Die Ferne ergründen

Natasja Penzar lässt Yona im gleichnamigen Roman das Schicksal der Eltern bunt, brutal und berauschend erzählen

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach ersten journalistischen und szenisch-dramatischen Texten hat sich Nastasja Penzar, eine in Leipzig, São Paulo und Wien ausgebildete junge Romanistin und Autorin, nun auf das literarisch-fiktionale Erzählen verlegt und ein von der Literaturkritik bisher vernachlässigtes Debüt, das trotzdem Erwartungen weckt, veröffentlicht. Es spielt auf einem für die Protagonistin Yona auch wortwörtlich fremden Kontinent, in einem wegen des dortigen Todes ihrer Mutter tabuisierten Land. Denn der deutschstämmige Vater verließ umgehend die zu Füßen des Vulkans Pacaya liegende, im Roman nie namentliche benannte Metropole und floh mit seiner kleinen Tochter nach Deutschland. Penzar entfaltet die Geschichte abwechselnd in an den verstorbenen Vater erinnernden Rückblenden und in der Gegenwart spielenden Passagen, in denen sie die junge Yona in den fernen, pulsierenden Alltag Mittelamerikas eintauchen lässt. 

Deutschland war ihr Zuhause, aber wegen des Alltagsrassismus keine Heimat, mochte der Vater sich mit liebevollen Ideen aus beiden Kulturen auch noch so viel Mühe geben. Als Yonas Schulzeit mit dem Abitur endet, ist der Vater gerade verstorben. Sie macht sich mit einem Papierfetzen, auf dem die mit vor Krankheit zitternder Hand geschriebene Adresse von Doña, ihrer unbekannten Tante, steht, auf den Weg nach Mittelamerika, um das väterliche Erbe anzutreten und vor allem das Mysterium der Mutter zu ergründen. Alte Weggefährten des Vaters begleiten und beschützen sie dabei, sich intensiv auf die Stadt, das Land und das Schicksal ihrer Eltern einzulassen.

Der faszinierende Erzählfluss beginnt mit einem bewaffneten Überfall auf den Bus, mit dem der Nachbar Cristóbal Yona abholt und zu Doña begleitet. Sie befindet sich sogleich mitten im Alltag der Straßengangs, die nach Ende des Bürgerkriegs ganz Guatemala in Todesangst und Schrecken versetzen. Die Mara – vermutlich eine Kurzform für Marabunta, sogenannte Treiber-Ameisen, die ganze Gebiete am Amazonas mit Zerstörung und Tod überziehen – beherrscht mit mafiaähnlicher Bandenstruktur das kriminelle Stadtgeschehen, den Drogen- und Waffenhandel. Ihr verdankt die Hauptstadt Guatemalas die „roten Zonen“, in denen einheimische Reisende und Touristen großer Gefahr ausgesetzt sind, und der Roman sein Leitmotiv.

Yona gerät durch die Kontakte des Vaters hinein in dieses „Ameisennest“, spürt bei den eindringlichen Ratschlägen von Doña sogar ein unerträgliches Kribbeln in den Gliedmaßen. Die Körperlichkeit, das innere Befinden, Pochen, Hämmern, Schwitzen, bestimmt ihre Wahrnehmung. Ein schrecklich penetranter Ton in ihrem Kopf treibt sie in den Wahnsinn und lässt sich nur durch Sex mit Männern, die sich Yona in Kneipen sucht, vorübergehend ausschalten. Es gehört für die junge Protagonistin dazu, sich auch auf Cristóbal und Gato intim einzulassen. Beide Männer streifen mit ihr durch Viertel, in die sich die Polizei nicht reintraut, die eigentlich gar nicht existieren dürften, und nehmen sie mit in die Mara-Welt, zu der Gato selbst gehört. Hier erlebt Yona die Allgegenwart des Todes, auch als die Nachbarstochter aus heiterem Himmel ermordet wird. Mit der Mara gehören auch die Täter beim traditionellen Abschiedskaffee zu den Trauergästen und verstärken die Ohnmacht der Betroffenen noch mehr. „In der Stadt werden heutzutage aus Menschen“, so die resignierte Einschätzung der Tante, „entweder Mörder oder Leichen.“

Das friedliche Meer, die engen Familienbande, das von indigener Kultur geprägte bunte Landleben und die unbehelligt Joints rauchenden Touristen stehen im Widerspruch zur erbarmungslosen Brutalität der Umstände, die im Vulkan Pacaya vor den Toren von Guatemala-City, der ständig brodelt, plötzlich ausbrechen und alles vernichten kann, an dem „Himmel und Hölle ganz dicht beieinander“ sind, eine symbolische Entsprechung findet. 

Mit dem Besuch der Finca, die der Familie des Vaters gehört und nun zu Yonas Erbschaft zählt, kommt sie dem Familiengeheimnis näher. Hier wurde sie geboren, jetzt lebt ein Ameisenkerl – Barriga, ‚der Bauch‘ –, ein Jugendfreund des Vaters, dort. Das Leben der beiden jungen Männer hat der Bürgerkrieg entscheidend geprägt. Sie haben das immense Wohlstandgefälle im Land in Frage gestellt und im Zuge dessen unterschiedliche Schicksale erfahren: Mit der Beziehung zu einer indigenen Frau, die ihm Yona schenkte, zog der Vater nicht nur den Unmut der deutschen Kolonie auf sich, sondern brachte schreckliches Unheil über seine kleine Familie.

Nastasja Penzar knüpft in ihrem Debüt die Gewaltgeschichte eines Landes an eine individuelle Familiengeschichte und erzählt sie kontrastiv zur Alltagsheiterkeit und Normalität. Das ununterbrochene Oszillieren zwischen Extremen ruft bei der Protagonistin körperliche Reaktionen auf Umfeld und Geschehnisse hervor, deren Beschreibung zu den Stärken des Romans gehört. Dass man ein dermaßen ambivalentes Land nicht nur kognitiv erfahren kann, liegt auf der Hand. Familiengeheimnisse lassen sich nicht ewig unter Verschluss halten, auch wenn sich die Vorfahren in Schweigen hüllen. Doch was passiert, wenn sich die Wahrheit eruptiv Bahn bricht, in einem Land, in dem „[d]ie Geburt“, wie es zum Auftakt des Romans heißt, „nicht der Anfang“ ist? Wie man sich das Recht erkämpft, im Hier und Jetzt das eigene Leben selbst zu bestimmen, davon handelt dieser Roman.

Titelbild

Natasja Penzar: Yona.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021.
208 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957579584

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