Philosophien der kollektiven Erinnerung

Esther Kinskys neuer Roman „Rombo“ vermischt menschliche, ökologische sowie mythische Erzählmomente und lässt sie zu einem Strudel kollektiver Traumata werden

Von Nele HonigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nele Honig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein tiefes grollendes Beben durchfährt die Hügelgegend. Gesteinsbrocken lösen sich ringsherum, Dächer stürzen ein, Wände wackeln. Zurück bleiben Berge von Schutt, die geliebte Menschen, ersehnte Dinge und die zum Leben so notwendigen Tiere unter sich begraben. Mit den Aufräumarbeiten und der Flucht ins untere Tal kommt die Veränderung. Der einstige Mikrokosmos des Individuums wird zum allgemeinen Interesse. Was für die Betroffenen traumatische Lebensrealität bleibt, wird für die Unbeteiligten außerhalb der Erdbebenregion zum Nachrichtenspektakel.

Es ist der Abend des 6. Mai 1976. Während die Erde weiter die Sonne umkreist, bebt in der norditalienischen Grenzregion Friaul die Erde. Und das einige Monate später erneut. So, wie die Gebirgslandschaft einst durch Materialverschiebung erschaffen wurde, wird sie nun wieder zerstört. Die Katastrophe reißt die Dorfbewohner*innen überraschend aus ihrem beständigen Leben und hinterlässt tiefe Furchen in der Natur und der Biografie der Menschen. Doch hatte es zuvor Anzeichen gegeben: Das öffentliche Auftreten der ansässigen Carbon-Schlange, der Riss in der Straße und die Unruhe der Tiere. 

Die preisgekrönte Übersetzerin und Autorin Esther Kinsky dokumentiert in ihrem neuen Roman Rombo jene folgenträchtigen Erdbeben der 1970er Jahre. Als Fragmente der Erinnerung bilden die sieben Teile des Romans ein Gedächtnis von Verlust und Neuanfang. Kinsky stellt dabei Vergangenheit und Zukunft gegenüber: 

Die seismischen Stöße im Mai spalteten Leben und Landschaft in ein Vorher und Nachher. Das Vorher wurde Gegenstand von Erinnerungen, Erzählungen, dem steten Schichten und Überwehen mit Worten. 

Es sind wechselnde Topografien und die Zuschreibung einer Autonomie der Natur, die Kinskys Werk ausmachen. Wie schon in ihren vorrangegangenen Werken Hain: Geländeroman oder Am Fluss werden die Ortschaften und das Gelände zum Reflexions- und Interpretationsraum. Dabei wechseln sich naturalistische Beschreibungen der Umwelt mit dem menschlichen Erleben anhand eines siebenstimmigen Figurenensembles ab. In dieser multiperspektivischen Erzählung werden individuelle Traumata abstrahiert und zum Strom einer kollektiven Erinnerungskultur. Und doch gelingt Kinsky dabei der Spagat zwischen empathischer Zuwendung und realistischer Nüchternheit. So erscheint ihr Roman als autopoietisches Geflecht, das sich aus menschlichen und ökologischen Teilsystemen zusammensetzt. Der Rombo, ein Onomatopoetikum des Dröhnens, wird zur Achse jeder Beziehung und lastet auch Jahre später als ungreifbares Gewicht auf dem Dorf.

Da gibt es etwa den Ziegenhirten Gigi, der auf einer Alm ausharrt, bis das Beben vorüber ist. In seinen späteren Lebensjahren wird er von den Erinnerungen jener Draufsicht geplagt, der Machtlosigkeit seines Blickes. Als Eigenbrötler scheint er seine Sprache nur den Ziegen zu schenken, obgleich sein Inneres gezeichnet von der Katastrophe ist. Als weitere Instanz tritt Anselmo in Erscheinung. Gegenwärtig erscheint er als alter Mann, der für die Gemeinde seines Dorfes arbeitet. In der Vergangenheit nimmt er die Rolle des sensiblen Jungen aus Deutschland ein, der stets ein Außenseiter bleibt. Dabei gibt es eine Frage, die alle sieben Figuren verbindet: „Was ist die Erinnerung, was ist das Vergessen?“

Doch nicht immer gelingt es Kinsky, die sieben Erzählperspektiven in ihrer Individualität aufrecht zu erhalten. Oftmals verlaufen sich so die nichtlinearen Stränge und befördern den Wunsch nach einem roten Orientierungsfaden zutage. Zugleich drängt sich die Frage auf, inwiefern der Plot des Traumas die Charakterzüge der Figuren verdrängt und die Symptome der Bewältigung in den Vordergrund stellt. Doch mag dieser Zustand in der Vorrangigkeit eines Erinnerungskollektivs begründet sein. Denn kollektives Trauma und charakterliche Tiefe hätten wohl kaum auf 265 Seiten ihren Platz gefunden.

Meisterhaft versteht es Kinsky, mit der prosaischen Sprache umzugehen und dennoch verlangt es auf einigen Seiten ein gewisses Durchhaltevermögen, ihr literarisches Umweltdenken bis zum Ende auszukosten. Topographische Beschreibungen ziehen sich stellenweise in die Länge und ihre sich des Nature Writings bedienende Ästhetik franst aus. Zugleicht liegt hier auch die große Möglichkeit, einen dezidierten Blick auf die im Dorf herrschenden Diskurse zu werfen. So umfassen die sieben Figuren Feinheiten des dörflichen Zusammenlebens, familiäre Zwiste und individuelle Lebenswege. Dazwischen streut Kinsky Legenden und Märchen aus der Umgebung, die, gleichsam dem Erdbeben, das Vakuum des kollektiven Gedächtnisses füllen. Ihr gelingt eine Mythifizierung des Grollens, das neben Narben wohl auch transgenerationelle Schürfwunden hinterlassen wird. So vermag Esther Kinskys neuer Roman Rombo am Ende womöglich selbst das Vakuum erinnerungsträchtiger Nature Writing-Kultur zu füllen.

Titelbild

Esther Kinsky: Rombo.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2022.
268 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783518430576

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