Von Nezmi zu Herodot oder Der See ruft

In „Am See“ nimmt Kapka Kassabova ins aufregend-unbekannte Europa mit

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kapka Kassabova, in Sofia geboren, in Neuseeland aufgewachsen und mittlerweile in Schottland lebend, liebt es, sich literarisch auf die Spuren ihrer Ahnen zu begeben. Hatte sie ihr erstes ins Deutsche übersetzte Werk Die letzte Grenze (2018) dem historischen Thrakien, dort, wo Bulgarien, Griechenland und die Türkei aufeinandertreffen, gewidmet, so erkundet sie in Am See. Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden eine weiter westlich gelegene, vielleicht noch unbekanntere Gegend, den Ohrid- und den Prespa-See im Dreieck von Albanien, Nordmazedonien und Griechenland, wo einst ihre geliebte Großmutter Anastassia lebte.

Die Journalistin und Schriftstellerin hat erneut ein umfangreiches Werk der Reiseliteratur geschaffen. Auf mehreren Streifzügen, die nach Jahreszeiten geordnet sind, trifft sie an markanten Orten um und zwischen den beiden Seen auf Einheimische, mit denen sie gemeinsam auf den verborgenen, vergessenen Pfaden der Geschichte wandelt. Dabei lässt sie die gut recherchierten, umfassenden Reisebeschreibungen sowohl von „orientalischen Dekadenten“ als auch französischen und die Region im Entbehrungswahn erkundenden britischen Pionieren und Pionierinnen vergangener Jahrhunderte mit einfließen. Sie hielten das Erlebte in Wort und Bild fest. Kassabova hinterfragt aus ihrer Außenperspektive die Geschehnisse und Zusammenhänge von damals und heute und nutzt dabei ihre Sprach- und Kulturkenntnisse.

Obwohl sie die Seen und Orte mehr aus Erzählungen von Familienangehörigen kennt, dort also selbst nie gelebt hat, wird sie von den Einheimischen nicht als Fremde wahr- und aufgenommen. Im Gegenteil: „Wem gehörst du an?“, wird sie stets gefragt und lässt sich in das regionale Familiengefüge einordnen. Akribisch wie in einem Baedeker werden alle Sehenswürdigkeiten und Reiserouten der Region, einem historisch-geografischen Kanon gleich, besucht und liebevoll persönlich, aber auch sachlich-fundiert charakterisiert. Und wie bei einem solchen Reiseführer schlägt man beim Lesen ständig die mit historischen Eckpunkten versehenen Karten zu Beginn und Ende des Buches auf, um sich zu orientieren.

Das turbulente Leben in der Gegend beginnt vor Christi Geburt, in der Antike, als die Römer die Via Egnatia durch Illyrien, Makedonien und Thrakien, als Verlängerung der Via Appia von Rom bis nach Konstantinopel bauen ließen. In byzantinischer Zeit nutzten Kreuzritter und osmanische Eroberer den befestigten Weg, später verdingten sich Räuber und Händler auf der Route, die sich als roter Faden durch den Text zieht.

Die Region, einst vom Historiker Alain Ducellier als „Nervenzentrum des Balkans“ bezeichnet, fiel schon immer als explosive Mischung auf. Ein babylonisches Sprachgewirr mit Mischkultur, Mischreligion, Mischarmee und gemischtem Salat – Kassabova lässt keine Gelegenheit aus, dies mit langen Aufzählungen zu belegen. Die jeweiligen Herrscher – Osmanen, Serben, Griechen, Türken, Bulgaren oder Albaner – wechselten sich ab. Es wurde „gesäubert, umbenannt, bekehrt, zurückbekehrt, geheiratet und geschieden.“ Die starke Verbundenheit entstand durch die Familie, vor der man nicht davonlaufen kann. Die Zugehörigkeit der Menschen bestimmt(e) der Glaube, nicht die Sprache.

