Eine Stunde null der deutschen Bundesanwaltschaft hat es nie gegeben

Der Historiker Friedrich Kießling und der Jurist Christoph Safferling zeigen in „Staatsschutz im Kalten Krieg“, wie aus einer mit vielen NS-Altlasten behafteten Behörde eine demokratische Institution wurde

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits die Entstehungsgeschichte des hier zu besprechenden Werks ist bemerkenswert: Ende 2017 wurden der Bonner Professor für Neuere und Neueste Geschichte Friedrich Kießling und der Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht an der Universität Nürnberg-Erlangen Christoph Safferling vom Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof Dr. Peter Frank beauftragt, die Geschichte seiner Behörde zu untersuchen. Beide hatten Expertise und waren zuvor bereits als ausgewiesene Experten auf dem Gebiet verschiedener Untersuchungskommissionen hervorgetreten: Kießling als Mitglied der unabhängigen Historikerkommission des Bundeslandwirtschaftsministeriums, Safferling als Sachverständiger der vom Bundesjustizminister in Auftrag gegebenen Untersuchung zur „Kontinuität des nationalsozialistischen Deutschlands in das Regierungshandeln des Bundesministeriums der Justiz in der Nachkriegszeit der fünfziger und sechziger Jahre“.

Herausgekommen ist nicht nur eine akribische Bestandsaufnahme der damaligen Verhältnisse der Bundesanwaltschaft bzw. Reichsanwaltschaft, sondern trotz der eingeräumten Überschaubarkeit der Institution (nach dem Krieg nur 12 Mitarbeiter, heute 52 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) – eine Art kleiner „Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ in Hinblick auf die höchste richterliche bundesrepublikanische Instanz, von der Reichsgründung über die Spiegel-Affäre bis hin zu den Zeiten der RAF, also etwa bis Mitte bzw. Ende der 70er Jahre. Für diese Untersuchung spielten nicht allein Personalien, sondern dazu der historische Hintergrund, die Arbeits- und Vorgehensweise, und insbesondere die politische Ausrichtung der Bundesanwaltschaft eine besondere Rolle.

Die Autoren des mehr als 500 Textseiten starken Werks kaprizieren sich dabei auf die ihrer Meinung nach alles entscheidende Frage, „wie es gelingen konnte, das liberale Grundgesetz mit demokratischem Leben zu füllen, angesichts der schweren Hypothek, dass die Funktionseliten, nicht zuletzt die juristische, tief in den Nationalsozialismus verstrickt waren.“ Der Versuch der Beantwortung dieser Frage ist gerade in Zeiten des Rückschraubens demokratischer Tendenzen und rechtstaatlicher Errungenschaften in Europa, aber auch darüber hinaus, von maßgeblicher Bedeutung. Eine Antwort darauf fällt allerdings relativ knapp und bescheiden aus, was nicht als Fehler des Werks anzusehen ist, sondern allein auf die Realität verweist: Letztendlich handelt es sich um ein Hindurchwurschteln der Verantwortlichen in Anbetracht der Vorlasten der Behörde sowie ein Wegschauen in Hinblick auf viele NS-Biografien, zunächst aus dem einfachen und praktischen Grund, dass die Führungseliten nach 1945 nicht einfach auszutauschen waren. Rolf Lamprecht nennt es in der SZ vom 14.11.2021 „ein Staats-Schauspiel in drei Akten: Vergangenheit verbergen, Vergangenheit schönreden, Vergangenheit wieder salonfähig machen“.

Kurz nach dem Krieg gehörten 90% der Bundesanwaltschaft der früheren Reichsanwaltschaft in NS-Zeiten an, 1966 zu Beginn der ersten Großen Koalition von CDU/CSU und SPD „waren zehn von elf Bundesanwälten ehemalige NSDAP-Mitglieder“, noch 1975 waren es sechs von 15 Anwälten.

Dabei wurden allerdings (fast) keine ehemaligen SS-Mitglieder aufgenommen oder nur wenige von jenen, die vor 1937 eine Mitgliedschaft in der NS nachzuweisen war. Von den Juristen der Alliierten wurde bei den Nürnberger Prozessen festgehalten, dass ihre „deutschen Kollegen das Strafrecht pervertiert und es zu einem Instrument von Mord, Folter und Misshandelns von tausenden von Deutschen und Angehörigen besetzter Staaten“ umgewandelt hätten.

