Ambitionierte Suche nach Identität

Die Filmemacherin und Autorin Chris Kraus definiert in „Aliens & Anorexie“ die Suche nach menschlicher, weiblicher und künstlerischer Identität neu und überschreitet dabei die Genregrenzen

Von Karsten HerrmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karsten Herrmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bekannt wurde Chris Kraus hierzulande durch die Neuauflage ihres zuerst 1997 erschienenen, skandalumwitterten Debuts I Love Dick, in dem sie eine etwas andere menage á trois erzählt. Jetzt ist auch ihr zweites Prosawerk nach mehr als 20 Jahren bei Matthes & Seitz erschienen und auch hier werden die Genregrenzen von Fiktion, Tagebuch und Essay wieder ambitioniert überschritten.

Die deutlich autobiographisch grundierte Erzählung dreht sich rund um die Entstehung und schwierige Vermarktung des Films Gravity & Grace von Chris Kraus. Ende der 1990er Jahre fliegt die (wie im realen Leben) mit dem Literaturwissenschaftler Sylvére Lotringer liierte Ich-Erzählerin von Los Angeles nach Berlin, um einen Verleih für diesen Film zu finden oder ihn zumindest auf einem Film-Festival zu platzieren. Gravity & Grace, der nach einem Buch von Simone Weil benannt ist, ist ein billig produzierter 16mm-Avantgarde-Film über Hoffnung, Verzweiflung und Religion.

Gedreht wurde er hauptsächlich in Neuseeland, wo Chris Kraus auch die „unbekümmert stylische Anarchistin“ Delphine Browne kennenlernt, ihr verfällt und sich von ihr ausnutzen lässt: „Ihre Geschichte war wie Balzac, sie war wie Fellinis ‚Roma‘“. Mit dem Kontext des Film-Projekts führt die Ich-Erzählerin den Leser auch tief in die New Yorker Off-Kunst- und -Theaterszene dieser Zeit – mit Pop Art, Minimalismus, abstrakten Expressionismus und politischer Performance. Als eine Art Performance stellt sie auch ihre eigenen sado-masochistischen Abenteuer mit einem Produzenten dar, den sie in einer Telefon-Hotline kennen lernt und von dem sie nur verlangt, dass er nicht einfach so wieder verschwindet.

Zentrale philosophisch-intellektuelle Referenzpunkte dieses Prosawerks bilden neben dem (Post-)Strukturalismus Simone Weil und Ulrike Meinhof. Beide Frauen hungerten sich quasi zu Tode und während Meinhof „die Politik in tragische Poesie verwandelte“, zeichnete sich die „performative Philosophin“ Simone Weil durch einen „panischen Altruismus“ und die Suche nach einer anderen Existenzform aus: „Sie will sich verlieren, um größer als sie selbst zu sein“.

Und wie Simone Weil kann auch die an Morbus Crohn leidende und sich selbst als nicht hübsch definierende Ich-Erzählerin Chris Kraus „ohne Liebe“ nicht essen und sieht die Anorexie als „ein gewaltsames Brechen der Begehrenskette“. Mit dem Essen stellt sie letztlich alles auf dieser Welt in Frage – auch die Möglichkeit eines „Zuhauses“ im Hier und Jetzt.

Kunstvoll überlagern sich in Aliens & Anorexie die Autorin und die Ich-Erzählerin des Buches und nehmen den Leser mit auf eine ebenso radikale wie verzweifelte Suche nach Identität, Liebe und einem „Zuhause“. Ungeschminkt offenbaren sie dabei ihre eigenen Abgründe und die ewige Dialektik von Körper und Geist, von animalischem Sex und intellektuellen Höhenflügen. Chris Kraus als doppelte Kunst- und Realfigur setzt sich dabei von den beherrschenden Kunst- und Feminismus-Diskursen ihrer Zeit ab und sucht einen ganz eigenen Weg ohne Klischee und Kontrolle – und mit einem aberwitzigen Fluchtpunkt, der neben der Anorexie titelgebend ist: „Als sich der Strick um meinen Hals zusammenzog, machte ein Außerirdischer Liebe mit mir“.

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Chris Kraus: Aliens & Anorexie.
Aus dem Englischen von Kevin Vennemann.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
300 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783751800051

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