es sich die Herausgeber_innen jedoch, wenn sie einleitend die Systemrelevanz der Kulturschaffenden bemühen und gemäß überkommener Grenzziehungen zwischen high und low culture das Verschlingen „bloßer Lockdown-Lektüren“ von „wirklich relevanten Beschäftigungen mit Literatur und Kunst“ unterscheiden. Auch die Argumente, die Oster und Witthaus zur Begründung ihres Unterfangens vorbringen, klingen bereits allzu vertraut. So sei die „Teletechnik“ Literatur nicht nur unersetzlich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Lockdown-Zeiten und noch dazu intellektuell stimulierend, als „Zeitraffer […] für kontingente oder komplexe Geschehen“ weise sie auch selbst eine lange Tradition der Thematisierung von Pandemischem auf. Romanische Texte seien dabei „über die Jahrhunderte hinweg federführend“ gewesen. Die Auseinandersetzung mit einschlägigen italienischen, französischen und spanischsprachigen Texten lege überraschende epochenübergreifende Kontinuitätslinien im gesellschaftlichen Umgang mit Pandemien frei, wobei manche Texte weit über aktuelle Krisendiskurse hinausgingen. 

Diese etwas oberflächliche Einleitung wird dem Facettenreichtum der sieben chronologisch angeordneten Essays nur schwerlich gerecht. So verdeutlicht die soziologisch informierte Dekameron-Lektüre des Literaturwissenschaftlers Sebastian Neumeister gerade die notwendige Begrenztheit von Ausbrüchen aus der seuchengebeutelten Wirklichkeit auf Inseln zweckfreien Erzählens und widerlegt damit Deutungen, die Boccacios Novellensammlung als Verwirklichung einer Gesellschaftsutopie lesen. Mit seinem Verweis auf den Geselligkeitsbegriff des Soziologen Georg Simmel in Zeiten räumlicher Distanzierung benennt Neumeister zudem ein weiteres Aktualitätsmoment des frühneuzeitlichen Pest-Klassikers über dessen reine Seuchenthematik hinaus.

Angela Oster kontrastiert diese vorübergehende Flucht in Fiktion und zweckfreie Geselligkeit im Dekameron mit dem Realismus des zweiten großen Seuchentexts der italienischen Literatur: Die Verlobten von Alessandro Manzoni. Statt der etwas müßigen Aufzählungen der Themen und Motive, in denen sich heutige Leser_innen wiederfinden könnten, sind es die poetologischen Überlegungen der Autorin zum Verhältnis zwischen Seuchenthematik und realistischen Erzählverfahren, die überzeugen. Trotz der virtuosen Erbsünden- und Vergeltungsmotivik – so antwortet Oster auf eine vieldiskutierte Frage aus der Forschung – verwende Manzoni die Pest keineswegs im Sinne der US-amerikanischen Kulturtheoretikerin Susan Sontag als Metapher, sondern stelle vielmehr ganz pragmatisch Fragen des richtigen Handelns in unsicheren Krisenzeiten. Prinzipiell überzeugend sind auch Osters Ausführungen zur sprachlichen Ansteckung, wobei bis auf das Beispiel der Giftsalber (untori) unklar bleibt, wie die Verselbstständigung von Gerüchten und Verschwörungstheorien in den Verlobten genau ausagiert wird.

Wie passgenau die Beiträge aufeinander antworten, zeigt auch der Essay der Germanistin Nikola Rossbach, der das Spannungsverhältnis zwischen Realismus und Metaphernbildung wieder aufgreift. An den Pariser Feuilletons des „Cholera-Flaneur[s]“ Heinrich Heine verdeutlicht die Autorin, wie vorzüglich sich Seuchen bei aller Faktizität eben doch als (politische) Metaphern – hier: der postrevolutionären französischen Gesellschaft – eignen. Auch bei Albert Camus – so die Romanistin Franziska Sick – steht die Pest stellvertretend für etwas anderes, nämlich allegorisch für das allgemeinmenschliche Problem der Sterblichkeit vor dem historischen Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Präzise und scharf in ihrer Kritik seziert die Autorin zunächst das europäische Krisennarrativ, das die COVID-19-Pandemie als Chance verkauft, um anschließend in mal virtuosen, mal allzu akrobatischen Zickzackbewegungen durch die Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts das spezifische Todesnarrativ des existentialistischen Romans Die Pest zu konturieren. Trotz der gemeinsamen Seuchenthematik, so führt Sick aus, könnten die beiden grands récits gegensätzlicher nicht sein, denn während die europäische Corona-Krise eine politische und inhärent fortschrittsgläubige sei, werde Camus‘ Pestepidemie zum exemplarischen Auslöser einer metaphysischen Revolte mit dem Ziel der „kaleidoskopartige[n] Verunendlichung jedes gelebten Augenblicks“. In ihren Bemühungen um eine Engführung von Philosophie des Absurden und europäischem Krisendiskurs im Zeichen der Revolte verliert Sick am Ende jedoch das eigentliche Thema – Pandemie und Literatur – aus den Augen.