Nach der Übernahme der Bearbeitung von NS-Urteilen durch die deutsche Organisation fielen die Urteile in Bezug auf NS-Biografien bedeutend milder und nachsichtiger aus. Bis 1962 interessierte die ehemalige NS-Mitgliedschaft der Mitarbeiter (hier tatsächlich Mitarbeiter, denn es war über viele Jahre eine reine Männerdomäne, die bislang einzige Generalbundesanwältin war Monika Harms, die das Amt von 2006 bis 2011 bekleidete) in der obersten deutschen Justizbehörde kaum jemanden.

Als ein erstes Ergebnis der Untersuchung ließe sich festhalten, dass es eine Kontinuität der Bundesanwaltschaft bzw. früheren Reichsanwaltschaft von der Reichsgründung bis in die Nachkriegszeit gegeben hat. Die Bundesanwaltschaft entwickelte zu großen Teilen ein „erinnerungspolitisches Konstrukt, das ihre Schuld bagatellisierte“. Aber damit nicht genug: In der Regel vertrat die Bundesanwaltschaft auch im teilweisen Gegensatz zu „Konkurrenzorganisationen“ wie dem Bundesjustizministerium, dem Bundeskriminalamt o. a. bis zum Ende des Untersuchungszeitraums national-konservative Positionen, die zum Teil von der öffentlichen Meinung, etwa in der Spiegel-Affäre, deutlich abwichen. Es traf die Karlsruher Richter in diesem Fall völlig überraschend, dass die öffentliche Empörung sich gegen die Ermittler, also gegen ihre Behörde, und nicht gegen die Presse richtete.

Das Selbstbild der Bundesanwaltschaft wich zu großen Teilen von jenem von Kießling und Safferling auf der Basis der Dokumente herausgearbeiteten, faktenbezogenen Bild ab. In der Regel ging die Bundesanwaltschaft, u. a. verkörpert durch die späteren Generalbundesanwälte Carl Wiechmann, Ludwig Marzin oder Siegfried Buback davon aus, in erster Linie dem Recht zu dienen und diesem auch in der NS-Zeit gedient zu haben und sich trotz NS-Mitgliedschaft vieler den politischen Verhältnissen nicht gebeugt zu haben. Der Ausspruch des nordrhein-westfälischen Justizministers 1947 auf einer Konferenz in Konstanz gibt jenes Selbstverständnis sehr gut wieder, wonach 1947 „der deutsche Richter in seiner Gesamtheit im Deutschen Reich intakt geblieben“ sei und „nicht vor Hitler kapituliert habe“.

Einzige Ausnahme dieser Tendenz markierte die Ägide Max Güdes. Trotz auch seiner NS-Mitgliedschaft ab 1937 stand Güde, der später insbesondere als CDU-Politiker ins Rampenlicht trat, für den ersten Versuch der „Aufarbeitung der Geschichte der Reichsanwaltschaft“. 

Als regelrechtes Pendant dazu kann der Fall Wolfgang Immerwahr Fränkels angesehen werden, der für einen der größten Justizskandale der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte steht. Trotz seiner schon vorher bekannt gewordenen Tätigkeit als maßgebender Verantwortlicher der Reichsstaatswanwaltschaft für Todesurteile wurde er vom damaligen Bundesjustizminister Thomas Dehler (FDP) auf den Posten berufen. Er wurde dann allerdings schon nach drei Monaten in den Ruhestand versetzt.  Dessen Geschichte wurde durch eine 130 Seiten starke Dokumentation in der DDR publik. Dazu benötigte diese „nicht einmal einen scharfen Ton“, „eine lückenlose Aufzählung der Fakten genügte“. Fränkel hatte in mehr als 50 Revisionsverfahren bei vergleichsweise harmlosen Vergehen für die Todesstrafe votiert, immer mit der Begründung der „Kriegszersetzung des Deutschen Volks“.

Er hatte sich dabei auf die sogenannten „Nichtigkeitsbeschwerden“ beziehen können, einem Rechtsbehelf, der 1940 auf Drängen Roland Freislers im gesamten deutschen Reich eingeführt worden war. Dieser konnte selbst dann noch zu Lasten der Angeklagten ausgelegt werden, selbst wenn das Verfahren schon abgeschlossen war. Aufgrund von Nichtigkeiten wurden Todesurteile erlassen und vollstreckt. Fränkel tat sich hierbei in Hinblick auf wiederaufgerollte Fälle besonders hervor. So wurde etwa der Hühnerdieb Walter Goedicke am 11. April 1942 zum Tode verurteilt, weil er, so Fränkel, „die Hühner fast ausschließlich vom ärmsten Bevölkerungsteil (Arbeiter und Invaliden) gestohlen“ hatte. Im Zusammenhang mit Fränkel weisen die Autoren eine Reihe solcher Fälle auf, die „einen gnadenlosen Umgang mit der Todesstrafe“ sowie einen menschenverachtenden Umgang mit Minderheiten (übrigens auch mit Angehörigen anderer Kulturen wie Tschechen und Polen) verraten.

