Zwei Frauen auf der Suche nach einem Weg zurück ins Leben

Ronja von Rönne überzeugt mit „Ende in Sicht“, einem Roman über Depression

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ausgedacht war alles anders: Die fünfzehnjährige Juli steht an einem Brückengeländer über der A33, sie hat einen Plan, nämlich „in wenigen Minuten und mit voller Absicht zu Fallwild zu werden“, also sich hinunterzustürzen. Eigentlich hätte sie auf Klassenfahrt sein sollen, Richtung Prag, so hat sie ihrem Vater erzählt, bei dem sie lebt, seit sich die Mutter vor vielen Jahren, als Juli noch ein Kind war, davongemacht hat. Vielleicht ist dieses Verlassen-worden-Sein einer der Gründe, warum sie jetzt da auf der Autobahnbrücke steht und sich verabschieden will, von allem. Doch vorerst springt sie (noch) nicht, sondern sieht nach unten, friert und spielt „weiter mit dem Schneckenhaus in ihrer Hand“.

Dieses Schneckenhaus begleitet sie seit vielen Jahren, es ist ein Überbleibsel ihrer Mutter, der berühmten internationalen Schneckenforscherin, und weil sie berühmt und Schneckenforscherin war, musste sie die Familie verlassen und weit weg ihren Forschungen nachgehen. Davon zeugen die Geburtstagskarten, die Juli jedes Jahr erreichen – irgendwann hat Juli begriffen, dass es der Vater ist, der sie schreibt und zur Post bringt. Wen er damit mehr schonen will – ob die Tochter oder sich selbst –, bleibt offen. Was an der ganzen Berühmtheits- und Schneckenforscheringeschichte überhaupt wahr war, wollte Juli lieber nicht wissen. Wie die zwei Zurückgebliebenen mit der Trennung umgehen, behalten sie als Geheimnis für sich. Sie leiden beide und schweigen darüber.

Auf der A33 ist Hella am gleichen Tag zur gleichen Uhrzeit in ihrem alten VW Passat unterwegs Richtung Schweiz. Die 69-Jährige hat sich entschieden, mit Unterstützung einer Sterbehilfeorganisation dieses Leben zu beenden. Der Traum von der großen Berühmtheit wird kaum mehr Wirklichkeit, vielmehr muss Hella, wenn sie ehrlich zu sich sein will, feststellen, dass sie gescheitert ist. Die Zeiten, als sie als die Sängerin Hella Licht Männer mit ihrer Stimme eingefangen und Frauen zur Eifersucht gebracht hat, sind längst vorbei. Alkoholprobleme, Sexskandale und Pleiten haben die Karriere beendet, und Hella sieht keinen Sinn mehr, dieses verpfuschte Leben weiterzuführen.

Doch der Plan vom glücklichen Sterben lässt sich nicht so leicht ausführen, denn plötzlich liegt ein helles Bündel vor ihr auf der Straße. Sie macht eine Vollbremse, „stürzte aus dem Auto mit einer Geschwindigkeit, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte. (…) Instinktiv packte sie den Köper des Teenagers, der da vor ihr lag, unter den Achseln und zerrte ihn mit aller Kraft zum grasbewachsenen Rand der Autobahn.“

So hat sich Juli das Ende nicht vorgestellt: schmerzender Kopf, aufgeschürfte Knie – und vor allem am Leben. An ihrem Ohr „eine hysterische Stimme“, die immer lauter wird. Und jetzt? Fragen sich die beiden so ungleichen Frauen, die noch nichts voneinander wissen, auch nicht, dass sie mit der gleichen Absicht unterwegs waren.

Damit beginnt eine gemeinsame Reise, denn auch wenn sie eigentlich nichts anderes möchten, als den eingeschlagenen Weg alleine weiterzugehen, kommen sie so schnell nicht voneinander los. Hella weigerte sich zwar in all den Jahren, Verantwortung für irgendjemanden zu übernehmen, auch nicht für sich selbst, doch angesichts der verschüchtert-verstockten Juli sieht sie sich außerstande, diese einfach liegen oder im Krankenhaus, wohin sie sie fährt, zurückzulassen.  Auch Juli überlegt es sich nach jedem Ausbruchsversuch – sei es auf der Autobahnraststätte oder später beim Fest der Jugendfeuerwehr in einem kleinen Dorf – wieder anders und kehrt zu Hella zurück.

Während sie im Auto sitzen, reden sie kaum miteinander, schon gar nicht erzählen sie von sich selbst. Vielmehr starren sie in Gedanken versunken in die Ferne, verlieren sich in der Sinnlosigkeit des Lebens, vorab des eigenen, und schrecken davor zurück, an ein Morgen zu denken. Die Rückblenden im Kopf der Protagonistinnen, in denen die Leser:innen so viel von Hella und Juli erfahren, erzählen von verpassten Möglichkeiten, von Verraten- und Ausgenützt-Werden (Hella) und von dieser großen Sehnsucht nach bedingungslosem Geliebt-Werden (beide). Zwar trennt sie ganz viel, doch es verbindet sie dieser große Wunsch nach einem besseren Leben und letztlich die Hoffnung, dass es dies auch für sie – Juli und Hella – gibt.

Ende in Sicht ist ein todtrauriger und gleichzeitig urkomischer Roman. Dieser Widerspruch, der vielleicht gar keiner ist, entsteht vor allem durch die unglaublich präzise, treffende und immer wieder von einem schrägen Humor getragene Sprache, die Ronja von Rönne großartig beherrscht. So ernst und nachdenklich stimmend die Geschichten sind, so vergnüglich sind sie zu lesen. Daraus ergibt sich eine Spannung, die die Lektüre manchmal fast unerträglich macht.

Damit gelingt der erst dreißigjährigen Autorin das Kunststück, leicht und gleichzeitig sehr ernsthaft in Ende in Sicht dem riesigen Thema Depression Raum zu geben und eine ganz eigene Art der Auseinandersetzung damit anzubieten. Ein Angebot, das nicht nur wunderbar-verwirrend zu lesen ist, sondern auch viele Erkenntnisse zulässt.

Titelbild

Ronja von Rönne: Ende in Sicht.
dtv Verlag, München 2022.
256 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282918

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