Niedlich und wild

Verena Auffermanns „Igel. Ein Portrait“ ist eine lesenswerte Kulturgeschichte des sympathischen Säugetiers

Von Steffen KrautzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Krautzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Igel ist das Tier der Stunde. Wenn in Zeiten der Pandemie dazu aufgerufen wird, zwischenmenschliche Kontakte einzuschränken, sich zu Hause einzuigeln, in eine Art sozialen Winterschlaf zu gehen, liegt die Assoziation zwischen Mensch und Igel sehr nahe. Doch, so Autorin Verena Auffermann in ihrem lesenswerten Igel-Buch, sind diesem Vergleich auch Grenzen gesetzt: Während ein langer Winterschlaf für den tierischen Einzelgänger nämlich ganz natürlich ist, leidet der Mensch als soziales Wesen unter der Isolation. Und mit einer weiteren Igel-Assoziation räumt die Autorin in einem späteren Kapitel auf: Während sich der Mensch, zumindest am Beginn der Pandemie, mit Vorräten wie Toilettenpapier und Pasta eingedeckt hat, ist der Igel alles andere als ein Vorratssammler. Er spießt mit seinen Stacheln keine Früchte auf, um sie einzulagern, sondern verspeist vorab lieber ausreichend Insekten und überlebt den Winterschlaf durch den Abbau des rechtzeitig angefressenen Körperfetts.

Das Buch ist der inzwischen schon 76. Band in der bei Matthes & Seitz von Judith Schalansky herausgegebenen Reihe Naturkunden. In der Unterreihe der Tier- und Pflanzenportraits stellen unterschiedliche Autorinnen und Autoren monografisch einzelne Gattungen vor, so sind bereits Bände zu Tauben, Nashörnern und Füchsen oder Korallen, Nelken und Tannen erschienen. Format und aufwendige Gestaltung der Bücher (zahlreiche, farbige Abbildungen, geprägter Einband, farbiger Kopfschnitt), sowie inhaltlicher Aufbau (thematische Kapitel, kompakte Literatur- und Abbildungsverzeichnisse im Anhang) sind bei den Tier- und Pflanzenportraits immer gleich. Wenn sich alle Bände so liebevoll und unterhaltsam ihren Untersuchungsobjekten widmen wie Verena Auffermann dem Igel, eignen sich die Büchlein hervorragend zum Sammeln oder Verschenken.

Im Prolog schreibt Auffermann über ihre ersten Kontakte zu Igeln in der Kindheit, im Epilog über einen Besuch in einem sogenannten Permakulturgarten in Mecklenburg, einem idealen Biotop auch für Igel, da die Natur sich dort nahezu selbst überlassen ist. Dieser subjektive Zugang, die thematische Gliederung in 11, nicht allzu lange Kapitel, sowie die sorgfältig ausgesuchten, oft auch kunsthistorisch interessanten Abbildungen machen das Buch zu einem Lesevergnügen. Den naturwissenschaftlichen Anspruch des Bandes unterstreichen die sieben Doppelseiten am Ende des Buches. Dort werden einzelne, nicht alle, Igelarten wie Braunbrustigel oder Langohrigel mit ihren individuellen Eigenarten und Lebensräumen in Text und Bild kompakt vorgestellt. Auch hier erfährt man Interessantes, zum Beispiel, dass der in Südostasien lebende, große Ratten- oder Haarigel zwar keine Stacheln hat wie seine kleineren Artgenossen, Körperbau und Gebiss aber sehr wohl mit ihnen übereinstimmen.

In Kapiteln wie „Nacht und Finsternis“, „Augen und Ohren“ oder „Irrtümer und Fehlschlüsse“ verbindet Auffermann die wichtigsten kulturhistorischen Auftritte des Igels mit naturwissenschaftlichen Fakten, unter anderem wird über das besondere Balzverhalten oder der Bedeutung des Igels im Alten Ägypten berichtet. Die Autorin erklärt Zusammenhänge und räumt auch gelegentlich mit weit verbreiteten Mythen auf. Dabei sind die Texte weder zwingend chronologisch noch überfrachtet mit Aufzählungen oder Fachvokabular, sondern gut verständlich und nachvollziehbar auch für Nicht-Experten. Im Kapitel „Legenden und Märchen“ etwa kann jeder das eigene Igel-Wissen testen und zugleich immer noch etwas lernen: Das in der Sammlung der Gebrüder Grimm aufgenommene Märchen Der Wettlauf zwischen dem Hasen und dem Igel kennt wahrscheinlich jeder. Doch was passiert im Grimm-Märchen Hans mein Igel, das später in der Psychologie für eine Borderline-Störung Namenspate stand? Zwei weitere Beispiele: Der Igel Mecki machte nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen Deutschlands eine steile Karriere, sein Look wurde bis hin zur Mecki-Frisur, dem kurzen Igelhaarschnitt, sehr populär. Aber wer hat schon einmal von Wilhelm Buschs Gedicht Bewaffneter Friede gehört, in dem ein schlauer Igel als Friedensstifter gewinnt? So groß die Anzahl der unterschiedlichen Igel-Episoden auch ist, erhebt sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dass dabei zum Beispiel die bis heute enorm populäre Computerspiele-Serie Sonic the Hedgehog fehlt, ist also leicht zu verschmerzen.

Das Buch endet mit einem melancholischen Ausblick. Bei allem Engagement, zum Beispiel von Forschungsprojekten wie Igel in Berlin des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung oder groß angelegten Citizen-Science-Beobachtungen, bleibt die Gefahr der Ausrottung des Igels durch den Menschen: „Die moderne, durchrationalisierte Natur macht es dem Igel immer schwerer, in ihr zu leben.“ Das längste Original-Zitat im Buch stammt dann auch aus Peter Kurzecks Roman Vorabend. Dort wird das gefährdete Leben der Igel eindringlich am Beispiel einer aussichtslosen Straßenüberquerung beschrieben. Gerade ohne den expliziten Aufruf, Natur und Umwelt zu schützen, stimmt dieses Büchlein am Ende sehr nachdenklich.

Titelbild

Verena Auffermann: Igel. Ein Portrait.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
160 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783751802093

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