An seinem Beispiel wird exemplarisch noch einmal besonders deutlich, dass „der Dolch des Mörders unter der Robe des Juristen“ verborgen war. Aber auch viele andere spätere Bundesanwälte wie Albin Kuhn gehörten SS-Standgerichten an, die noch bis zum Ende des Krieges deutsche Soldaten der Fahnenflucht wegen zum Tode verurteilten.

In dem Zusammenhang wird auch Eduard Dreher – der Name ist Programm – und das mit ihm verbundene Dreher-Gesetz erwähnt, wenngleich es im strengen Sinne nichts mit der Bundesanwaltschaft zu tun hat. Dreher war seinerzeit wichtigster Strafrechtsexperte im Bundesjustizministerium. Der Fall beschäftigte u. a. auch den Bestsellerautor Ferdinand von Schirach in Hinblick auf Der Fall Collini. Das Dreher-Gesetz verursachte eine Verjährung von Nazi-Verbrechen, ohne dies explizit vorzugeben, weshalb es auch immer als Dreher-Trick oder Verjährungstrick bezeichnet worden ist. Auf Betreiben des Generalreferenten im Bundesjustizministeriums Eduard Dreher verabschiedete der Bundestag am 24.05.1968 das so neutral klingende Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG), dessen fatalen Folgen in Hinblick auf NS-Täter erst spät erkannt wurden, weil es eine verklausulierte Formulierung in Hinblick auf die Umwandlung von NS-Mord in Totschlag enthielt und damit verjährungswürdig wurde. Safferling gehörte einer Historikerkommission im Auftrag des Bundesjustizministeriums an, die das konkrete Interesse Drehers, der nach dem Krieg nur als Mitläufer eingeschätzt wurde, an dieser Veränderung nachwies. Wie die Historikerkommission herausfand, war Dreher an bis zu 17 NS-Urteilen ohne eigentlichen Prozess beteiligt. Safferling legte zusammen mit dem Historiker Manfred Görtemaker auch hierzu 2016 die Studie Die Akte Rosenburg vor, die vom BMJ in Auftrag gegeben worden war.

In Bezug auf das völlig andere Selbstbild der Generalbundesanwaltschaft weisen die Verfasser ferner darauf hin, dass ein Neuanfang nach 1945 möglich gewesen wäre bzw. es bei der Besetzung von Stellen Alternativen dazu gegeben hätte, etwa in Gestalt von jüdischen Anwälten, die emigrieren mussten, doch war man in Karlsruhe daran nicht interessiert oder sah keine Notwendigkeit darin. Diese Thematik findet sich etwa auch in Ursula Kreschels vielbeachteten und mit dem deutschen Buchpreis ausgezeichneten Roman Landgericht wieder.

Als Turning-Point bzw. Game-Changer gilt schließlich die Spiegelaffäre von 1962, die für alle Beteiligten wie den damaligen Bundeskanzler Adenauer, den Verteidigungsminister Strauß und nicht zuletzt für die Bundesanwaltschaft nach hinten losging. Auslöser war der Spiegel-Artikel von Conrad Ahlers vom 09.10.1962 „Bedingt abwehrbereit“, worin aufgrund der Auswertung angeblich „geheimer Dokumente“ der Bundeswehr ihre Verteidigungsposition abgesprochen wurde.

Nach Auswertung der Daten kommen die Autoren zu dem klaren Schluss, dass auch die Bundesanwaltschaft eine eigene Politik betrieb und eben nicht nur ihrem juristischen Auftrag folgte. Dabei hielten sie nach dem Krieg an einer Art „Gesinnungsrechtsprechung“ fest. Im Sinne dessen lässt sich festhalten, dass sich schon strafbar machte, „wer das Falsche dachte“. Safferling drückt es in einem Interview mit dem Spiegel wie folgt aus: „Aus Sicht der Staatsanwälte stimmte die Balance zwischen Staatsschutz und Pressefreiheit nicht mehr.“

Es war keinesfalls so, wie es im Nachkriegsdeutschlang verbreitet wurde, dass der Beginn der Spiegel-Affäre nur auf das Drängen von Strauß und Adenauer passierte. Die Spiegel-Affäre stand zudem nicht so isoliert da, wie es gerne öffentlich kolportiert wurde. Es hatte zuvor schon ähnliche Nachforschungen in Hinblick auf zwei Journalisten der nicht mehr existierenden Zeitschrift Quick gegeben, die Nachforschungen bezüglich des Atombunkers der damaligen Bundesregierung im Ahrtal angestellt, diese veröffentlicht hatten und die wegen Staatsgefährdung bzw. Staatsverrat angeklagt worden waren. Zudem war man bereits in den fünfziger Jahren gegen „linke Kritiker der Wiederbewaffnung“ vorgegangen.