An dieser Stelle knüpft Jan-Henrik Witthaus mit seinen Beobachtungen zu Seuchen im lateinamerikanischen Gegenwartsroman wieder an. Nicht ohne zunächst den Bogen zum massiven Import von Krankheiten im Zuge der Kolonialisierung zu schlagen und auf berühmte lateinamerikanische Seuchenromane des 20. Jahrhunderts (allen voran natürlich: Liebe in Zeiten der Cholera von Gabriel García Márquez) zu verweisen, zeigt Witthaus, wie die Fiktion der Epidemie in den drei untersuchten Romanen – Schönheitssalon (1994) des mexikanischen Autors Mario Bellatín, Körperwanderung (2013) des ebenfalls mexikanischen Schriftstellers Yuri Herrera und Tage der Pest (2017) des bolivianischen Autors Edmundo Paz Soldán – gesellschaftliche Verhältnisse und Vorgänge sichtbar macht, die sonst unsichtbar bleiben würden. Ein zum Hospiz umfunktionierter Schönheitssalon biete Einblicke in Prozesse des Regierens von Leben und Tod, die Vermittlerfigur des alfaqueque offenbare eine schon vor Ausbruch der Seuche tief verwurzelte parasitäre Grundstruktur der mexikanischen Gesellschaft und ausgerechnet in der Abgeschlossenheit eines Gefängnisses öffne sich ein Interaktionsraum zwischen Menschen, Tieren und Viren. 

Mit dem Regieren und Verwalten von Leben und Tod beschäftigen sich auch die Kulturwissenschaftler_innen Antonio Lucci und Esther Schomacher – Mitherausgeber_innen der Anthologie Italian Theory (2020) – in ihrem Beitrag zu den Pandemie-Kommentaren der italienischen politischen Denker Giorgio Agamben, Roberto Esposito und Antonio Negri. Dass ausgerechnet diese drei prominenten Denker sich im Frühjahr 2020 öffentlich zum Pandemiegeschehen geäußert haben, hänge nämlich damit zusammen, dass alle drei sich auf je unterschiedliche Weise mit dem Biopolitikbegriff des französischen Philosophen Michel Foucault auseinandersetzten. Während das Virus Agamben zufolge lediglich ein Vorwand zur Ausweitung des Ausnahmezustands sei und die Maßnahmen zu seiner Eindämmung nur dem Schutz ‚nackten‘, nicht aber politischen Lebens (bios) dienten, betone Negri im Rahmen seines affirmativen Verständnisses von Biopolitik die geteilte Erfahrung und das emanzipatorische Potential der Pandemie. Esposito wiederum hebe die pandemische Dynamik von gemeinsamer (Opfer-)Gabe (com-mun-itas) – zum Beispiel in Form eines Lockdowns – und Schutz des Einzelnen (im-mun-itas) hervor, erkenne in der Pandemie aber vor allem die Fortführung einer allgemeinen Tendenz zur Verschränkung von Politik und Medizin. Überaus präzise arbeiten die beiden Kulturwissenschaftler_innen die unterschiedlichen Machtbegriffe der italienischen Gegenwartsdiagnostiker heraus und unterstreichen bei aller Kritik an Agamben die Dringlichkeit der Frage nach dem ‚nackten Leben‘ in pandemischen Zeiten.

