Mit dem Passat zum Licht am Ende des Tunnels

Ronja von Rönnes Roadtrip-Roman „Ende in Sicht“ zwischen Humor und Depression

Von Pia BuschmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Pia Buschmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu diesem Buch ist auf literaturkritik.de bereits eine Rezension von Liliane Studer erschienen. Ausnahmsweise publizieren wir hier eine zweite, studentische Rezension.

Was haben ein Schneckenhaus und ein alter Passat gemeinsam? Beide sollen den Protagonistinnen aus Ende in Sicht dazu verhelfen, ihrem Leben ein Ende zu bereiten. Denn die beiden Protagonistinnen Juli und Hella leiden an Depressionen und suchen durch Selbstmord einen Ausweg aus der Krankheit. Sie fühlen sich mit ihren Emotionen und Gedanken allein – bis sie einander begegnen und feststellen, dass sie mehr gemeinsam haben als sie denken.

Juli ist fünfzehn Jahre alt und hat ihr Leben satt. Ihr Vater ist in seiner eigenen Welt versunken und ihre Mutter ist, als Juli klein war, wer weiß wohin abgehauen und schert sich nicht um ihre Tochter. Juli beschließt daher, dass ein Sprung von einer Autobahn-Wildbrücke ein gutes Ende für ihr kurzes Leben sei. Die 70jährige Hella kann auf eine große Karriere als Schlagersängerin zurückblicken, aber nachdem diese zu einem abrupten Ende gekommen ist, hat sie für sich mit ihrem Leben in Einsamkeit und gefühlter Bedeutungslosigkeit abgeschlossen. In der Schweiz möchte sie nun Sterbehilfe in Anspruch nehmen. Der Körper der jungen Juli schlägt direkt vor Hellas Auto auf der Autobahn auf, als die alte Dame sich auf dem Weg in die Schweiz befindet. Hella sammelt Juli auf, die mit leichten Verletzungen davongekommen ist. So beginnt eine ungewöhnliche Reise zweier einander fremder Frauen mit dem gleichen Ziel: von dieser Welt zu verschwinden und der Depression ein Ende zu setzen.

Der Sprachstil des Romans ist einfach, Sätze sind weder zu lang noch hypertaktisch aufgebaut. Julis Sprache ist dem heutigen Jugendjargon angepasst, während Hellas Ausdrucksweise eher der „Pottschnauze“ entspricht. In manchen Passagen erscheint die Sprache schon fast hashtagartig, wenn Worte wie „Awkwardness“ oder „TikTok“ fallen. Erzeugt wird eine die Erzählung durchziehende sprachliche und thematische Aktualität, die sowohl von Julis Sprechweise, dem recht kurzen Satzbau oder schlicht den inhaltlichen thematischen Referenzen zu aktuellen Geschehnissen in der realen Welt karikiert wird:

Der Platzanweiser sprang zurück. „Hoppla“, sagte er nur freundlich. Seine gute Laune ließ sich von Hellas versuchter Körperverletzung nicht trüben, die das Fahrzeug auf der Wiese neben einem tiefergelegten Audi abstellte, auf dem ein Aufkleber mit der Aufschrift „Heul leiser, Greta“ prangte.

Die Erzählung lebt hauptsächlich von sprachlichen Stilmitteln, konsequent genutzte Motive und Metaphern hüllen die stereotypen Charaktere in buntere Gewänder. Leider wird dabei auf recht plakative, offensichtliche Metaphern zurückgegriffen, durch die es aber gelingt, die Gefühle der Figuren gut nachvollziehbar werden zu lassen.

Das Leben war leiser geworden, in ihr und um sie herum. Dass ein Song, den sie wahrscheinlich in Julis Alter gehört hatte, nun plötzlich zum Generationsklebstoff zwischen ihnen wurde, dass Musik hier gerade etwas schaffte, was sie stümperhaft versucht hatte, nämlich das Mädchen wenigstens ein bisschen aus der Reserve zu locken, diese Macht von Songs hatte sie fast vergessen.

Von Rönne nutzt eine sich wiederholende Leitmotivik: den Passat und das Schneckenhaus. Ein Schneckenhaus ist Julis konstante Begleitung. Es fällt gemeinsam mit ihr die Wildbrücke hinunter, begleitet die junge Frau auf ihrem Weg und sorgt für den ersten überraschenden Spannungsbogen zum Ende des Romans. Juli klammert sich krampfhaft an jedes Schneckenhaus, das sie findet, es schenkt ihr Sicherheit und erhält ihr den letzten Funken Hoffnung, irgendwann doch ihre Mutter wiederzusehen. Das Schneckenhaus steht aber auch für die Auswirkungen der Depression: Juli lebt in sich zurückgezogen, empfindet selten das Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen, und sucht in ihrem Inneren Schutz vor der Außenwelt, die bei ihr regelmäßig Panikattacken auslöst. 

Dann standen die beiden auf der Wiese voreinander und Juli schämte sich plötzlich. Was hatte sie da eben gemacht, was war da über sie gekommen? Sie starrte auf den Boden, suchte die Wiese, eine alte Gewohnheit, nach Schnecken ab, und tatsächlich konnte sie das unbewohnte Haus einer Gefleckten Schnirkelschnecke ausmachen. Sie griff danach und steckte das Gehäuse instinktiv ein.

Hella, die während ihrer Karriere Alkoholprobleme hatte, greift nun regelmäßig zu ihrer E-Zigarette, um die Leere in ihrem Inneren kurzzeitig zu betäuben und vor der Angst zu flüchten. Der Zustand von Hellas altem Passat – dem zweiten Leitmotiv – spiegelt wider, wie bedeutungslos ihr das Leben geworden ist.