Was die Behörde letztendlich anzuerkennen hatte, war, dass das öffentliche Bewusstsein sich inzwischen so stark gewandelt hatte, dass die Spiegel-Affäre nicht für den Spiegel-Herausgeber Augstein und den Journalisten Ahlers, sondern für die Initiatoren mit einem Fiasko endete. Nach Ausstieg der FDP-Mitglieder aus der Regierung endete die Ära Adenauer und Verteidigungsminister Strauß musste seinen Hut nehmen.

Relativ kurz und knapp wird dann abschließend noch auf die Behörde und den Staatsschutz in der Zeit der RAF eingegangen. Deren Aktivitäten standen in jener Zeit oft in Konkurrenz zum Bundesnachrichtendienst und zum Verfassungsschutz. Es hatte manchmal den Anschein, dass man vor allem den Vorgaben dieser beiden Institutionen nachkam, als dass man eigene Politik gemacht hätte. Paradoxerweise war es dann der Bundesanwalt Siegfried Buback, der einem Attentat zum Opfer fiel, wobei der später als Attentäter ins Gespräch gebrachte Ex-Terrorist Stefan Wisniewski bekannte, dass „es jeden hätte treffen können“, der als Aushängeschild dieses Staats galt. Es ist nie völlig aufgeklärt worden, wer die Todesschüsse auf den ehemaligen Generalbundesanwalt abgeben hatte, was ebenfalls eine Paradoxie bedeutet, bei einer Behörde, die in der Regel so akribisch vor allem gegen links vorging. Aber es zeigte sich daran auch, dass die Bedeutung der Behörde sich im Verhältnis zum Bundesjustizministerium, dem Verfassungsschutz oder der Bundespolizei verringert hatte, ausgerechnet in dem Moment, als man rechte Positionen nun doch immer mehr aufzugeben begann.

Kießling und Safferling haben ein äußerst lesenswertes Buch geschrieben, das sich zum Teil im besten Sinne des Worts wie ein Kriminalroman liest und von daher gerade auch für Nichtjuristen von besonderer Bedeutung wie enormem Interesse sein dürfte. Die beiden Autoren nehmen dabei auf der Basis der Auswertung einer schier unendlichen Menge an Fakten, Quellen und Dokumenten – allein der Anmerkungsteil beträgt über 100 Seiten – eine klare Position ein.

Darüber hinaus wagen Kießling und Safferling eine historische Verbindung zwischen dem früheren Verhalten der Dienststelle und dem Versagen in den NSU-Prozessen herzustellen. Sie erwähnen in diesem Zusammenhang, dass die Bundesanwaltschaft zwar auf dem rechten Auge nicht vollständig blind war, dass es auch entlastende Momente gab, dass aber dennoch gegen den Linksextremismus viel extremer als gegen rechte Terrorvereinigungen wie dem Bund deutscher Jugend, ein Zusammenschluss ehemaliger Wehrmachts- und SS-Angehöriger mit dem Ziel, die Republik abzuschaffen, vorgegangen wurde; während es ein eher zögerliches Vorgehen gegen rechts gab, fällt die harte Verfolgung gegen links auf, wenn etwa der Düsseldorfer Kommunist Jupp Angenfort wegen Verteilung von Flugblättern zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt wurde.

Das Werk macht darüber hinaus darauf aufmerksam, dass die Bundesrepublik Deutschland nach dem Krieg insgesamt lange Jahre, insbesondere was die Justiz betraf, ein konservativer Staat war, der an einem etatistischen Staatsverständnis sowie einer konservativen bis nationalen Grundhaltung festhielt, gerade auch unter Berücksichtigung eines starken Anti-Kommunismus in Zeiten und im Sinne des Staatschutzes während des Kalten Kriegs. Diese Untersuchung könnte mit dafür sorgen, ein Verständnis der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland zu einem demokratischen und selbstkritischen Staat zu erwecken, gerade in Zeiten von Obrigkeitsdenken und der Rücknahme demokratischer Rechte.

Titelbild

Friedrich Kießling / Christoph Safferling: Staatsschutz im Kalten Krieg. Die Bundesanwaltschaft zwischen NS-Vergangenheit, Spiegel-Affäre und RAF.
dtv Verlag, München 2021.
608 Seiten , 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282642

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