Auch der Romanist Jochen Mecke widmet sich hochaktuellen Texten, die im Laufe der COVID-19-Pandemie veröffentlicht wurden, allerdings mit dem Ziel, die Struktur von Pandemieerfahrung allgemein und die Möglichkeit ihrer adäquaten Versprachlichung zu erörtern. Pandemien – so die These – sind „anti-archäologisch[]“, „anti-teleologisch[]“ und „anti-intentional[]“, denn es mangele ihnen an eindeutigen Anfangs- und Endpunkten, einer erkennbaren Absicht und vor allem an Sinnhaftigkeit, weshalb ihre Narrativisierung – ob in Romanform oder als „Verschwörungserzählung[]“ – nur um den Preis gravierender Realitätsverzerrung geschehen könne. Befremdlich ist an diesen Überlegungen der emphatische Realitätsbegriff und die entsprechend normative und abwertende Verwendung des Begriffs der Erzählung. Mecke übersieht dabei, dass nicht nur Verschwörungstheorien, sondern durchaus auch ‚seriöse‘ Theorien nicht auf reinen Fakten, sondern auf Narrativen beruhen – vielfältige Beispiele dafür liefern die Beiträge von Franziska Sick, Antonio Lucci und Esther Schomacher. Alternativ zu den trügerischen „Erzählungen des Imaginären“ bricht Mecke eine Lanze für die weniger prestigeträchtigen Gattungen der Chronik, des (öffentlichen) Tagebuchs und des Essays, für die er zahlreiche französisch- und spanischsprachige Beispiele anführt. Als „Literaturen des Realen“ zeichnen sie sich Mecke zufolge durch das Fehlen einer übergreifenden teleologischen Struktur aus, wobei Chroniken besonders durch ihren Verzicht auf Kausalzusammenhänge und ihren nüchternen Stil, Tagebücher durch subjektive Perspektivierung und Essays durch ihre experimentelle Vorgehensweise und radikale Ergebnisoffenheit bestechen.

Nach der Lektüre des Sammelbands kann man sich diesem Lob des Essays als pandemische Denkmaschine nur anschließen. Legt man einen weiten Literaturbegriff an, um auch die Polemik um Giorgio Agamben in das Feld des Literarischen aufzunehmen, dann werden die sieben Essays ihrem erklärten Anspruch, „gegenwärtige Perspektiven auf literarische Pandemien“ zu eröffnen, durchaus gerecht – auch wenn einige Fäden ins Leere laufen und so mancher These etwas mehr Belege am Text nicht geschadet hätten. Vergleichsweise niedrigschwellig und aktualitätsnah fächert der Band ein breites Spektrum an Berührungspunkten zwischen Seuchen und Literatur auf und ist damit nicht nur für Romanist_innen lesenswert. Genau genommen wäre der unschöne Titel „Seuche und Literatur“ allerdings treffender gewesen, denn häufig geht es in den untersuchten Texten um regionale Epi- statt um weltumspannende Pandemien.

Als Substrat der sieben Beiträge lässt sich festhalten, dass Seuchen erstens immer schon literarisch waren, insofern menschliche Erfahrung grundsätzlich narrativ strukturiert ist und sich hochansteckende Infektionskrankheiten überdies in besonderem Maße als Metaphern oder Allegorien für gesellschaftliche Missstände eignen, dass sie zweitens zum Nachdenken über die Kategorien Fakt und Fiktion, Realität und Imagination anregen und dass sie drittens die Vergänglichkeit menschlichen Lebens, Fragen der Legitimation politischer Macht und Prozesse des Regierens und Verwaltens von Leben und Tod – inklusive der Frage, was für ein Leben es überhaupt ist, das durch Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung geschützt werden soll – in den Vordergrund treten lassen. Nur die Krankheitsverläufe selbst und die konkreten Erfahrungen von Betroffenen, Ärzt_innen und Pflegepersonal bleiben in den Beiträgen seltsam unerwähnt. Ähnlich wie im aktuellen medialen Pandemiediskurs bildet wohl auch in romanischen Seuchentexten das Erleben ausgerechnet derjenigen, die mit den Auswirkungen unmittelbar konfrontiert sind, eine Leerstelle. Warum dem so ist und ob es nicht doch Gegenbeispiele gibt, darüber hätte man sich noch einen achten Essay gewünscht. 

Titelbild

Angela Oster / Jan-Henrik Witthaus: Pandemie und Literatur.
Mandelbaum Verlag, Wien / Berlin 2021.
160 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783854769866

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