Und die verhasste Politik? Sie hat sich „vom Feudalismus zum Kapitalismus, Zwischenstation Sozialismus“ entwickelt. In der jüngeren Vergangenheit sorgte sie für den postkommunistischen Schock, Auswanderung, Autokratie und den Namensstreit über Makedonien, Mazedonien und nun Nordmazedonien. Die Teilrepublik Mazedonien löste sich ohne einen Schuss aus dem Staat Jugoslawien heraus: Man hatte, so die Einschätzung der Autorin, in dieser sonst so selbstzerstörerischen Region, die selten Feinde von außen brauchte, einfach keine Lust mehr auf Krieg.

Auch der Norden Griechenlands, das Gebiet Prespa, hat seine blutige Vergangenheit. Hier wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs im griechischen Bürgerkrieg mazedonische Dörfer dem Erdboden gleich gemacht, Gräueltaten verübt und Kinder zwangsumgesiedelt. Von den 25 000 Menschen in der Region sind heute nur noch 300 geblieben. Hier, wie überall in Südwesteuropa, meint die Autorin, fand und findet aus ethno-nationalistischen Beweggründen eine gewaltsame Aufspaltung bestehender Staatsgebilde in feindliche Entitäten statt, die „ein Minenfeld unentschiedener Identitätsfragen“ darstellen:

Der Kampf, deinen eigenen Namen zu besitzen, deine Muttersprache und die Buchstaben deines Alphabets, deine Vergangenheit, deine Gegenwart, deine Kinder, die Gräber deiner Toten, überhaupt zu existieren – dieser Kampf, […] ist beinahe die Definition systemischer Krankheit.

Neben solch existentiellen Feststellungen über die Gründe und Auswirkungen ewiger Fehden bringt Kassabova Geschichte und Geschichten näher, beschreibt die Mythen der Region, die Genusssucht, die Sehnsucht nach dem Süden, die enge Verbundenheit, die levantinisch-balkanische Kultur, das Gewohnheitsrecht und Ehrenwort der albanischen Berge, den Schamanismus, die Fakire oder Frauen als Derwische. Sie kritisiert die polygamen, verhätschelten, jungen Männer, die „superkonservative Kultur“, in der den Schein wahren eine Vollzeitbeschäftigung ist. Nicht selten verliert sie sich dabei in Belanglosigkeiten oder bedient sich herkömmlicher Stereotype.

Sie besichtigt sakrale Denkmäler, Naturschauplätze und Dörfer, ohne eine Kleinigkeit, eine historisch verbriefte Anekdote auszulassen. Sie erzählt von den unterirdischen Flüssen, die die beiden Seen verbinden und quält sich mit dem Auto in einer Stunde durch die Berge vom Ohrid- zum Prespa-See, der nur fünf Kilometer Luftlinie entfernt ist. Das Wichtigste am ganzen Text aber, die Seele ihrer Reiseliteratur, sind die einfachen Protagonisten, auf die sie trifft: Trena, die starke Frau im Restaurant, die immer, wenn sie ins Ausland fuhr, anfing, vom See zu träumen, als würde er sie rufen; Borče, der Bio-Obstbauer; der einstige Spediteur Angelo aus Palermo, der heute Bergführer in Ohrid ist; Cjape, der Kellner; der fröhliche Taxifahrer Derwischevski; Nezmi, der Zollbeamte mit zwei Uniabschlüssen, der Herodot zitiert; Nick, der Australier, der Lerinskisch spricht oder der Cousin Tino, den die „innere Emigration“ in Ohrid leben, in Gedanken aber immer woanders sein lässt.

Es steckt ganz viel Wissen, Beobachtungsgabe und Erzählkunst in Kassabovas Text, der nie langweilig wird. Aber der Umfang, der Anspruch nichts auszulassen, zu übersehen oder zu verschweigen, sprengt am Ende den Rahmen. Kein Urlaub wäre lang genug, sich auf die Spuren der Autorin zu begeben und dieses unbedingt lohnende Fleckchen Erde zu besuchen. So wird die Autorin in ihrer emotional-geprägten Ausführlichkeit eher den Vorfahren und ihrer Herkunft als dem neugierigen Lesepublikum gerecht. 

Titelbild

Kapka Kassabova: Am See. Reise zu meinen Vorfahren in Krieg und Frieden.
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2021.
416 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783552072312

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