Arbeit am Mythos
Der 39. Asterixband „Asterix und der Greif“ schickt seine Helden nach Osten
Von Michael Braun
Das Moderne am Mythos ist, schreibt Hans Blumenberg, dass seine Rezeptionsgeschichte selbst zum Mythos geworden ist. Nicht die Geschichten vom Anfang also, sondern deren Deutungen über die Jahrhunderte hinweg stiften jene ikonische Konstanz, die den Mythos auch entgötterten Zeiten vor dem Aussterben rettet. So braucht Faust nicht mehr vom Teufel geholt zu werden, er holt ihn selbst.
Die Asterix-Reihe, die René Goscinny (1926–1977) als Autor und Albert Uderzo (1927–2020) als Zeichner 1959 begründeten, ist längst ein Comic-Mythos. Im Postskriptum des 36. Bands der Reihe, Der Papyrus des Cäsar (2015), haben Jean-Yves Ferri und Didier Conrad ihren Vorgängern ein Denkmal gesetzt. Im vorletzten Panel sieht man Texter und Zeichner vor einem Café sitzen. Beim Espresso lauschen sie einem Druiden, der ihnen den „Stoff zu amüsanten Geschichten“ liefert.
Angst vorm Mythos und das flache Weltbild
Diese Metareflexion des Mythos greift der neue Band Asterix und der Greif bereits am Anfang auf. Wir sehen die wohlvertraute Landkarte von Gallien im ersten Panel, aber aus euroasiatischer Perspektive. Der römische Adler schaut etwas konsterniert nach Osten, wo inmitten des Schriftzugs „Barbaricum“ eine Streitaxt im Gebiet der heutigen Ukraine klafft. Denn dort hat der Leitspruch Roms „SPQR“ (Senatus Populusque Romanus), der in der italienischen Ausgabe mit dem laxen Ausspruch „Sono Pazzi, Questi Romani“ („Die spinnen, die Römer“) übersetzt wird, offenbar seine Geltung verloren. Die römischen Vorposten können sich nicht einmal die Namen der fremden Völker merken. Wie beängstigender müssen da die Kreaturen sein, die die mythologische Fantasie der Antike bevölkerten: Hydra, Chimäre, Harpyie, Sphinx. Und der Greif.
Seinen Ort hat der Greif – seit Aischylos – im fernen Osten. Er ist mit dem Kopf eines Adlers und dem Leib eines Löwen ausgestattet; seine Aufgabe ist es, Goldschätze zu hüten. Cäsar betrachtet eine Abbildung des Fabelwesens auf einer Vase und will es natürlich haben. Deshalb schickt er seinen Haus- und Hofgeografen auf Beute-Mission. Der heißt Globulus und hat, wie kundige Rezensenten feststellten, eine auffällige Ähnlichkeit mit Michel Houellebecq, nicht nur äußerlich. Wie Houellebecq, den die einen für eine Sphinx der französischen Kultur und die anderen für einen frivolen Provokateur halten, spielt auch Globulus ziemlich raffiniert mit den Selbstmythisierungen seiner Zeit. Wissen und Glauben sind für ihn zwei Seiten ein- und derselben Sache, nämlich seiner. Er muss Cäsar einen Fake Check zum Greifen liefern, was nicht ganz unwichtig ist, denn schließlich hat er die letzten Expeditionen zum Zyklopen und zu den Einhörnern verbockt. Die Warnungen der sarmatischen Amazone, die von den Römern als Geisel und Informationsquelle benutzt wird, um den Greifen zu finden, übersetzt er in eine alternative Wahrheit, eben die seine. Damit hat er aber keine Chance. Gegen das mythologische Weltbild des rustikalen Zenturios Brudericus und des instinktgesteuerten Tierkampf-Stars Ausdimaus kommt seine Aufklärung des Mythos nicht an. Ausdimaus will unbedingt an den Rand der Welt und der Zenturio, an den sich der darob verzweifelnde Globulus wendet, entgegnet bloß: „Pah! Rund oder flach, Hauptsache, der Riese Atlas lässt sie nicht von seinem Rücken kullern“.
Gescheiterte Aufklärung und Heldenreise mit Amazonen
Solche Punchlines einer scheiternden Aufklärung sind Highlights dieses Abenteuers, in dem die Römer wie so oft die eigentlichen Gegenspieler der wackeren Gallier sind. Die hat eine Traumbotschaft eines skythischen Druiden, der dort Schamane heißt, nach Osten gerufen. Asterix, Obelix, Miraculix und natürlich Idefix, der ein Gastspiel bei einem Wolfsrudel bekommt, sollen die Skythen vor den beutegierigen Römern schützen. Natürlich gelingt das, sonst wäre es kein Asterix-Abenteuer, aber das Unabsehbare an den Ereignissen sind diesmal keine landgängigen Piraten (die nur ein einziges Panel bekommen, das aber mit einem erneuten Cameo von Charles Aznavour) oder korrupten Römer (die ihre Scharmützel unter sich ausmachen), sondern umgekehrte Vokale (das „Ǝ“ ist eine kleine Hör- und Lesezumutung) und Geschlechterordnungen. Bei den Skythen kämpfen die Frauen als Amazonen, während die Männer in ihren Jurten halbvergorene Stutenmilch brauen.
Der Greif kommt erst auf Seite 40 ins Bild. Im größten Panel des Comics sehen wir ihn als Urzeitfossil unterm Eis, eher ein Dinosaurier als ein Mischwesen aus Löwe und Adler. Das Bild auf Cäsars Vase zerbricht, der Mythos hat seine Deutungen persifliert, und der römische Suchtrupp darf am Ende als verschollen gelten. Und unsere Helden kehren, wie es sich gehört, mit Wolfshunger zum heimatlichen Festmahl zurück. So hat ganz Gallien erfolgreich am Mythos gearbeitet. Ganz Gallien? Nein, nur ein unbeugsamer Cäsar muss akzeptieren, dass es den Greif eben nicht zu haben gibt, aber er weiß sein Volk immerhin mit einer Giraffe bei Laune zu halten. Vielleicht ahnt er ja von dem Verdacht, den Blumenberg der Arbeit am Mythos unterstellen wird: „dass ihr Erfolg zugleich den Verlust einer Gewissheit impliziert“.
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