Unzählige Plastiktüten, deren Inhalt sie nicht mal erahnen wollte, ihr ausgestopfter Dackel, Fast-Food Verpackungen. Alles, nur kein Erste-Hilfe-Koffer. Beziehungsweise fast alles, denn ein Warndreieck konnte sie im Verhau des Kombis auch nicht ausfindig machen. Falls sie so vernünftige Anschaffungen überhaupt jemals besessen hatte, waren sie verlässlich unter Schichten von schimmeliger Vergangenheit begraben.

Nach dem Motto „Der Weg ist das Ziel“ ist in Ende in Sicht weniger die Handlung, Julis Rückkehr nach Hause und Hellas Ankunft in der Schweiz, als vielmehr die Figurenentwicklung im Fokus. Der Weg beider Frauen aus der suizidalen Situation heraus, der Umgang mit der Depression und die Entwicklung ihrer Freundschaft stehen im Mittelpunkt. Das wird auch durch die wenig variierende Perspektive unterstützt. Erzählt wird, bis auf wenige Ausnahmen, aus der dritten Person, jeweils wechselnd aus Julis oder Hellas Sicht.  Besonders deutlich wird das bei den Streitereien, bei denen eine der jeweils anderen ihre offensichtlichen Probleme verbal bitterbös vor Augen führt.

Der Roman ist aufgrund der Wortwahl und der eher parataktischen Satzstruktur einfach zu lesen.  Jedoch bleibt leider zuweilen die inhaltliche Tiefe aus und die Figurenentwicklung wenig komplex. Erst im letzten Drittel zeigt Juli eine Veränderung, lässt von ihrer stoischen „Ist mir alles egal“-Haltung ab, ringt sich zu einem Lächeln durch und erkennt, wie wichtig ihr Hella geworden ist. So verläuft die Erzählung entlang eines roten Fadens, wobei kurze inhaltliche Abschweifungen in Form von analeptischen Erzählungen die Persönlichkeit der Figuren untermauern, indem sie einen charakterlichen Hintergrund schaffen. Allerdings verharrt diese vermeintliche Tiefe recht nah an der Oberfläche: Handlungsverläufe sind vorhersehbar, Julis und Hellas Reaktionen überraschen selten. So wirken die Protagonistinnen größtenteils wie Prototypen – was hilfreich sein kann, um den Zugang zum ernsten Thema der psychischen Erkrankung zu erleichtern.

Auch wenn Syntax und Wortwahl simpel gehalten sind, der unterschwellige, lakonische Humor sorgt dafür, dass man den Roman doch nicht sofort zur Seite legen möchte. Er liest sich flüssig, selten muss man Sätze nochmal beginnen. Die einfache Lesbarkeit ermöglicht auch die gelungene implizite Kritik an der gesellschaftlichen Wahrnehmung von psychischen Erkrankungen und insbesondere den unausgereiften Behandlungsmöglichkeiten.

Lange bevor ihr eine müde Schulpsychologin die Diagnose verkündete, wusste Juli, was Depressionen sind. Mental Health war in den sozialen Netzwerken allgegenwärtig, irgendwie war ja jeder heutzutage mal depressiv und dagegen gab es Apps, Tabletten und ganz viel Verständnis. […] Tatsächlich sei alles noch deutlich schlimmer, als Juli je geahnt hätte. Schau dich doch einfach mal um! Die Stimme in ihrem Kopf klang so einnehmend und verlogen wie die einer Zahnarzthelferin kurz vor dem Bohren: dieses Zimmer, diese Müdigkeit, dieses kalte, klobige Stück Einsamkeit direkt unter der Bauchdecke. Sie hatte sich von einer eigenwilligen Alten retten lassen, nur um jetzt genauso ratlos wie zuvor in einem schmuddeligen Hotelzimmer zu liegen.

Fünf Jahre hat Ronja von Rönne an Ende in Sicht geschrieben – eine lange Zeitspanne, gerade in Hinblick auf die rasanten sozialen Entwicklungen. Doch das hat der Qualität keinen Abbruch getan. Die Aktualität ist pointiert akzentuiert. Die depressiven Gedanken und Emotionen, die den beiden Protagonistinnen zugeschrieben werden, sind solche, die in der heutigen Gesellschaft ebenfalls präsent sind. In entsprechenden Medien und sozialen Netzwerken wie z.B. Twitter werden ähnliche Themen zurzeit oft behandelt: Einsamkeit trotz der Übermacht an Sozialen Medien, innere Leere trotz des Übermaßes an Möglichkeiten sich auszuleben, die Sehnsucht nach Zuneigung und Liebe.

Ronja von Rönne behandelt in ihrem Roman ein Thema, das aktueller denn je ist – aber auch ein Thema, das sie persönlich betrifft, auch wenn sie sich selbst von autobiographischen Elementen distanziert, wie sie in einem Interview mit Die Zeit betont.

Die Autorin hat den Ruf zu polarisieren, ihr Roman wird diesem Ruf aber nicht gerecht – ohne ‚Pointengeballer‘ erschafft sie eine traurig-lakonische und mit wenig Schnick-Schnack geschmückte Erzählung. Ende in Sicht ist für all die empfehlenswert, die gerne wissen möchten, wie sich Depressionen äußern können, und für all die, die sich gerade in ähnlicher Lage befinden und sich damit nicht alleine fühlen möchten – aber all das auf eine lebensbejahende, humorvolle, flapsige Art, um nie das Licht am Ende des Tunnels aus den Augen zu verlieren.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Ronja von Rönne: Ende in Sicht.
dtv Verlag, München 2022.
256 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783423282918

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